Entscheidungsstichwort (Thema)
Absenkung von Vorruhestandsleistungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach dem Vorruhestandstarifvertrag für das Baugewerbe vom 26. September 1984 sind bei der Berechnung des Vorruhestandsgeldes nur Einkünfte bis zur Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen. Das Vorruhestandsgeld wird für die gesamte Dauer des Vorruhestandes nur einmal bei der Versetzung in den Vorruhestand berechnet. Die jährlichen Änderungen der Beitragsbemessungsgrenze führen zu keiner Änderung des Vorruhestandsgeldes.
2. Mit dem Vorruhestandsänderungstarifvertrag vom 17. Dezember 1985 wollten die Tarifvertragsparteien auch für die bereits im Vorruhestand lebenden Arbeitnehmer die Dynamisierung der Vorruhestandsleistungen auf 1,5 vH absenken.
3. Der Senat läßt offen, ob durch Tarifvertrag die Rechtsverhältnisse der bereits aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedenen Arbeitnehmer geregelt werden können. Eine Änderung der Rechte und Pflichten im Vorruhestandsverhältnis ist jedenfalls möglich. Insoweit betrachtet das VRG das Vorruhestandsverhältnis als Arbeitsverhältnis.
4. Ein Tarifvertrag kann sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil der Arbeitnehmer geändert werden. Ein abändernder Tarifvertrag zum Nachteil der Arbeitnehmer ist von den Gerichten nur daraufhin zu überprüfen, ob er gegen das Grundgesetz, gegen zwingendes Gesetzesrecht, gegen die guten Sitten oder gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstößt.
5. Durch eine Absenkung der jährlichen Dynamisierung des Vorruhestandsgeldes auf 1,5% (anstelle der an die Rentenerhöhungen anknüpfenden Anpassung) wird weder in unentziehbare Besitzstände der Arbeitnehmer eingegriffen noch werden die Grundsätze des Vertrauensschutzes oder der Verhältnismäßigkeit verletzt.
Orientierungssatz
Tarifverträge haben eine Schutz-, Ordnungs- und Verteilungsfunktion. Tarifverträge dienen dem Schutz des Arbeitnehmers; sie wollen die in der Regel bestehende wirtschaftliche Überlegenheit des Arbeitgebers ausgleichen. Sie haben eine Ordnungsfunktion, indem sie für einen bestimmten Zeitraum eine feste Kalkulationsgrundlage für Arbeitnehmer und Arbeitgeber schaffen. Sie haben aber auch eine Verteilungsfunktion; sie regeln die Soziallasten der Unternehmen. Insoweit stehen alle kollektivrechtlich begründeten Ansprüche unter dem Vorbehalt der ständigen Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse.
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 04.02.1988; Aktenzeichen 4 Sa 80/87) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 15.09.1987; Aktenzeichen 13 Ca 342/87) |
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Berechnung des Vorruhestandsgeldes.
Der Kläger war vom 1. Juli 1982 bis 30. Juni 1985 bei der Beklagten als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Er verdiente zuletzt 6.375,-- DM. Mit dem 1. Juli 1985 trat er in den Vorruhestand. Die Vereinbarung über die Versetzung in den Vorruhestand wurde nach den Bestimmungen des Tarifvertrages über den Vorruhestand im Baugewerbe (Vorruhestandstarifvertrag) vom 26. September 1984 geschlossen. In § 5 des Vorruhestandstarifvertrages heißt es:
"(1) Mit Beginn des Vorruhestandes hat der ausge-
schiedene Arbeitnehmer gegen seinen bisheri-
gen Arbeitgeber Anspruch auf ein monatlich zu
zahlendes Vorruhestandsgeld in Höhe von 75 vom
Hundert des durchschnittlichen Bruttoarbeits-
entgelts gemäß Abs. 2 bis 5, mindestens jedoch
in Höhe des Betrages gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a des Vorruhestandsgesetzes (VRG). Die
Auszahlung und Abrechnung erfolgt zu dem Zeit-
punkt, zu dem im Betrieb die Löhne und Gehälter
ausgezahlt und abgerechnet werden.
(2) Bruttoarbeitsentgelt ist das Arbeitsentgelt,
das der gewerbliche Arbeitnehmer vor Beginn des
Vorruhestandes in den letzten abgerechneten,
insgesamt 12 Monate umfassenden Lohnabrechnungs-
zeiträumen (Berechnungszeit) erzielt hat, soweit
es im jeweiligen Monat die Beitragsbemessungs-
grenze des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AFG nicht über-
schreitet.
(5) Soweit das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt
die monatliche Beitragsbemessungsgrenze des § 175
Abs. 1 Nr. 1 AFG überschreitet, bleibt es für die
Berechnung des monatlichen Vorruhestandsgeldes
gemäß Abs. 1 unberücksichtigt."
Die Berechnungsvorschriften gelten für Angestellte entsprechend. Die Beklagte setzte das Vorruhestandsgeld auf 4.050,-- DM fest. Das sind 75 % des letzten Gehalts bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Diese Grenze lag 1985 bei 5.400,-- DM monatlich. In den Jahren 1986 und 1987 stieg die Beitragsbemessungsgrenze auf 5.600,-- DM und 5.700,-- DM.
Der Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 sah in § 6 eine jährliche Dynamisierung des Vorruhestandsgeldes um den Steigerungssatz vor, um den die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung zuletzt vor diesem Zeitpunkt nach dem jeweiligen Rentenanpassungsgesetz angepaßt worden waren. Durch den Tarifvertrag vom 17. Dezember 1985 zur Änderung des Tarifvertrages über den Vorruhestand im Baugewerbe vom 26. September 1984 wurde § 6 dahin geändert, daß sich das Vorruhestandsgeld jeweils nach Ablauf eines Jahres seit Beginn der Zahlung des Vorruhestandsgeldes um 1,5 % erhöht.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, daß das Vorruhestandsgeld jährlich neu entsprechend der jeweils neuen Beitragsbemessungsgrenze berechnet werden müsse. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbiete es, die Berechnung des Vorruhestandsgeldes von dem zufälligen Stichtag der Versetzung in den Vorruhestand abhängig zu machen. Sofern der Berechnung des Vorruhestandsgeldes jährlich die neue Beitragsbemessungsgrenze zugrunde gelegt werden muß, kann der Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 31. März 1987 insgesamt 2.133,75 DM nachfordern. Für den Fall, daß dieser Anspruch nicht begründet sei, macht der Kläger geltend, er brauche sich die Absenkung der Dynamisierung nicht gefallen zu lassen. Die Absenkung der Dynamisierung sei bei bereits in den Vorruhestand getretenen Arbeitnehmern nicht zulässig. Nach den Berechnungen des Klägers ergibt sich in diesem Fall ein Nachzahlungsanspruch in Höhe von 2.179,50 DM für die Zeit vom 1. Juli 1985 bis 30. September 1987.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger
2.133,75 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem
sich ergebenden Nettobetrag seit dem 2. Juni
1987 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, daß die Beitragsbemessungsgrenze, die am Tage der Versetzung in den Vorruhestand galt, für die Berechnung des Vorruhestandsgeldes im Gesamtbezugszeitraum maßgebend sei. Im übrigen habe es im Ermessen der Tarifvertragsparteien gelegen, die Dynamisierung auch mit Wirkung gegenüber Vorruheständlern zu ändern.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich seine Revision, mit der er seine Anträge weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Dem Kläger stehen weder wegen der jährlichen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze noch wegen der im Vergleich zum ersten Tarifvertrag geringeren Dynamisierung Nachzahlungsansprüche gegen die Beklagte zu.
I. Die Beklagte braucht das Vorruhestandsgeld nicht entsprechend den jährlich geänderten Beitragsbemessungsgrenzen jeweils neu zu berechnen. Das Vorruhestandsgeld wird nur einmal bei der Versetzung eines Arbeitnehmers in den Vorruhestand für die gesamte Dauer des Vorruhestandes ermittelt.
1. Nach § 5 Nr. 1 des Vorruhestandstarifvertrages vom 26. September 1984 hat der ausgeschiedene Arbeitnehmer gegen seinen bisherigen Arbeitgeber Anspruch auf ein monatlich zu zahlendes Vorruhestandsgeld in Höhe von 75 v.H. des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts. Das Bruttoarbeitsentgelt ist jedoch nur insoweit zu berücksichtigen, soweit es im jeweiligen Monat die Beitragsbemessungsgrenze des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AFG nicht übersteigt (§ 5 Nr. 2 Satz 1, 4 Vorruhestandstarifvertrag). In § 5 Nr. 5 Vorruhestandstarifvertrag wird darüber hinaus noch einmal ausdrücklich klargestellt, daß das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt für die Berechnung des monatlichen Vorruhestandsgeldes unberücksichtigt bleibt, soweit es die Beitragsbemessungsgrenze übersteigt. Im Jahre 1985 betrug die Beitragsbemessungsgrenze 5.400,-- DM. 75 % hiervon sind 4.050,-- DM.
2. Nach dem Tarifvertrag haben spätere Veränderungen der Beitragsbemessungsgrenze keinen Einfluß auf die Berechnung des Vorruhestandsgeldes. Das Vorruhestandsgeld wird für die gesamte Dauer des Vorruhestands berechnet. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer Einkünfte unter oder oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze bezieht. Lediglich die Auszahlung des ermittelten Vorruhestandsgeldes und seine Abrechnung nach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt monatlich. Soweit in § 5 Nr. 2 Satz 1 Vorruhestandstarifvertrag auf die Beitragsbemessungsgrenze des jeweiligen Monats abgestellt wird, kann hieraus nicht gefolgert werden, daß spätere Veränderungen der Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen sind. In § 5 Nr. 2 Satz 1 Vorruhestandstarifvertrag wird das Bruttoarbeitsentgelt nach dem Durchschnitt der letzten zwölf Monate berücksichtigt, soweit es in dieser Zeit die jeweilige Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigt. Gerade die Definitionsnorm des § 5 Nr. 2 Satz 1, die auch für Angestellte gilt (Satz 4), macht deutlich, daß die Beitragsbemessungsgrenze im Zeitpunkt der Versetzung in den Vorruhestand maßgebend ist. Das Auslegungsergebnis wird erhärtet durch die in § 6 Vorruhestandstarifvertrag vorgesehene Dynamisierung des Vorruhestandsgeldes. Die Tarifvertragsparteien wollten eine Veränderung des Vorruhestandsgeldes nur nach Maßgabe der Rentenanpassungsgesetze bzw. der auf 1,5 % geschätzten Inflationsrate. Nur eine Auslegung des Tarifvertrages dahin, daß spätere Veränderungen der Beitragsbemessungsgrenze unberücksichtigt bleiben, wahrt den Gleichbehandlungsgrundsatz. Würden nämlich Veränderungen der Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen sein, so würden die Einkünfte der Höherverdienenden doppelt gesteigert, nämlich einmal durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und zum anderen über die Dynamisierung. Dafür, daß die Tarifvertragsparteien derartiges gewollt haben, gibt es keine Anhaltspunkte.
An der Berechnung des Vorruhestandsgeldes hat sich durch den Vorruhestandsänderungstarifvertrag nichts geändert. Zwar ist § 5 des Vorruhestandstarifvertrages von 1984 in einzelnen Bestimmungen geändert worden. Diese Änderungen betreffen jedoch nicht die Vorschriften, nach denen der Anspruch des Klägers zu berechnen ist.
II. Der Kläger kann höhere Vorruhestandsleistungen auch nicht mit der Begründung verlangen, die im Vorruhestandstarifvertrag ursprünglich vorgesehene Dynamisierung des Anspruches sei unzulässigerweise auf 1,5 % abgesenkt und von der Rentenanpassung gelöst worden.
1. Der Änderungstarifvertrag vom 17. Dezember 1985 gilt nach seinem persönlichen (sachlichen) und zeitlichen Geltungsbereich auch für Arbeitnehmer, die sich bereits im Vorruhestand befinden. Die Tarifverträge vom 26. September 1984 und 17. Dezember 1985 wollen sowohl die Rechtsverhältnisse der aktiven Arbeitnehmer als auch der bereits in den Vorruhestand getretenen Arbeitnehmer regeln. Der Tarifvertrag vom 17. Dezember 1985 faßt nur einzelne Bestimmungen des Tarifvertrages vom 26. September 1984 neu. Hieraus ergibt sich, daß er in demselben Umfang wie der Tarifvertrag vom 26. September 1984 gelten soll.
a) Der Vorruhestandstarifvertrag von 1984 gilt nach seinem persönlichen Geltungsbereich für Personen, die als Arbeitnehmer eine nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung über die Rentenversicherung der Arbeiter oder des Angestelltenversicherungsgesetzes in ihrer jeweils geltenden Fassung versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben (§ 1 Abs. 3 Vorruhestandstarifvertrag). Von seinem Geltungsbereich ausgenommen sind lediglich leitende Angestellte im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes und Teilzeitbeschäftigte, deren regelmäßige Arbeitszeit weniger als 20 Stunden wöchentlich beträgt. Zu diesem Personenkreis gehörte der Kläger nicht.
b) Nach der Versetzung in den Vorruhestand ist der Kläger kein Arbeitnehmer im Sinne einer allgemeinen Begriffsbestimmung mehr. Arbeitnehmer ist, wer gegen Entgelt in abhängiger Tätigkeit arbeitet. Der Kläger arbeitet nicht mehr. Andererseits ist er als Vorruheständler noch in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig (§ 1227 Abs. 2 RV0, § 2 Abs. 3 AVG). Die Versicherungspflicht der Vorruheständler wurde beibehalten, um ein zu starkes Absinken der Ruhestandsleistungen zu verhindern.
Gleichwohl haben die Tarifvertragsparteien unter einem Arbeitnehmer auch den Vorruheständler verstanden. Der Vorruhestandstarifvertrag regelt in § 5 Abs. 1 die Höhe des Anspruchs des Vorruheständlers gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber, in § 7 Abs. 1 die Beitragspflicht des Vorruheständlers zur Sozialversicherung und in § 8 Abs. 1, 2 die Erlöschenstatbestände des Anspruchs auf Vorruhestand sowie einige Nebenpflichten aus dem Vorruhestandsverhältnis. In allen Fällen bezeichnet er den Vorruheständler als ausgeschiedenen Arbeitnehmer. Auch die Dynamisierung des Vorruhestandsgeldes wird erst im Vorruhestand wirksam. Hieraus folgt, daß die Tarifvertragsparteien auch die Rechtsverhältnisse während des Vorruhestandes regeln wollten.
2. Zur Regelung der Ansprüche der in den Vorruhestand getretenen Arbeitnehmer für die Dauer des Vorruhestandes waren die Tarifvertragsparteien berechtigt.
a) Nach § 1 Abs. 1 TVG enthält ein Tarifvertrag Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen oder betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Nach § 4 Abs. 1 TVG gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen. Es ist in Literatur und Rechtsprechung unbestritten, daß die Tarifvertragsparteien für die Arbeitnehmer auch die betriebliche Altersversorgung regeln können. Insoweit handelt es sich um Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis (statt aller Nipperdey, in Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. II 1. Halbbd., § 15 II 5 a) S. 255).
b) Dagegen besteht Streit zur Frage, ob die Tarifvertragsparteien auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das sich anschließende Rechtsverhältnis regeln können. Das Reichsgericht hat eine Klausel, entlassene Arbeitnehmer werden wieder eingestellt, zum schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages gezählt. Bei derartigen Klauseln handele es sich nicht um Normen, die den Inhalt des Arbeitsverhältnisses regeln (RG Urteil vom 30. Juni 1925, RGZ 111, 166). In einer weiteren Entscheidung hat es den Tarifvertragsparteien die Befugnis abgesprochen, den Anspruch auf Deputatkohle bereits ausgeschiedener Arbeitnehmer zu regeln (RG Urteil vom 12. November 1930, ARS 11, 35). Das ältere Schrifttum ist dieser Meinung mit unterschiedlicher Begründung gefolgt (vgl. Karakatsanis, Die kollektivrechtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und ihre Grenzen, 1963, S. 75; Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl., Bd. II, S. 293; Nipperdey in Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, aaO, S. 406 Fn. 172; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, 1968, S. 439, 443; Siebert, Kollektivnorm und Individualrecht im Arbeitsverhältnis, Festschrift für Nipperdey 1955, S. 119, 133, 137). Dagegen wird in einem Teil des Schrifttums vielfach die Meinung vertreten, daß die Tarifvertragsparteien auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das sich anschließende Rechtsverhältnis regeln könnten (vgl. dazu: Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 234; Nipperdey in Hueck/Nipperdey, aa0, § 15 II 6 g, S. 274 ff. betr. eine Wiedereinstellungsklausel nach Arbeitskämpfen; Reichel/Koberski/Ansey, TVG, Stand Juli 1989, § 1 Rz 333; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 143).
c) Der Senat braucht diese Streitfrage nicht abschließend zu entscheiden. Jedenfalls sind die Tarifvertragsparteien in der Lage, noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Vorruhestandsverhältnis zu regeln. Der Gesetzgeber versteht das Vorruhestandsverhältnis als Arbeitsverhältnis.
Das VRG geht von der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien aus. Es ist ein Subventionsgesetz, in dem die Ansprüche des Arbeitgebers gegen die Bundesanstalt für Arbeit geregelt werden. Der Vorruhestandsvertrag muß zwar gewissen Mindestvoraussetzungen genügen. Inhalt, Ausgestaltung und Beendigung des Vorruhestandsverhältnisses werden dagegen den Tarifvertragsparteien übertragen bzw. der einzelvertraglichen Ausgestaltung überlassen. Nach dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 VRG sind Vorruheständler Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet und ihre Erwerbstätigkeit beendet haben. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 VRG setzt der Anspruch auf Zuschuß des Arbeitgebers gegen die Bundesanstalt für Arbeit voraus, daß der Arbeitgeber aufgrund eines Tarifvertrages, einer Regelung der Kirchen und der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften oder einer Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer diesem Vorruhestandsgeld leistet. In § 2 Abs. 1 Nr. 1 VRG ist geregelt, bis zu welchem Zeitpunkt aufgrund individueller oder kollektiver Regelungen Vorruhestandsgeld zu zahlen ist. In §§ 3, 5 VRG wird geregelt, wie das Vorruhestandsgeld zu berechnen ist und wann das Vorruhestandsverhältnis beendet werden kann, ohne den Anspruch auf Zuschuß des Arbeitgebers zu gefährden. Von einer Dynamisierung des Vorruhestandsgeldes mit der Folge einer Erhöhung des Zuschusses kann nur der Vorruheständler erfaßt werden.
Diese Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien für den Vorruhestand beschränkt das Gesetz nicht auf die Zeit, in der das Arbeitsverhältnis noch besteht. Wäre die Regelungskompetenz in diesem Sinne beschränkt, könnte das Vorruhestandsverhältnis nicht mehr veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen angepaßt werden. Die weitergehende Normsetzungsbefugnis folgt aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG. Den Tarifvertragsparteien ist die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen übertragen worden. Ob und in welchem Umfang sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer nachträglichen Regelung der Tarifvertragsparteien entziehen können, kann unentschieden bleiben; der Vorruhestandstarifvertrag und der Vorruhestandsänderungstarifvertrag sind durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für allgemeinverbindlich erklärt worden.
3. Diese Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien besteht nur in den Grenzen von Recht und Billigkeit. Die im Änderungstarifvertrag vorgesehene Ablösung der Dynamisierung von der gesetzlichen Rentenversicherung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
a) Im Verhältnis von zwei aufeinanderfolgenden Tarifverträgen gilt die sogenannte Zeitkollisionsregel. Die Tarifvertragsparteien können eine Tarifnorm sowohl zugunsten wie auch zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer ändern. Dies entspricht ganz herrschender Meinung in der Rechtsprechung und im Schrifttum (BAG Urteil vom 1. Juni 1970 - 3 AZR 166/69 - AP Nr. 143 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu II 3 c der Gründe; BAGE 41, 163, 168 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand, zu II 3 der Gründe; Urteil vom 28. November 1984 - 5 AZR 195/83 - AP Nr. 2 zu § 4 TVG Bestimmungsrecht, zu 1 a, 3 a der Gründe; Wiedemann/Stumpf, aa0, § 4 Rz 149). Ablösende Tarifverträge sind von den Gerichten nur darauf zu überprüfen, ob sie gegen das Grundgesetz, gegen zwingendes Gesetzesrecht, gegen die guten Sitten oder gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen (BAGE 22, 252, 266 f. = AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu B IV 3 b der Gründe; 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand, zu II 3 der Gründe; Urteil vom 28. November 1984 - 5 AZR 195/83 - AP Nr. 2 zu § 4 TVG Bestimmungsrecht, zu 3 der Gründe). Derartige Rechtsverletzungen sind den Tarifvertragsparteien aber nicht unterlaufen.
b) Die Vereinbarung eines jährlich um 1,5 % steigenden Vorruhestandsgeldes verstößt nicht gegen Währungsrecht. Nach § 3 Satz 2 des ersten Gesetzes zur Neuordnung des Geldwesens (WährG) vom 20. Juni 1948 bedürfen Geldschulden der Genehmigung der Bundesbank (§ 49 AußenwirtschaftsG), wenn sie durch den Kurs einer anderen Währung oder durch den Preis oder eine Menge von Feingold oder von anderen Gütern oder Leistungen bestimmt werden sollen. Es mag schon fraglich sein, ob § 3 WährG überhaupt auf Tarifverträge anzuwenden ist (vgl. Nies, RdA 1970, 169; Wiedemann/Stumpf, aa0, Einleitung Rz 95, mit weiterem Nachweis). Die Tarifvertragsparteien haben jedenfalls das zu zahlende Vorruhestandsgeld nicht von einer anderen Bezugsgröße abhängig gemacht, sondern einen langfristigen Tarifvertrag mit jährlich um einen Festbetrag steigenden Sätzen vereinbart. Dies ist nach § 3 Satz 2 WährG nicht zu beanstanden.
c) Die Tarifvertragsparteien haben nicht in unentziehbare Besitzstände eingegriffen. Besitzstände und Rechtspositionen können unentziehbar geworden sein. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Arbeitnehmer aufgrund eines Tarifvertrages eine Rechtsstellung erworben hat, nach der das Arbeitsverhältnis nicht mehr ordentlich gekündigt werden kann (BAG Urteil vom 16. Februar 1962 - 1 AZR 164/61 - AP Nr. 11 zu § 4 TVG Günstigkeitsprinzip, zu 2 a der Gründe). Rechtsnormen über die Höhe oder Anpassung von Löhnen und Gehältern stehen demgegenüber unter dem Vorbehalt späterer Änderungen. Sie hängen ab von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der verschiedenen Industriezweige und deren Entwicklungen. Im Zeitpunkt der Änderung des Vorruhestandstarifvertrages waren für den Kläger noch keine Individualansprüche auf Erhöhung der Tarifleistungen erwachsen. Er besaß insoweit lediglich ein Anpassungsrecht. Nichts anderes gilt für den Fall, daß in einem Vorruhestandsvertrag auf den Vorruhestandstarifvertrag verwiesen wird.
d) Auch der Vertrauensgrundsatz verlangt nicht, daß bereits in den Vorruhestand getretene Arbeitnehmer von einer Änderung der Dynamisierung ausgenommen werden.
(1) Das Vertrauen auf den Fortbestand und die Rechtssicherheit setzen der Rückwirkung von Gesetzen und Tarifverträgen Grenzen (vgl. BVerfGE 13, 261, 271; 15, 313, 324). Ausgeschlossen ist eine echte Rückwirkung von Rechtsnormen. Eine echte Rückwirkung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann gegeben, wenn die Rechtsnormen nachträglich ordnend in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen (vgl. BVerfGE 11, 139, 145; 14, 288 ff., 297). In diesem Sinne hat der Vorruhestandsänderungstarifvertrag sich keine Rückwirkung beigemessen. Das Vorruhestandsverhältnis bestand im Zeitpunkt der Änderung des Tarifvertrages noch. Durch den Vorruhestandsänderungstarifvertrag sind nur künftig erwachsende Ansprüche beschnitten worden.
(2) Eine unechte Rückwirkung eines Tarifvertrages ist dann möglich, wenn die Normadressaten noch mit einer Änderung der Rechtsposition rechnen mußten (vgl. BVerfGE 8, 274, 304; 13, 261, 272; 19, 187, 196). So liegt der Fall hier. Der Kläger mußte mit einer Änderung des Vorruhestandstarifvertrages rechnen. Die vorgesehene Regelung sollte den Wert der Bezüge enthalten. Der Lebensstandard sollte gesichert werden. Das schloß Änderungen bei der Berechnung von Leistungen nicht aus. Die Berechnung der Leistungen beruhte auf einer Prognose, die nachträglich gewährt werden kann.
Die Befristung des Vorruhestandstarifvertrages vom 26. September 1984 (bis zum 31. Dezember 1995) steht nicht entgegen. Aus der Befristung des Tarifvertrages kann nicht gefolgert werden, daß sich die Tarifvertragsparteien einer Änderung des Vorruhestandstarifvertrages enthalten wollten. Die Befristung macht nur eine Kündigung entbehrlich.
Auch die für den Kläger notwendige Kalkulation seiner Einnahmen im Vorruhestand verbot nicht die Änderung der Dynamisierungsklausel und eine mögliche Verschlechterung. Tarifverträge haben eine Schutz-, Ordnungs- und Verteilungsfunktion. Tarifverträge dienen dem Schutz des Arbeitnehmers; sie wollen die in der Regel bestehende wirtschaftliche Überlegenheit des Arbeitgebers ausgleichen. Sie haben eine Ordnungsfunktion, indem sie für einen bestimmten Zeitraum eine feste Kalkulationsgrundlage für Arbeitnehmer und Arbeitgeber schaffen. Sie haben aber auch eine Verteilungsfunktion; sie regeln die Soziallasten der Unternehmen. Insoweit stehen alle kollektivrechtlich begründeten Ansprüche unter dem Vorbehalt der ständigen Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse.
e) Die Tarifvertragsparteien haben schließlich mit der Änderung der Dynamisierungsklausel nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, daß eine tarifvertragliche Regelung zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet, erforderlich und nicht außer Verhältnis stehen darf. Der Eingriff in die Rechtserwartungen einerseits und deren Verwirklichung andererseits dürfen nicht außer Verhältnis stehen.
Der Vorruhestandstarifvertrag und sein Änderungstarifvertrag liegen - was die Dynamisierung betrifft - innerhalb der Möglichkeiten, die das VRG vorgegeben hat. Die Bundesanstalt für Arbeit leistet einen Zuschuß in Höhe von 35 v.H. des in Höhe von 65 v.H. des Bruttoarbeitsentgelts gezahlten Vorruhestandsgeldes (§ 3 VRG). Nach § 4 VRG erhöht sich der Zuschuß zu den Aufwendungen des Arbeitgebers jeweils nach Ablauf eines Jahres seit Beginn der Zahlung des Vorruhestandsgeldes um den Vomhundertsatz, um den die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zuletzt vor diesem Zeitpunkt nach dem jeweiligen Rentenanpassungsgesetz angepaßt worden sind. Der Zuschuß wird aber höchstens um den Vomhundertsatz angehoben, um den der Arbeitgeber das Vorruhestandsgeld erhöht hat. Die Dynamisierungsklausel des Vorruhestandstarifvertrages und seines Änderungstarifvertrages wollen den Anspruch des Arbeitgebers auf die Erhöhung des Zuschusses sicherstellen.
Wenn die Tarifvertragsparteien hinter der Dynamisierung der gesetzlichen Sozialversicherungsrente zurückbleiben und sich von deren Dynamisierungsfaktor lösen, steht das nicht außer Verhältnis zum angestrebten Ziel. Die von den Tarifvertragsparteien im Änderungstarifvertrag vorgesehene Dynamisierung übersteigt den Geldwertschwund eines Vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalts (Basisjahr 1976), jeweils bezogen auf das Vorjahr. Der Geldwertschwund betrug 0,42 % am 1. Januar 1987, 1,46 % am 1. Januar 1988; am 1. Januar 1986 war gegenüber dem Vorjahr sogar ein Kaufkraftgewinn von 0,08 % zu verzeichnen. Wenn die Tarifvertragsparteien nur noch den Kaufkraftverlust ausgleichen wollen, ist das aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Es ist aber auch nicht unbillig, wenn die Tarifvertragsparteien sowohl für (Alt-)Vorruheständler als auch für die in den Vorruhestand tretenden Arbeitnehmer eine einheitliche Dynamisierung vorsehen. Es gibt keine sachliche Rechtfertigung, ein Zwei- Klassen-Vorruhestandssystem zu bilden. Der Kläger muß daher die Absenkung der Dynamisierung hinnehmen.
Dr. Heither Schaub Griebeling
Dr. Hoppe Arntzen
Fundstellen
BAGE 63, 100-111 (LT1-5) |
BAGE, 100 |
DB 1990, 637-639 (LT1-5) |
NZA 1990, 564-567 (LT1-5) |
RdA 1990, 126 |
AP § 1 TVG Vorruhestand (LT1-5), Nr 3 |
AR-Blattei, ES 1750 Nr 12 (LT1-5) |
AR-Blattei, Vorruhestand Entsch 12 (LT1-5) |
EzA § 2 VRG Bauindustrie, Nr 4 (LT1-5) |
VersR 1990, 641-642 (LT1-5) |