Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifsperre nach § 77 Abs. 3 BetrVG. fehlende Kompetenz der Betriebsparteien. Rechtsfolge eines Verstoßes. Auslegung eines Tarifvertrags. Reichweite einer tariflichen Öffnungsklausel. Antragserweiterung in der Rechtsbeschwerdeinstanz. Betriebsvereinbarung. Tarifsperre
Leitsatz (amtlich)
1. Ein dem Geltungsbereich eines Tarifvertrags unterfallender tarifungebundener Arbeitgeber kann mit dem bei ihm bestehenden Betriebsrat aufgrund der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG in einer Betriebsvereinbarung keine inhaltsgleichen Regelungen festlegen, sofern es sich nicht um Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG handelt.
2. Der Verstoß gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Weder ein späterer Eintritt der Nachwirkung des einschlägigen Tarifvertrags noch eine nachfolgende fehlende Tarifwilligkeit des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes bewirken nachträglich die erforderliche Kompetenz der Betriebsparteien beim Abschluss dieser Betriebsvereinbarung.
Orientierungssatz
1. Die Betriebsparteien können im Geltungsbereich eines Tarifvertrags keine Regelungen durch Betriebsvereinbarung treffen, die mit dessen Tarifbestimmungen inhaltlich identisch sind. Das gilt auch im Betrieb eines tarifungebundenen Arbeitgebers, sofern es sich nicht um Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG handelt (Rn. 20).
2. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG hindert zum Schutz der Tarifautonomie die Betriebsparteien auch am Abschluss von Regelungen, die mit denen eines Tarifvertrags inhaltsgleich sind (Rn. 20).
3. Die nach § 77 Abs. 3 BetrVG fehlende Gestaltungsmacht der Betriebsparteien bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung führt zu deren Unwirksamkeit. Ohne rechtliche Bedeutung ist eine später eintretende Nachwirkung des maßgebenden Tarifvertrags oder ein anschließender Wegfall der Tarifwilligkeit einer Tarifvertragspartei (Rn. 25).
4. Eine Betriebsvereinbarung kann dann als zulässige andere Abmachung iSd. § 4 Abs. 5 TVG zu beurteilen sein, wenn sie von ihrem Regelungswillen darauf gerichtet ist, für einen absehbar eintretenden Nachwirkungszeitraum bestimmte Tarifregelungen abändern zu wollen (Rn. 27).
Normenkette
BGB § 139; BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 Einleitungshalbs.; TVG § 4 Abs. 5; ZPO § 559; Einheitlicher Manteltarifvertrag zwischen dem Verband Technischer Betriebe für Film und Fernsehen e.V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft §§ 20-22; Entgelttarifvertrag zwischen dem Verband Technischer Betriebe für Film und Fernsehen e.V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft vom 12. August 2010 § 5
Verfahrensgang
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts München vom 12. Oktober 2016 – 10 TaBV 58/16 – wird zurückgewiesen.
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung.
Die nicht tarifgebundene Arbeitgeberin führt seit 2001 mit der B Fi GmbH, der B Fe GmbH und der B I GmbH einen gemeinsamen Betrieb. In diesem ist der antragstellende Betriebsrat gebildet.
Arbeitgeberin und Betriebsrat schlossen am 28. März 2006 eine „Betriebsvereinbarung Urlaub und Freistellung von der Arbeit” (BV Urlaub) für „alle ArbeitnehmerInnen des Unternehmens” (Nr. 2 BV Urlaub). In Nr. 3 BV Urlaub „Urlaubsbestimmungen”) werden in den Abschnitten Nr. 3.1 bis 3.13 die Anspruchsvoraussetzungen für einen Urlaubsanspruch und dessen Umfang, die Wartezeit, der Anspruch auf Teilurlaub, Urlaubsberechnung, dessen Übertragbarkeit, das Urlaubsentgelt sowie die Modalitäten der Urlaubsgewährung sowie in Nr. 4 BV Urlaub eine jährliche Urlaubsdauer von mindestens 30 Arbeitstagen geregelt. Unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Dauer eine „Freistellung von der Arbeit aus persönlichen Gründen” beansprucht werden kann, bestimmt Nr. 5 BV Urlaub. Daneben enthält die BV Urlaub noch eine Präambel (Nr. 1) und die Schlussbestimmungen (Nr. 6).
Der zwischen dem Verband Technischer Betriebe für Film und Fernsehen e.V. (VTFF) und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) geschlossene Einheitliche Manteltarifvertrag (MTV) regelt in der bei Abschluss der Betriebsvereinbarung gültigen Fassung in § 20 „Urlaubsbestimmungen”, in § 21 die „Urlaubsdauer” und in § 22 die „Freistellung von der Arbeit aus persönlichen Gründen”. Der Betrieb der Arbeitgeberin wird vom fachlichen Geltungsbereich des § 1 Nr. 3 MTV erfasst. Der zwischen den genannten Tarifvertragsparteien vereinbarte Entgelttarifvertrag vom 12. August 2010 (ETV) hat ua. folgenden Inhalt:
Arbeitgeber und Betriebsrat können unter Wahrung der tariflichen Mindestbestimmungen ergänzend zu diesem Tarifvertrag für Arbeitnehmer günstigere Betriebsvereinbarungen unter Beachtung des § 77 Abs. 3 BetrVG abschließen. Bis zum Inkrafttreten dieses Tarifvertrags abgeschlossene ergänzende für Arbeitnehmer günstigere Betriebsvereinbarungen, die sich auf andere (alte) Tarifregelungen beziehen, gelten unabhängig von dieser Öffnungsklausel weiter und können unter Beachtung von § 77 Ziff. 3 BetrVG geändert werden. …”
Der MTV wurde von beiden Tarifvertragsparteien zum Ende des Jahres 2011 gekündigt. Der VTFF hat zum 1. Januar 2013 seine Satzung dahin geändert, dass er „derzeit nicht tariffähig” ist. Seit dem 1. März 2013 schließt die Arbeitgeberin mit neu eingestellten Arbeitnehmern Arbeitsverträge, die eine Urlaubsdauer von 28 Tagen vorsehen. Die Bestimmungen der BV Urlaub wendet die Arbeitgeberin nur noch auf neun, namentlich benannte Arbeitnehmer an, deren Arbeitsverhältnisse anlässlich eines Betriebsübergangs auf sie übergegangen waren.
Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, die Betriebsvereinbarung verstoße nicht gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Die Vorschrift greife nur ein, wenn ein Tarifvertrag insgesamt zum Inhalt einer Betriebsvereinbarung gemacht werde. Durch die fehlende Tarifwilligkeit des VTFF sei auch die Tarifüblichkeit der im MTV enthaltenen Bestimmungen entfallen. Zudem erstrecke sich die Öffnungsklausel in § 5 ETV auch auf Inhalte, die im MTV geregelt seien und erfasse gleichfalls in der Vergangenheit geschlossene Betriebsvereinbarungen.
Schließlich handele es sich bei der BV Urlaub um eine zulässige andere Abmachung iSd. § 4 Abs. 5 TVG.
Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass die Betriebsvereinbarung „Urlaub und Freistellung von der Arbeit”, die zwischen dem Betriebsrat und der Arbeitgeberin am 28. März 2006 abgeschlossen worden ist, unabhängig von einem bestimmten Eintrittsstichtag für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeitgeberin zur Anwendung kommt und nicht auf folgende – im Einzelnen namentlich benannte – Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen beschränkt ist,
hilfsweise,
dem Antrag mit der Maßgabe stattzugeben, dass die Feststellung für Eintritte seit dem 1. Januar 2013 begehrt wird.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen.
Die Vorinstanzen haben die Anträge abgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat seine bisherigen Begehren weiter. Darüber hinaus hat er in der Rechtsbeschwerdeinstanz äußerst hilfsweise beantragt
festzustellen, dass die Regelungen in der Betriebsvereinbarung „Urlaub und Freistellung von der Arbeit”, die zwischen dem Betriebsrat und der Arbeitgeberin am 28. März 2006 abgeschlossen wurden, als Gesamtzusage unabhängig von einem bestimmten Eintrittsstichtag für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeitgeberin zur Anwendung kommen und nicht auf folgende – im Einzelnen namentlich benannte – Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen beschränkt sind.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist insgesamt ohne Erfolg. Die in den Tatsacheninstanzen gestellten Anträge sind unbegründet. Der weitere, äußerst hilfsweise gestellte Antrag ist als Antragserweiterung in der Rechtsbeschwerdeinstanz unzulässig.
I. Der zulässige Hauptantrag ist unbegründet.
1. Der Antrag ist, wie die gebotene Auslegung ergibt, zulässig.
a) Das Antragsbegehren ist darauf gerichtet, das wirksame Bestehen der zwischen den Beteiligten vereinbarten BV Urlaub festzustellen. Es kann dahinstehen, ob der Betriebsrat nach dem Wortlaut des Antrags und der Antragsschrift den personellen Geltungsbereich der BV Urlaub festgestellt wissen wollte. Das Arbeitsgericht hat den Antrag dahin verstanden, dass er auf „Feststellung der Rechtswirksamkeit einer Betriebsvereinbarung”, also deren Bestand gerichtet ist. Ein etwaiger Verstoß des Arbeitsgerichts gegen den Grundsatz der Bindung an die Anträge der Beteiligten nach § 308 Abs. 1 ZPO wäre in der Beschwerdeinstanz geheilt worden. Der Betriebsrat hat sich in seiner Beschwerdebegründungsschrift nicht gegen dieses Verständnis seines Antrags gewendet und ausgeführt, aus welchen Gründen die BV Urlaub wirksam sein soll. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, an der erstinstanzlichen Auslegung festhalten zu wollen und einen möglichen Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO genehmigt (vgl. BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 15 mwN, BAGE 131, 176). Dieses Antragsverständnis hat der Betriebsrat in der mündlichen Anhörung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt.
b) Der Feststellungsantrag ist zulässig. Das Bestehen oder Nichtbestehen der BV Urlaub stellt ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zwischen den Betriebsparteien iSd. § 256 Abs. 1 ZPO dar.
2. Der Hauptantrag ist unbegründet. Die BV Urlaub ist wegen eines Verstoßes der Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub gegen die sich aus § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ergebende Regelungssperre insgesamt unwirksam.
a) Die Abreden in Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub werden von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst.
aa) Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift jedoch nicht, soweit ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen liegt vor, wenn sie in einem Tarifvertrag enthalten sind und der Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt (st. Rspr., BAG 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 19). Die Sperrwirkung der Vorschrift gilt unabhängig von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers (BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 20). Sie greift nicht ein, soweit es um Angelegenheiten geht, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (BAG 17. Mai 2011 – 1 AZR 473/09 – Rn. 30 mwN, BAGE 138, 68).
bb) Nach diesen Maßstäben verstoßen Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub gegen § 77 Abs. 3 BetrVG.
(1) Der Betrieb der Arbeitgeberin wird nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vom fachlichen Geltungsbereich des § 1 Nr. 3 MTV erfasst. Davon gehen auch die Beteiligten aus.
(2) Die Regelungen in Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub sind mit den Bestimmungen der §§ 20 bis 22 MTV inhaltlich identisch. Entgegen der Auffassung des Betriebsrats liegt ein Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG nicht erst dann vor, wenn ein Tarifvertrag insgesamt zum Inhalt einer Betriebsvereinbarung gemacht wird. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG soll verhindern, dass auch einzelne Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend – und sei es inhaltsgleich – in Betriebsvereinbarungen geregelt werden (BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 20). Der Betriebsrat kann sich auch nicht auf die angezogene Entscheidung des Senats vom 22. November 2001 stützen. Er übersieht, dass sich die Ausführungen mit einer Betriebsvereinbarung befassen, die einzelne Tarifverträge vollständig in Bezug genommen hatte (BAG 22. November 2001 – 1 AZR 12/01 – zu II 2 a der Gründe), ohne dass der Senat davon ausgegangen ist, dies sei für einen Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG erforderlich.
(3) Ein Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG entfällt weiterhin nicht aufgrund der Tariföffnungsklauseln des § 5 ETV. Zwar enthält die Tarifbestimmung in Satz 1 und Satz 2 Öffnungsklauseln iSd. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG. Diese lassen aber keine betrieblichen Vereinbarungen für Regelungsgegenstände des MTV zu.
(a) Nach dem Wortlaut des § 5 Satz 1 ETV haben die Tarifvertragsparteien ergänzende günstigere Betriebsvereinbarungen nur „zu diesem Tarifvertrag”, also den Regelungsgegenständen des ETV zugelassen. Dies gilt auch, soweit § 5 Satz 2 ETV für vor Abschluss des ETV vereinbarte und für die Arbeitnehmer günstigere Betriebsvereinbarungen, die sich auf „andere (alte) Tarifregelungen beziehen”, deren weitere Geltung vorsieht. Die Systematik des § 5 ETV zeigt, dass der Bezugspunkt der Öffnungsklausel in Satz 2 Regelungen „zu diesem Tarifvertrag” in Satz 1, also der ETV ist. Für eine Erstreckung dieser Öffnungsklausel auf „(alte) Tarifregelungen”, deren Gegenstände auch in anderen Tarifverträgen vereinbart sind, fehlt es an den erforderlichen deutlichen Anhaltspunkten (vgl. dazu BAG 17. Januar 2012 – 1 AZR 482/10 – Rn. 27 mwN).
(b) Darüber hinaus enthält die BV Urlaub keine Vereinbarungen, die die §§ 20 bis 22 MTV ergänzen oder für die Arbeitnehmer günstigere Bestimmungen enthalten. Sie regelt in den Nrn. 3 bis 5 vielmehr inhaltlich identisch zum MTV die Urlaubsbestimmungen, die Urlaubsdauer und die Freistellung von der Arbeit aus persönlichen Gründen.
(4) Die Regelungssperre ist nicht unter dem Gesichtspunkt einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit aufgehoben. Die BV Urlaub enthält in den Nrn. 3 bis 5 nach dem allein in Betracht kommenden Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG keine Regelungen über Gegenstände der zwingenden Mitbestimmung. Nr. 3.8 BV Urlaub sieht lediglich vor, dass ein Urlaubsplan unter Wahrung der Mitbestimmung des Betriebsrats noch zu erstellen und nach Nr. 3.12 BV Urlaub der Betriebsurlaub durch eine Betriebsvereinbarung zu bestimmen ist. Festlegungen zu den beiden Regelungstatbeständen enthält die BV Urlaub jedoch nicht.
(5) Der Eintritt der Nachwirkung des MTV ab dem 1. Januar 2012 wie auch die fehlende Tarifwilligkeit des VTFF ab dem 1. Januar 2013 führen nicht zu einer Wirksamkeit der BV Urlaub. Soweit der Senat in der Entscheidung vom 20. April 1999 angenommen hat, die Tarifvertragsparteien könnten durch eine rückwirkende Öffnungsklausel auch nachträglich Betriebsvereinbarungen genehmigen, die aufgrund eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG zunächst unwirksam waren (– 1 AZR 631/98 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 91, 244), liegt eine solche Fallgestaltung nicht vor. Weder die mit Beginn des Jahres 2012 eingetretene Nachwirkung des MTV noch die fehlende Tarifwilligkeit des VTFF ab dem 1. Januar 2013 haben zu einer rechtlichen Gestaltungsmacht der Betriebsparteien für den Abschluss der gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoßenden BV Urlaub im Jahr 2006 geführt.
(6) Die BV Urlaub kann schließlich nicht unter dem Gesichtspunkt einer anderen Abmachung iSd. § 4 Abs. 5 TVG als wirksam angesehen werden. Dessen Voraussetzungen liegen nicht vor.
(a) Nach § 4 Abs. 5 TVG können die Regelungen eines Tarifvertrags nach dessen Ablauf durch eine andere Abmachung ersetzt werden, soweit sie denselben Regelungsbereich erfassen. Für die Annahme einer solchen Abmachung zur Ablösung eines nachwirkenden Tarifvertrags ist es zwar nicht erforderlich, dass diese erst nach Eintritt der Nachwirkung geschlossen wird. Die Abrede muss aber vom Regelungswillen der Parteien darauf gerichtet sein, bestimmte bestehende Tarifregelungen in Anbetracht ihrer absehbar bevorstehenden Beendigung und des darauffolgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern (BAG 7. Juni 2017 – 1 ABR 32/15 – Rn. 35 mwN, BAGE 159, 222).
(b) Danach handelt es sich bei der BV Urlaub entgegen der Rechtsausfassung des Betriebsrats nicht um eine andere Abmachung iSd. § 4 Abs. 5 TVG. Der Wortlaut der Betriebsvereinbarung lässt bereits nicht erkennen, diese sei auf die Beseitigung oder die Verhinderung einer zukünftigen Nachwirkung des MTV gerichtet. Vielmehr sollte bereits mit Wirkung zum 1. Januar 2006 und nicht erst zum Zeitpunkt des Eintritts einer Nachwirkung dieser Regelungen eine Vereinbarung zwischen den Betriebsparteien entsprechend den Inhaltsnormen des MTV geschlossen werden. Der Betriebsrat führt selbst aus, das Ziel einer einheitlichen Regelung für das Unternehmen sei „völlig unabhängig von einem Bestand von Tarifverträgen” gewesen.
b) Der Verstoß der Regelungen in Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der gesamten BV Urlaub.
aa) Nr. 3 bis Nr. 5 BV Urlaub sind infolge eines solchen Verstoßes gegen die Regelungssperre unwirksam (zu dieser Rechtsfolge BAG 26. August 2008 – 1 AZR 354/07 – Rn. 11 mwN, BAGE 127, 297). Soweit der Senat von einer Verdrängungswirkung tariflicher Normen gegenüber einer gegen die Tarifsperre verstoßenden Betriebsverfassungsnorm ausgegangen ist (BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 22), bringt das nichts anderes zum Ausdruck. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist keine Kollisions-, sondern Kompetenznorm (vgl. BAG 22. März 2005 – 1 ABR 64/03 – zu B II 2 c ee (1) der Gründe mwN, BAGE 114, 162).
bb) Die Unwirksamkeit der genannten Bestimmungen der BV Urlaub bedingt nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB (BAG 9. Juli 2013 – 1 ABR 19/12 – Rn. 39 mwN, BAGE 145, 330) die Unwirksamkeit der gesamten BV Urlaub. Der verbleibende Teil der Betriebsvereinbarung – Präambel, personeller Geltungsbereich und Schlussbestimmungen – stellt ersichtlich keine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung mehr dar.
II. Der in den Tatsacheninstanzen gestellte Hilfsantrag ist zulässig, aber unbegründet.
1. Er ist, wie die gebotene Auslegung ergibt, zulässig, da auf die Feststellung gerichtet, die BV Urlaub bestehe jedenfalls ab der fehlenden Tarifwilligkeit des VTFF seit Beginn des Jahres 2013 und erfasse diejenigen Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31. Dezember 2012 begonnen habe. Neben dem Bestehen eines Rechtsverhältnisses aufgrund einer wirksamen Betriebsvereinbarung (oben B I 1 a) kann zugleich deren Auslegung durch einen Feststellungsantrag iSd. § 256 Abs. 1 ZPO geklärt werden (vgl. BAG 10. Dezember 2013 – 1 ABR 40/12 – Rn. 20 mwN).
2. Der Antrag ist unbegründet. Die BV Urlaub ist unwirksam. Weder die Kündigung des MTV zum Ende des Jahres 2011 noch die ab dem 1. Januar 2013 bestehende fehlende Tarifwilligkeit des VTFF führen zu einem anderen Ergebnis (oben B I 2 a bb [5]).
III. Bei dem äußerst hilfsweise gestellten Antrag handelt es sich um eine in der Rechtsbeschwerdeinstanz unzulässige Antragserweiterung.
1. Antragserweiterungen sind ebenso wie sonstige Antragsänderungen im Rechtsbeschwerdeverfahren grundsätzlich unzulässig (§ 559 ZPO). Eine Ausnahme besteht dann, wenn der geänderte Sachantrag sich auf einen in der Beschwerdeinstanz festgestellten Sachverhalt stützen kann, die anderen Verfahrensbeteiligten gegen die Antragsänderung oder -erweiterung keine Einwendungen erheben, ihre Verfahrensrechte nicht verkürzt werden und die geänderte Antragstellung darauf beruht, dass die Vorinstanzen einen nach § 139 Abs. 1 ZPO gebotenen Hinweis unterlassen haben.
2. Danach ist der weitere Hilfsantrag unzulässig. Durch den jetzigen Antrag, der auf die Feststellung einer Regelungsabrede und einer gegenüber allen Arbeitnehmern erteilten Gesamtzusage (zu den Voraussetzungen BAG 19. Juni 2012 – 1 AZR 137/11 – Rn. 21) gerichtet ist, wird das Prüfprogramm des Senats erweitert. Hierzu fehlt es bereits an den erforderlichen Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht.
Unterschriften
Schmidt, K. Schmidt, Treber, Schwitzer, Hann
Fundstellen
Haufe-Index 11905061 |
BAGE 2019, 379 |
BB 2018, 1971 |