Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Arbeitszeitgestaltung. Begriff ‚Arbeitszeit’. Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft. Berufsfeuerwehrleute. Psychosoziale Risiken. Vorsorgepflicht
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 2; Richtlinie 89/391/EWG Art. 5-6
Beteiligte
Tenor
Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit” im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeiten, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2019, in dem Verfahren
RJ
gegen
Stadt Offenbach am Main
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und N. Piçarra, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, des Richters C. Lycourgos (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Ferrand, R. Coesme, E. Toutain und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der finnischen Regierung, zunächst vertreten durch H. Leppo und J. Heliskoski, dann durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch B.-R. Killmann und M. van Beek, dann durch B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RJ und der Stadt Offenbach am Main (Deutschland) wegen der von RJ geforderten Vergütung für die von ihm in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftsdienste. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des vorliegenden Urteils der Begriff „Bereitschaft” allgemein sämtliche Zeiträume umfasst, in denen der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um auf dessen Verlangen eine Arbeitsleistung erbringen zu können, während mit dem Ausdruck „Rufbereitschaft” Bereitschaftszeiten bezeichnet werden, in denen der Arbeitnehmer nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 89/391/EWG
Rz. 3
Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1) bestimmt:
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.”
Rz. 4
Art. 6 der Richtlinie 89/391 bestimmt:
„(1) Im Rahmen seiner Verpflichtungen trifft der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer...