Entscheidungsstichwort (Thema)
Gleichbehandlung bei Entgelterhöhung. Überkompensation. unterschiedliche Arbeitsbedingungen. Gesamtvergleich
Leitsatz (amtlich)
Ob eine Entgelterhöhung nachteilige Arbeitsbedingungen der begünstigten Arbeitnehmer nicht nur ausgeglichen, sondern überkompensiert hat, bemisst sich nach einem Gesamtvergleich: Gegenüberzustellen ist das Arbeitsentgelt, das der auf Gleichbehandlung klagende Arbeitnehmer im maßgeblichen Zeitraum aufgrund der für ihn geltenden arbeitsvertraglichen Regelungen tatsächlich verdient hat, und dasjenige Arbeitsentgelt, das er erhalten hätte, wenn er zu den Konditionen der begünstigten Arbeitnehmer gearbeitet hätte.
Orientierungssatz
1. Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht beschränkt die Gestaltungsmacht des Arbeitgebers. Wird er verletzt, muss der Arbeitgeber die von ihm gesetzte Regel entsprechend korrigieren. Der benachteiligte Arbeitnehmer hat Anspruch auf die vorenthaltene Leistung.
2. Erhöht der Arbeitgeber freiwillig Arbeitsentgelte kollektiv nach einem generalisierenden Prinzip, muss er den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten.
3. Der Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist auch bei verschiedenen Arbeitsvertragsmodellen eröffnet, wenn sich der auf Gleichbehandlung berufende Arbeitnehmer hinsichtlich der vom Arbeitgeber verteilten Leistung in vergleichbarer Lage zu den begünstigten Arbeitnehmern befindet. Ist das der Fall, sind ansonsten unterschiedliche Arbeitsbedingungen erst für das Vorliegen eines sachlichen Differenzierungsgrundes von Belang.
4. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung ist der Ausgleich unterschiedlicher Arbeitsbedingungen zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern, solange ein solcher Ausgleich herbeigeführt wird und keine Überkompensation eintritt.
5. Rechtsfolge einer Überkompensation ist, dass im Umfang der Überkompensation der sachliche Grund des Ausgleichs von Unterschieden nicht trägt.
6. Darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen und den Zeitpunkt des Eintritts einer Überkompensation ist der sich auf die Überkompensation berufende Arbeitnehmer.
Normenkette
Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 02.10.2012; Aktenzeichen 15 Sa 139/11) |
ArbG Stuttgart (Urteil vom 25.08.2011; Aktenzeichen 6 Ca 5777/10) |
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 2. Oktober 2012 – 15 Sa 139/11 – in seinen Ziffern I.9. und II. aufgehoben.
2. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 29. November 2012 – 3 Sa 71/12 – aufgehoben.
3. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Entgelterhöhungen unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung.
Der 1958 geborene Kläger ist seit 1992 bei der Beklagten beschäftigt. Er ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Die Beklagte war bis zum 31. März 2006 ordentliches Mitglied im Verband für Dienstleistung, Groß- und Außenhandel Baden-Württemberg e.V., im Anschluss daran wechselte sie in eine sog. OT-Mitgliedschaft.
Grundlage des Arbeitsverhältnisses ist der Arbeitsvertrag vom 15. Oktober 1991, der auszugsweise lautet:
„1. Tätigkeit
Der/Die Angestellte wird ab 01.02.92 als PC-Programmierer eingestellt. (…)
…
3. Kollektivvereinbarungen
Für das Arbeitsverhältnis gelten die für unsere Firma maßgebenden Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen in der jeweiligen Fassung.”
Der Kläger erhält ein Bruttomonatsgehalt von 4.034,00 Euro. Dieses setzt sich zusammen aus einem zum Stand 1. Mai 2006 eingefrorenen Tarifgehalt der Gehaltsgruppe G 5 / 12. Berufsjahr der Gehaltstarifverträge für die Beschäftigen des Groß- und Außenhandels in Baden-Württemberg (2.908,00 Euro brutto) und einer übertariflichen Zulage, die nach einer individuellen Erhöhung um 50,00 Euro brutto seit dem 1. August 2007 1.126,00 Euro brutto beträgt. Weitere 30,58 Euro brutto monatlich gewährt die Beklagte dem Kläger unter der Bezeichnung „AVmG PK AG stfr.”.
Nach dem Wechsel in die OT-Mitgliedschaft bat die Beklagte zu einem nicht näher festgestellten Zeitpunkt im Frühjahr 2006 ihre Mitarbeiter um eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit von (tariflichen) 38,5 Stunden auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich. Einen entsprechenden Zusatz zum Arbeitsvertrag akzeptierten 96 % der Belegschaft, der Kläger nicht.
Am 25. März 2008 schloss die Beklagte mit dem in ihrem Betrieb errichteten Betriebsrat eine „Betriebsvereinbarung zur Bestimmung und Behandlung des Entgelts und des Entgeltgruppenplans” (im Folgenden: BV Entgelt), die eine tätigkeitsbezogene Eingruppierung der Mitarbeiter in fünf allgemeine Entgeltgruppen (A1 bis A5) vorsieht. Außerdem heißt es dort:
„3 Grundsätze zu den Entgeltgruppen
…
Die Festlegung des individuellen Entgelts innerhalb einer Entgeltgruppe, sowie des Basisentgelts der 1. Entgeltgruppe erfolgt durch den Arbeitgeber. Die prozentuale Steigerungsrate zwischen den einzelnen Entgeltgruppen (= Basisentgelt der Entgeltgruppen 2 – 5) ist in der Anlage geregelt.
4 Erhöhungen in den Entgeltgruppen
Entgelterhöhungen werden durch den Arbeitgeber festgelegt. (…)
Für alle Mitarbeiter, die vor dem 1.4.2006 in das Unternehmen eintraten, gilt ein Bestandsschutz. Basisentgelt für diese Mitarbeiter ist deren individuelles Tarifentgelt zum Stichtag 1.5.2006, solange dieses höher ist als das Basisentgelt.”
Mit Wirkung zum 1. April 2008 bot die Beklagte allen Arbeitnehmern den Abschluss eines neuen Formulararbeitsvertrags (im Folgenden: Standardarbeitsvertrag 2008) an, der keine Bezugnahme auf Tarifverträge mehr enthält, eine regelmäßige Arbeitszeit von 40 Wochenstunden festschreibt und eine Vergütung nach den Entgeltgruppen der BV Entgelt (beim Kläger: nach Entgeltgruppe A4 iHv. 4.083,00 Euro brutto) nebst einem 13. Bruttomonatsgehalt vorsieht. Des Weiteren enthält der Standardarbeitsvertrag 2008 Verschlechterungen im Vergleich zu den auf die Tarifbestimmungen für den Groß- und Außenhandel in Baden-Württemberg Bezug nehmenden Arbeitsverträgen, so etwa geringere Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, Wegfall eines Zuschusses zum Krankengeld, weniger Tatbestände, bei denen Anspruch auf bezahlte Freistellung bestehen soll, Reduzierung eines „Sterbegeldes”. Rund 90 % der Beschäftigten nahmen das Angebot an, der Kläger nicht.
Die Beklagte erhöhte das Basisentgelt derjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in den Standardarbeitsvertrag 2008 gewechselt waren, zum 1. Juni 2008 um 2,6 %. Weitere Entgelterhöhungen erfolgten zum 1. Juli 2009 (2,2 %), zum 1. September 2010 (1,6 %) und zum 1. Juli 2011 (3,3 %).
In einem Vorprozess machte der Kläger eine Entgelterhöhung um 2,6 % für den Zeitraum Juni 2008 bis Februar 2009 erfolglos geltend (LAG Baden-Württemberg 15. April 2010 – 15 Sa 43/09 –).
Mit den vorliegenden, mehrfach erweiterten und bis in die Revisionsinstanz in getrennten Verfahren geführten Klagen hat der Kläger unter Berufung auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz die den begünstigten Arbeitnehmern gewährten Entgelterhöhungen, zuletzt für den Zeitraum Februar 2010 bis Dezember 2011 verlangt und geltend gemacht, ein sachlicher Grund, ihn von den Entgelterhöhungen auszunehmen, liege nicht vor.
Der Kläger hat – soweit seine Klagen in die Revisionsinstanz gelangt sind – zuletzt sinngemäß beantragt,
- die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.861,22 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach näherer betragsmäßiger und zeitlicher Staffelung zu zahlen,
- die Beklagte weiter zu verurteilen, an den Kläger 2.064,70 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach näherer betragsmäßiger und zeitlicher Staffelung zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, der Gleichbehandlungsgrundsatz finde aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsvertragsmodelle keine Anwendung. Jedenfalls sei die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt. Mit den Entgelterhöhungen hätten die Nachteile der Beschäftigten, die in den Standardarbeitsvertrag 2008 wechselten, ausgeglichen werden sollen.
In dem Rechtsstreit betreffend den Zeitraum Februar 2010 bis April 2011 (= Klageantrag zu 1.) hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte rechtskräftig verurteilt, an den Kläger von September 2010 bis April 2011 monatlich (weitere) 28,34 Euro brutto zu zahlen. Mit der vom Landesarbeitsgericht nur für den Kläger zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen ursprünglichen Klageantrag weiter.
In dem Rechtsstreit betreffend den Zeitraum Mai bis Dezember 2011 (= Klageantrag zu 2.) hat das Arbeitsgericht der Klage teilweise, das Landesarbeitsgericht ihr in vollem Umfang stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision (Ausgangsaktenzeichen – 5 AZR 284/13 –) verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Der Senat hat die Rechtsstreite nach Anhörung der Parteien zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem führenden Aktenzeichen – 5 AZR 6/13 – verbunden.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen des Klägers und der Beklagten sind begründet. Ob der Kläger Anspruch auf die oder eine der den begünstigten Arbeitnehmern gewährten Entgelterhöhungen hat, kann der Senat wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen nicht entscheiden. Das führt zur Aufhebung der Berufungsurteile und Zurückverweisung der – nunmehr verbundenen – Sachen an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
I. Der Anwendungsbereich des (allgemeinen) Gleichbehandlungsgrundsatzes ist eröffnet.
1. Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht (oft auch arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz oder allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz genannt) gebietet dem Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich zu behandeln (st. Rspr., BAG 21. September 2011 – 5 AZR 520/10 – Rn. 18 mwN, BAGE 139, 190). Er wurzelt in dem überpositiven Ideal der Gerechtigkeit, die es gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln, und ist seit langem unbestrittener Bestandteil des Arbeitsrechts (vgl. nur ErfK/Preis 14. Aufl. § 611 BGB Rn. 574; HWK/Thüsing 6. Aufl. § 611 BGB Rn. 181, jeweils mwN; siehe auch G. Hueck Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht S. 61, der schon 1958 festgestellt hat, die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sei in der Literatur und Judikatur zum Arbeitsrecht ganz allgemein anerkannt). Der Gleichbehandlungsgrundsatz beschränkt die Gestaltungsmacht des Arbeitgebers (BAG 25. Januar 2012 – 4 AZR 147/10 – Rn. 57, BAGE 140, 291). Wird er verletzt, muss der Arbeitgeber die von ihm gesetzte Regel entsprechend korrigieren. Der benachteiligte Arbeitnehmer hat Anspruch auf die vorenthaltene Leistung (BAG 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – Rn. 17; 13. April 2011 – 10 AZR 88/10 – Rn. 14, BAGE 137, 339, jeweils mwN).
Im Bereich der Arbeitsvergütung ist der Gleichbehandlungsgrundsatz unter Beachtung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit bei individuellen Entgeltvereinbarungen anwendbar, wenn Arbeitsentgelte durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben werden und der Arbeitgeber die Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt, indem er bestimmte Voraussetzungen oder Zwecke festlegt (st. Rspr., BAG 21. September 2011 – 5 AZR 520/10 – Rn. 18, BAGE 139, 190; 25. Januar 2012 – 4 AZR 147/10 – Rn. 57, BAGE 140, 291, jeweils mwN).
2. Danach ist der Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes eröffnet.
a) Die Beklagte hat freiwillig, also ohne hierzu – insbesondere arbeitsvertraglich oder aufgrund der BV Entgelt – rechtlich verpflichtet zu sein (zur Nichtanwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei bloßem Normenvollzug und Vertragserfüllung, vgl. BAG 21. September 2011 – 5 AZR 520/10 – Rn. 21 mwN, BAGE 139, 190), die Arbeitsentgelte zum 1. Juni 2008, 1. Juli 2009, 1. September 2010 und 1. Juli 2011 kollektiv nach einem generalisierenden Prinzip angehoben. Für diese Leistung hat sie den Wechsel in den Standardarbeitsvertrag zur Voraussetzung gemacht. Mit der Anknüpfung an die zunächst durch die Reaktion der Arbeitnehmer auf das Angebot zum Abschluss des Standardarbeitsvertrags 2008 erfolgte Teilung der Belegschaft in Arbeitnehmer mit Standardarbeitsvertrag 2008 und solche mit „Altverträgen” hat die Beklagte eine Gruppenbildung vorgenommen (vgl. BAG 14. März 2007 – 5 AZR 420/06 – Rn. 23, BAGE 122, 1).
b) Der Kläger und die Arbeitnehmer mit Standardarbeitsvertag 2008 befinden sich „in vergleichbarer Lage”. Zwar ist dafür nicht in jedem Falle bereits das gemeinsame Band eines Arbeitsverhältnisses zum selben Arbeitgeber ausreichend. Es ist aber andererseits nicht erforderlich, dass die Arbeitsbedingungen des Gleichbehandlung fordernden Arbeitnehmers mit denjenigen der Begünstigten in Gänze identisch sind (vgl. BAG 14. März 2007 – 5 AZR 420/06 – Rn. 26, BAGE 122, 1). Die Geltung verschiedener Arbeitsvertragsmodelle kann allenfalls dann eine im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes vergleichbare Lage ausschließen, wenn das eine Arbeitsvertragsmodell gekennzeichnet ist durch die dynamische Bezugnahme auf ein Tarifwerk und damit auf arbeitsvertraglicher Ebene kollektive, der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers entzogene Regelwerke in ihrer jeweiligen Fassung zur Anwendung kommen, während das andere Arbeitsvertragsmodell der unbeschränkten Gestaltungsmacht des Arbeitgebers entspringt und den Arbeitnehmern gestellt wird. Eingedenk des Primats, (nur) Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln, kommt es auch bei verschiedenen Arbeitsvertragsmodellen darauf an, ob sich der auf Gleichbehandlung berufende Arbeitnehmer hinsichtlich der vom Arbeitgeber verteilten Leistung in vergleichbarer Lage zu den begünstigten Arbeitnehmern befindet. Ist das der Fall, sind ansonsten unterschiedliche Arbeitsbedingungen erst für das Vorliegen eines sachlichen Differenzierungsgrundes von Belang.
Mit den streitgegenständlichen Entgelterhöhungen hat die Beklagte die statische Vergütungsabrede im Standardarbeitsvertrag 2008 freiwillig dynamisiert. Insoweit befindet sich der Kläger mit den begünstigten Arbeitnehmern „in vergleichbarer Lage”, weil auch sein Arbeitsvertrag eine statisch gewordene Vergütungsabrede enthält. Davon ist auszugehen, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien vor dem 1. Januar 2002 begonnen hat. Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die „für unsere Firma maßgebenden Tarifverträge (…) in der jeweiligen Fassung” hat das Landesarbeitsgericht angesichts der vormaligen Tarifgebundenheit der Beklagten kraft Verbandszugehörigkeit zutreffend nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als Gleichstellungsabrede ausgelegt (zu Auslegung und Vertrauensschutz für vor dem 1. Januar 2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln, vgl. BAG 11. Dezember 2013 – 4 AZR 473/12 – Rn. 13 ff. mwN). Die Dynamik der tariflichen Inkorporierung ist deshalb auf die Zeit begrenzt, in der die Beklagte durch ihre Verbandsmitgliedschaft an die Tarifentwicklung gebunden war (vgl. BAG 17. November 2010 – 4 AZR 391/09 – Rn. 15 ff. mwN, BAGE 136, 184). Danach hat der Kläger ab dem Ende der Nachbindung der Beklagten (§ 3 Abs. 3 TVG) an den zur Zeit ihres Wechsels in eine OT-Mitgliedschaft geltenden Gehaltstarifvertrag, also mit dem Inkrafttreten des (neuen) Gehaltstarifvertrags vom 5. Juli 2007 (zur Dauer der Nachbindung, vgl. BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 34 ff., BAGE 131, 176) weder kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit, noch aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme einen Anspruch auf Tariferhöhungen. Das Entgelt bzw. die Entgeltvereinbarung ist statisch geworden. Für Entgelterhöhungen ist der Kläger wie die Arbeitnehmer mit Standardarbeitsvertrag 2008 – und anders als Arbeitnehmer mit nach dem 1. Januar 2002 abgeschlossenen Altverträgen, deren Bezugnahmeklausel dynamisch wirkt – auf den Gestaltungswillen der Beklagten angewiesen und deren kollektivrechtlich nicht beschränkter Gestaltungsmacht unterworfen.
II. Ob die Ungleichbehandlung des Klägers sachlich gerechtfertigt ist, kann der Senat wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden.
1. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung ist der Ausgleich unterschiedlicher Arbeitsbedingungen zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern, solange ein solcher Ausgleich herbeigeführt wird und keine Überkompensation eintritt (BAG 13. April 2011 – 10 AZR 88/10 – Rn. 23 mwN, BAGE 137, 339; vgl. auch BAG 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – Rn. 25 f.). Wann bei einer Entgelterhöhung als begünstigender Maßnahme eine Überkompensation anzunehmen ist, musste das Bundesarbeitsgericht bislang nicht im Einzelnen klären.
Aus der bisherigen Rechtsprechung kann nicht gefolgert werden, eine Überkompensation liege stets bereits dann vor, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt der Stundenlohn der begünstigten Arbeitnehmer höher ist als der Stundenlohn der von der Leistung ausgenommen Arbeitnehmer (zur Stundenvergütung als Vergleichsmaßstab siehe: BAG 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – Rn. 23). So ließe ein bloßer Vergleich der Bruttostundenlöhne im Streitfall außer Betracht, dass die begünstigten Arbeitnehmer vor der ersten Entgelterhöhung über längere Zeit eine faktische Lohnkürzung durch die Erhöhung der Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Wochenstunden ohne Lohnausgleich hingenommen haben. Geht es um den Ausgleich von Vergütungsunterschieden und sich finanziell auswirkender unterschiedlicher sonstiger Arbeitsbedingungen, tritt eine Überkompensation erst und mit dem Zeitpunkt ein, zu dem die finanziellen Nachteile, die die begünstigten Arbeitnehmer bis zu einer Entgelterhöhung erlitten haben oder danach noch erleiden werden, vollständig ausgeglichen sind.
2. Zur Prüfung der Frage, ob eine Entgelterhöhung nachteilige Arbeitsbedingungen der begünstigten Arbeitnehmer nicht nur ausgeglichen, sondern überkompensiert hat, ist ein Gesamtvergleich erforderlich. Dabei ist nicht – wie es das Landesarbeitsgericht unternommen hat – abstrakt auf die verschiedenen Arbeitsvertragsmodelle abzustellen und zu versuchen, deren unterschiedliche Arbeitsbedingungen irgendwie finanziell zu bewerten. Das ist objektiv nicht möglich, soweit – wie im Streitfall – die Nachteile der begünstigten Arbeitnehmer im Vergleichszeitraum variieren können, je nachdem, in welchem Umfang sie etwa zu Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit herangezogen wurden oder bei ihnen Entgeltfortzahlungstatbestände vorlagen. Ob die Differenzierung bei den streitgegenständlichen Entgelterhöhungen im Sinne materieller Gerechtigkeit sachgerecht war (zu diesem Postulat: BAG 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – Rn. 16 mwN), kann bei unterschiedlichen Arbeitsbedingungen aufgrund verschiedener Arbeitsvertragsmodelle zuverlässig nur am Maßstab des auf Gleichbehandlung klagenden Arbeitnehmers beurteilt werden. Soweit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14. März 2007 (– 5 AZR 420/06 – Rn. 28, BAGE 122, 1) ein anderer Vergleichsmaßstab entnommen werden kann, hält der Senat daran nicht fest.
3. Demzufolge muss – ähnlich wie beim Gesamtvergleich zur Ermittlung der Höhe des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt im Bereich der Leiharbeit, in dem der Verleiher gesetzlich zur Gleichbehandlung verpflichtet ist – ein Gesamtvergleich der Entgelte angestellt werden. Dabei zählt zum Arbeitsentgelt jede Vergütung, die aus Anlass des Arbeitsverhältnisses gewährt wird bzw. aufgrund gesetzlicher oder vertraglicher Entgeltfortzahlungstatbestände gewährt werden muss (vgl. BAG 13. März 2013 – 5 AZR 294/12 – Rn. 34. ff; 23. Oktober 2013 – 5 AZR 135/12 – Rn. 28). Gegenüberzustellen ist das Arbeitsentgelt, das der Kläger im maßgeblichen Zeitraum aufgrund der für ihn geltenden arbeitsvertraglichen Regelungen tatsächlich verdient hat und dasjenige Arbeitsentgelt, das er erhalten hätte, wenn er zu den Konditionen der begünstigten Arbeitnehmer gearbeitet hätte.
Dazu ist zunächst das Arbeitsentgelt zu ermitteln, das der Kläger ab dem – vom Landesarbeitsgericht bislang nicht exakt festgestellten – Zeitpunkt im Jahre 2006, an dem sich die Gruppe der Arbeitnehmer mit dem späteren Standardarbeitsvertag 2008 bei ansonsten unveränderten Arbeitsbedingungen mit einer Erhöhung der Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Wochenstunden ohne Lohnausgleich einverstanden erklärte, bis zum Ende des Streitzeitraums (hier: Dezember 2011) erhalten hat. Dem gegenübergestellt werden muss das Arbeitsentgelt, das der Kläger im genannten Zeitraum unter Zugrundelegung der für ihn weitergeltenden Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden, aber mit einem entsprechend der Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich verringerten faktischen Stundenlohn, erhalten hätte, wenn er ansonsten zu den für die Vergleichsgruppe geltenden Konditionen gearbeitet hätte. Ergibt sich dabei im Wege eines Gesamtsaldos ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Plus, ist von da an eine Überkompensation anzunehmen: Der Kläger hätte mehr verdient, wenn er ins „schlechtere” Arbeitsvertragsmodell gewechselt wäre. Freizeit ist dabei nicht zusätzlich zu bewerten, sie findet arbeitsrechtlich ihren Niederschlag in Höhe und Umfang der Hauptleistungspflichten einschließlich etwaiger Zuschläge.
4. Rechtsfolge einer Überkompensation ist, dass im Umfang der Überkompensation der sachliche Grund des Ausgleichs von Unterschieden nicht trägt (vgl. BAG 13. April 2010 – 10 AZR 88/10 – Rn. 23, BAGE 137, 339; 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – Rn. 25). Für eine nach Eintritt der Überkompensation erfolgende – weitere – Entgelterhöhung fehlt deshalb der sachliche Grund von vornherein, für eine Entgelterhöhung vor Eintritt der Überkompensation entfällt der sachliche Grund ab diesem Zeitpunkt. Wäre zB im Streitfall eine Überkompensation ab 1. Januar 2011 anzunehmen, könnte der Kläger die zum 1. Juli 2011 erfolgte Entgelterhöhung beanspruchen. Die Entgelterhöhung zum 1. September 2010 stünde ihm in diesem Falle erst ab dem 1. Januar 2011 zu, weil bis dahin der sachliche Grund die Differenzierung gerechtfertigt hat.
5. Nach Maßgabe dieser Grundsätze wird das Landesarbeitsgericht im erneuten Berufungsverfahren prüfen müssen, ob und gegebenenfalls wann eine Überkompensation der Nachteile der begünstigten Arbeitnehmer eingetreten ist. Dabei gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Die Beklagte hat eine Gruppe von Arbeitnehmern von den streitgegenständlichen Entgelterhöhungen ausgenommen und muss deshalb die Gründe für die Differenzierung offenlegen und substantiiert dartun (vgl. im Einzelnen: BAG 23. Februar 2011 – 5 AZR 84/10 – Rn. 15 f.). Dem ist sie mit ihrem bisherigen Vorbringen nachgekommen. Nunmehr ist es Sache des sich auf eine Überkompensation berufenden Klägers, anhand eines ihn betreffenden Gesamtvergleichs im Einzelnen darzulegen (und im Streitfalle zu beweisen), dass die Beklagte unstreitig bestehende unterschiedliche Arbeitsbedingungen nicht nur ausgeglichen, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt überkompensiert hat. Dem genügt das Vorbringen des Klägers bislang nicht. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es aber, dem Kläger in einem erneuten Berufungsverfahren Gelegenheit zu ergänzendem Sachvortrag zu geben.
Unterschriften
Müller-Glöge, Laux, Biebl, Mandrossa, E. Bürger
Fundstellen
Haufe-Index 7536442 |
BAGE 2015, 69 |
BB 2015, 116 |
DB 2015, 194 |
DB 2015, 8 |