Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung der zweiten Hälfte einer Jahressonderzahlung
Leitsatz (amtlich)
Der Dienstgeber kann von der Kürzungsmöglichkeit bei der Leistung einer Jahressonderzahlung nach Anlage 14 AVR nur Gebrauch machen, wenn er auf alle Dienstverhältnisse die AVR vollständig und einschränkungslos anwendet.
Orientierungssatz
1. Die Ausnahmeregelung in § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR ist nur auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR zu beziehen.
2. Auf die Kürzungsmöglichkeit in Anlage 14 AVR kann sich nur eine Einrichtung berufen, die die AVR vollständig und einschränkungslos anwendet. Allein Ergänzungen zu den AVR, die eindeutig und klar für die Beschäftigten vorteilhafter sind, stehen einer Kürzungsmöglichkeit nach § 1 Abs. 5 AVR nicht entgegen. Die bloße Zahlung einer Vergütung in Höhe des AVR-Entgelts reicht nicht aus.
Normenkette
Arbeitsvertragsrichtlinien für Einrichtungen, die dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen sind (AVR) § 1 Abs. 5; Arbeitsvertragsrichtlinien für Einrichtungen, die dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen sind (AVR) Anlage 14
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 26. Juni 2014 – 15 Sa 92/14 – aufgehoben.
2. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 7. Januar 2014 – 5 Ca 620/13 – wird zurückgewiesen.
3. Der Beklagte hat die Kosten der Berufung und Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf die zweite Hälfte einer Jahressonderzahlung für das Kalenderjahr 2011.
Der Kläger arbeitet bei dem Beklagten seit 1988 als Altenpfleger in B. Der Beklagte, der mehrere tausend Mitarbeiter beschäftigt, ist Träger verschiedener sozialer Einrichtungen und seit 1951 Mitglied des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen – Landesverband der Inneren Mission – e. V. (vormals Landesverband der Inneren Mission der Evangelischen Kirche von Westfalen e. V.).
Nach § 2 Satz 1 des Dienstvertrags der Parteien vom 10. November 1988 finden auf ihr Dienstverhältnis die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) des Diakonischen Werkes – Innere Mission und Hilfswerk – der Evangelischen Kirche in Deutschland in der jeweils gültigen Fassung Anwendung. Der Dienstvertrag beinhaltet unter anderem folgende weitere Regelungen:
„§ 6 Streitigkeiten aus diesem Vertrag sollen auf gütlichem Wege bereinigt werden. Die Vertragschließenden verpflichten sich, vor Einschalten des Arbeitsgerichtes entweder den Vorsitzenden des Vorstandes einzuschalten oder gem. § 44 AVR die Schlichtungsstelle beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen anzurufen. Erst wenn eine dieser Maßnahmen (bei Anrufung des Vorsitzenden binnen einer Woche) nicht zu einer Einigung führt, kann nach Maßgabe dieses Vertrages das Arbeitsgericht angerufen werden.
§ 7 Für eine Kündigung des Dienstverhältnisses gelten die §§ 30 – 33 AVR.
Die ersten sechs Monate der Beschäftigung sind Probezeit.
Abweichend von § 30 Abs. 2 AVR beträgt die Kündigungsfrist im 1. Dienstjahr nach Ablauf der Probezeit sechs Wochen zum Quartalsschluß.”
Gemäß Anlage 14 Abs. 3 AVR idF vom 1. Juli 2011 erhalten Mitarbeiter eine Jahressonderzahlung, die je zur Hälfte im November des laufenden und im Juni des folgenden Jahres gezahlt wird. Dabei ist die Höhe der Zahlung im Juni vom betrieblichen Ergebnis der Einrichtung bzw. eines wirtschaftlich selbständig arbeitenden Teils der Einrichtung abhängig und kann gemäß Anlage 14 Abs. 4 AVR bei einem vom Dienstgeber nachzuweisenden negativen betrieblichen Ergebnis je nach dessen Höhe ganz oder teilweise entfallen.
Der Beklagte zahlte an den Kläger die erste Hälfte der Jahressonderzahlung für das Kalenderjahr 2011, nicht hingegen die zweite Hälfte in unstreitiger Höhe von 1.214,49 Euro brutto. Er berief sich darauf, dass die von ihm bei der Bewertung zugrunde gelegte „Region B” als wirtschaftlich selbständig arbeitender Teil der Einrichtung nach dem Testat vereidigter Wirtschaftsprüfer im Kalenderjahr 2011 ein negatives betriebliches Ergebnis erzielt habe.
Hinsichtlich der Möglichkeit zur Kürzung der Jahressonderzahlung trifft
§ 1 Abs. 5 AVR folgende Regelung:
„Von den Abweichungsmöglichkeiten in § 17 und den Anlagen 14 und 17 der AVR können Einrichtungen nur Gebrauch machen, wenn
- auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung und der mit ihr verbundenen Einrichtungen, die Mitglied in einem Diakonischen Werk sind, die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) oder eine gleichwertige Arbeitsvertragsgrundlage angewandt werden,
- Leiharbeitnehmer nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nur zur kurzfristigen Überbrückung von Personalengpässen eingesetzt werden. Bei Einrichtungsträgern, in deren Einrichtungen insgesamt mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, ist eine kurzfristige Überbrückung im Sinne dieser Regelung anzunehmen, wenn nicht mehr als 5 v. H. der insgesamt im Jahresdurchschnitt beschäftigten Vollkräfte in den Einrichtungen des Trägers Leiharbeitnehmer i. S. d. AÜG sind. Bei der Ermittlung der Anzahl der Vollkräfte sind Teilzeitbeschäftigte anteilig zu berücksichtigen.
Beschäftigte, die mindestens in Höhe des AVR – Entgeltes beschäftigt werden, bleiben außer Betracht.
Erfüllen Einrichtungen am 01. Juli 2007 diese Voraussetzungen nicht, so können sie von den Abweichungsmöglichkeiten Gebrauch machen, wenn sie durch Dienstvereinbarung
- einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren zur vollständigen Anwendung der AVR oder einer gleichwertigen Arbeitsvertragsgrundlage oder
- für drei Jahre eine abweichende Beschäftigungsquote für Leiharbeitnehmer
festlegen.
Anmerkung zu Abs. 5:
Gleichwertig ist eine Arbeitsvertragsgrundlage, die nach Maßgabe der jeweils anzuwendenden kirchlichen Arbeitsrechtsregelung zustande gekommen ist, sowie die für den öffentlichen Dienst geltenden tarifvertraglichen Regelungen.”
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung begehrt der Kläger mit seiner Klage die zweite Hälfte der Jahressonderzahlung für das Kalenderjahr 2011. Er ist der Auffassung, der Beklagte sei nicht zu deren Streichung berechtigt gewesen.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 1.214,49 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 1. Juli 2012 zu zahlen.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die Voraussetzungen der Abweichungsmöglichkeit nach Anlage 14 iVm. § 1 Abs. 5 AVR für die „Region B”, in welcher der Kläger beschäftigt werde und die einen wirtschaftlich selbständig arbeitenden Teil der Einrichtung darstelle, seien erfüllt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung der zweiten Hälfte der Jahressonderzahlung für das Kalenderjahr 2011 gemäß Anlage 14 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 AVR. Der Beklagte kann sich nicht auf die in Anlage 14 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3, Abs. 4 und Abs. 5 AVR geregelte Abweichungsmöglichkeit berufen, da er nicht die Voraussetzung des § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR erfüllt. Dies hat das Landesarbeitsgericht nicht beachtet.
I. Die Klage ist zulässig, obwohl der Kläger entgegen § 6 Satz 3 des
Dienstvertrags der Parteien vor Klageerhebung weder den Vorsitzenden des Vorstands des Beklagten noch die Schlichtungsstelle beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen angerufen hat. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei diesem Verfahren um ein zulässigerweise als Prozessvoraussetzung ausgestaltetes Güte- oder Schlichtungsverfahren handelt. Selbst wenn es ein solches wäre, könnte dessen Nichtdurchführung nur dann zur Unzulässigkeit der Klage führen, wenn der Beklagte eine entsprechende Rüge vorgebracht hätte (vgl. zu § 22 AVR-Caritas BAG 8. Juni 1994 – 10 AZR 341/93 – zu II 1 der Gründe). Eine solche Rüge hat der Beklagte im Rechtsstreit aber nicht erhoben. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Parteien für die vorliegende Streitigkeit auf die Einhaltung des Schlichtungsverfahrens konkludent verzichtet haben (vgl. BAG 26. Mai 1993 – 4 AZR 130/93 – zu I 1 der Gründe, BAGE 73, 191).
II. Die Klage ist begründet.
1. Dem Kläger steht nach Anlage 14 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 AVR ein Anspruch gegen den Beklagten auf die zweite Hälfte der Jahressonderzahlung für das Jahr 2011 zu. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind und die zweite Hälfte der Jahressonderzahlung 1.214,49 Euro brutto beträgt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2012 hat der Kläger diesen Anspruch auch rechtzeitig innerhalb der Frist des § 45 Abs. 2 AVR schriftlich geltend gemacht.
2. Der Beklagte kann sich gegen diesen Anspruch nicht auf die in Anlage 14 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3, Abs. 4 und Abs. 5 AVR geregelte Abweichungsmöglichkeit berufen. Dabei kann offenbleiben, ob der Begriff des „wirtschaftlich selbständigen Teils der Einrichtung” und das in Anlage 14 AVR vorgesehene Leistungsbestimmungsrecht des Dienstgebers hinreichend bestimmt sind und letzteres einer Kontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterliegt. Denn der Beklagte erfüllt bereits nicht die nach § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR erforderliche Voraussetzung, dass er auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung die AVR anwendet.
a) Der Dienstgeber kann von der Abweichungsmöglichkeit nach Anlage 14 AVR nur Gebrauch machen, wenn er auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung und der mit ihr verbundenen Einrichtungen die AVR oder eine gleichwertige Arbeitsvertragsgrundlage iSd. Anmerkung zu Abs. 5 des § 1 AVR vollständig und einschränkungslos anwendet. Die bloße Zahlung einer Vergütung in Höhe des AVR-Entgelts iSv. § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR reicht nicht aus. Diese Ausnahmeregelung ist nur auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR zu beziehen. Dies folgt aus einer Auslegung von § 1 Abs. 5 AVR. Ob § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR darüber hinaus eine eigenständige Bedeutung beispielsweise in Fällen haben kann, in denen das Dienstverhältnis im Wege eines Betriebsübergangs mit dem Dienstgeber begründet wurde, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn der Beklagte wendet die AVR in Bezug auf den Kläger, mit dem durchgehend seit 1988 ein unmittelbar zwischen den Parteien begründetes Dienstverhältnis besteht, bereits nicht vollständig und einschränkungslos an.
aa) Die Auslegung von Arbeitsvertragsrichtlinien erfolgt, obwohl es sich nicht um normativ wirkende Tarifregelungen handelt, sondern um Kollektivvereinbarungen besonderer Art, nach den für die Tarifauslegung maßgeblichen Grundsätzen (vgl. BAG 18. November 2009 – 4 AZR 493/08 – Rn. 29 mwN). Die Auslegung der AVR durch das Berufungsgericht ist in der Revisionsinstanz – wie auch die Auslegung von Tarifverträgen – in vollem Umfang zu überprüfen.
bb) Der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR erschließt sich nicht ohne Weiteres. Sein Wortlaut, „Beschäftigte, die mindestens in Höhe des AVR – Entgeltes beschäftigt werden, bleiben außer Betracht”, lässt sowohl eine Auslegung zu, wonach er sich allein auf die in § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR angesprochene Leiharbeitnehmerquote bezieht, als auch eine Auslegung, nach der diese Ausnahmeregelung ebenso für § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR Bedeutung hat. Allerdings haben die in § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR verwendeten Begriffe „Beschäftigte” und „beschäftigt” einen unmittelbaren Wortlautbezug nur zu § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b Satz 2 und Satz 3 AVR, wo die Formulierungen „beschäftigt”, „beschäftigte Vollkräfte” und „Teilzeitbeschäftigte” verwendet werden. Dagegen sind in § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR nicht „Beschäftigte”, sondern „Dienstverhältnisse” Regelungsgegenstand.
cc) Die Systematik der Regelung spricht eher für eine Anwendung von § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a und Buchst. b AVR. Zwar könnte bei der Auslegung beachtet werden, dass § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR unmittelbar auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR folgt und darum in erster Linie einen Bezug zur Leiharbeitnehmerquote herstellt. Jedoch macht die Hervorhebung als eigener Unterabsatz deutlich, dass § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR nicht ein bloßer „Satz 4” von § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR ist.
dd) Der Zweck der Regelung des § 1 Abs. 5 AVR spricht dagegen, § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR auch auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR zu beziehen. Von den Abweichungsmöglichkeiten nach Anlage 14 AVR sollen nur die Einrichtungen Gebrauch machen können, die auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung die AVR anwenden.
(1) Die zwischenzeitlich gestrichene Übergangsregelung in § 1 Abs. 5 Unterabs. 3 AVR verdeutlicht, wie der Begriff der „Anwendung” der AVR zu verstehen ist. Erforderlich ist – nach Ablauf einer hier nicht interessierenden Übergangsfrist – die „vollständige Anwendung der AVR”. Dies schließt ein Verständnis aus, wonach schon die Zahlung einer Vergütung in Höhe des AVR-Entgelts ausreicht, Beschäftigte, mit denen die AVR nicht oder nicht vollständig vereinbart wurden, bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen der Abweichungsmöglichkeit außer Betracht zu lassen.
(2) Hinzu kommt, dass das Regelungsziel des § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR, die vollständige Geltung der AVR oder gleichwertiger Arbeitsvertragsgrundlagen in allen Dienstverhältnissen zu gewährleisten, nicht erreichbar wäre, wenn auf diese Regelung die Einschränkung des § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR anwendbar wäre. Könnten Einrichtungen schon dann von den Abweichungsmöglichkeiten der Anlage 14 Gebrauch machen, wenn sie an Beschäftigte mindestens Vergütung in Höhe des AVR-Entgelts zahlen, bliebe für § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR kein eigener Regelungsbereich. Er wäre überflüssig, was sich aber nicht mit dem Sinngehalt des § 1 Abs. 5 Unterabs. 3 AVR in Einklang bringen ließe, der gerade eine „vollständige Anwendung der AVR” verlangt und nicht nur Bezahlung des entsprechenden Entgelts.
ee) Bezieht man die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR dagegen (allein) auf § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. b AVR, erschließt sich ein sinnhafter Regelungszusammenhang. In dieser Bestimmung geht es um die Errechnung einer Quote, bei der bestimmte Arbeitnehmer nicht berücksichtigt werden, auf deren Arbeitsverhältnisse die AVR typischerweise nicht anwendbar sind. Eine Einrichtung wie der Beklagte hat im Regelfall auch keine Möglichkeit, eine vollständige Anwendung der AVR in diesen Arbeitsverhältnissen einzufordern oder durchzusetzen. Hiervon ausgehend lässt die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 5 Unterabs. 2 AVR bei der Quotenberechnung die Leiharbeitnehmer außer Betracht, die mindestens in Höhe des AVR-Entgelts beschäftigt werden, weil diese den Arbeitnehmern der Einrichtung dann zumindest wirtschaftlich in einem wesentlichen Teil gleichgestellt sind.
ff) Diese Auslegung des § 1 Abs. 5 AVR entspricht den kirchenrechtlichen Vorgaben der Evangelischen Kirche von Westfalen. Diese verlangen eine verpflichtende Vereinbarung der AVR – bzw. hier nicht weiter interessierender gleichwertiger Arbeitsvertragsgrundlagen – zwischen den Einrichtungen der Diakonie und ihren Beschäftigten. Einschränkungen oder Abänderungen sind dabei nicht vorgesehen.
(1) In dem für den Beklagten maßgeblichen Kirchengesetz über die Ordnung der diakonischen Arbeit in der Evangelischen Kirche von Westfalen (Diakoniegesetz – DiakonieG) vom 13. November 2003 (KABl. 2003 S. 373), zuletzt in der Fassung der Gesetzesvertretenden Verordnung zur Änderung des Kirchengesetzes über die Ordnung der diakonischen Arbeit in der Evangelischen Kirche von Westfalen vom 4. Dezember 2014 (KABl. 2014 S. 344), wird in § 8 Abs. 2 Satz 4 auf die Satzung des Diakonischen Werkes Bezug genommen. Die Satzung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen – Landesverband der Inneren Mission – e. V. vom 5. Juni 2013 (KABl. 2013 S. 139) sieht in § 4 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a eine Verpflichtung der Mitglieder vor, mit den Mitarbeitenden in den Arbeitsverträgen die AVR bzw. eine gleichwertige Arbeitsvertragsgrundlage zu vereinbaren. Auch die entsprechenden Fassungen vom 27. August 2008 und vom 12. Dezember 2011 beinhalten jeweils in § 4 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a die Verpflichtung der Mitglieder, die Mitarbeitenden nach Arbeitsbedingungen zu beschäftigen, die in einem kirchengesetzlich anerkannten Verfahren gesetzt werden, welches auf strukturellem Gleichgewicht der Dienstgeber- und Dienstnehmerseite beruht.
(2) Nach § 3 Abs. 1 des Kirchengesetzes über das Verfahren zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst (Arbeitsrechtsregelungsgesetz – ARRG) vom 15. November 2001 (KABl. 2002 S. 70) idF vom 21. November 2013 (KABl. 2013 S. 268) sind die von der Arbeitsrechtlichen Kommission und die von der Arbeitsrechtlichen Schiedskommission beschlossenen Arbeitsrechtsregelungen verbindlich. Nach § 3 Abs. 2 ARRG sind in den Arbeitsverträgen diese Arbeitsrechtsregelungen in der jeweils gültigen Fassung zu vereinbaren. Dies gilt gemäß § 3 Abs. 3 ARRG auch für die Mitglieder der Diakonischen Werke.
gg) Ein solches Verständnis des § 1 Abs. 5 AVR steht schließlich im Einklang mit den Grundsätzen, die das Bundesarbeitsgericht im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen im Rahmen des sog. Dritten Wegs aufgestellt hat (vgl. BAG 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 119, BAGE 143, 354).
Danach ist das Verfahrenskonzept des Dritten Wegs darauf gerichtet, das auch im kirchlichen und diakonischen Bereich vorhandene Kräfteungleichgewicht zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern unter Beachtung der bekenntnismäßigen Besonderheiten des kirchlichen oder diakonischen Diensts auszugleichen. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, soweit das Ergebnis dieser Verhandlungen einschließlich einer darauf gerichteten Schlichtung für die Arbeitsvertragsparteien verbindlich und einer einseitigen Abänderung durch den Dienstgeber entzogen ist. Im Konzept der Tarifautonomie wird dieses Ziel durch § 4 Abs. 1 TVG erreicht, der den Rechtsnormen eines Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses betreffen, zwischen den Tarifgebundenen unmittelbare und zwingende Wirkung verleiht. Ausnahmen hiervon lässt § 4 TVG nur zu, soweit der Tarifvertrag sie gestattet oder es sich um Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers handelt (§ 4 Abs. 3 TVG).
Diese, die Tarifautonomie ausgestaltende und sichernde Regelung des staatlichen Rechts, steht für den Dritten Weg nicht zur Verfügung. Dem trägt die Kirche dem Grunde nach Rechnung, indem die jeweiligen Dienstgeber durch Kirchen- oder Satzungsrecht verpflichtet werden, das Ergebnis der Kollektivverhandlungen des Dritten Wegs durch einzelvertragliche Inbezugnahme zur Geltung zu bringen. Beide Regelungskonzepte erreichen durch unterschiedliche Regularien, dass die von Repräsentanten der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite ausgehandelten Vertragsbedingungen das einzelne Arbeitsverhältnis gestalten.
b) Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. BAG 15. Januar 2014 – 10 AZR 403/13 – Rn. 31) sollen nur solche Dienstgeber gemäß § 1 Abs. 5 AVR die Kürzungsregelung nutzen dürfen, die im Übrigen das in den AVR oder gleichwertigen Regelungswerken niedergelegte Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen gewährleisten. Der Dienstgeber soll nicht die Möglichkeit haben, sich einerseits die Kürzungsrechte bei den Jahressonderzahlungen und andere Sonderrechte zu sichern, im Übrigen aber das System der Rechtsgewinnung nach den jeweils anwendbaren kirchenrechtlichen Vorschriften des Dritten Wegs zu verlassen, es sei denn, er wendet Tarifverträge des öffentlichen Diensts an (sog. „Tariftreueklausel”). Auf einen materiellen Günstigkeitsvergleich kommt es nicht an. Dabei ist das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht im Sinne eines Synallagmas zu verstehen. Um von der Abweichungsmöglichkeit in Anlage 14 AVR Gebrauch machen zu können, ist vielmehr die vollständige und einschränkungslose Anwendung der AVR auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung erforderlich. Dies lässt auch keine Änderungen in Randfragen oder Regelungsbereichen außerhalb der unmittelbaren Hauptleistungspflichten zu. Allein Ergänzungen zu den AVR, die eindeutig und klar für die Beschäftigten vorteilhafter sind, stehen einer Abweichungsmöglichkeit nach § 1 Abs. 5 AVR nicht entgegen. Bei einer sog. ambivalenten Regelung ist keine „Günstigkeit” in diesem Sinne gegeben (vgl. BAG 15. April 2015 – 4 AZR 587/13 – Rn. 29).
c) Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, wie ein Dienstgeber, der die für ihn maßgeblichen AVR nicht vollständig und einschränkungslos auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung anwendet, für die Zukunft wieder einen Zustand herstellen kann, der ihm ein Gebrauchmachen von der Abweichungsmöglichkeit nach Anlage 14 AVR erlaubt. Ob in Fällen, in denen die Arbeitnehmer ein ihnen gemachtes Angebot einer einvernehmlichen Vertragsänderung mit dem Inhalt, die AVR künftig vollständig und einschränkungslos Gegenstand des Dienstvertrags sein zu lassen, nicht annehmen, auch eine diesbezügliche verbindliche Gesamtzusage des Dienstgebers ausreichend sein könnte, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, da der Beklagte für den streitgegenständlichen Zeitraum eine solche Erklärung jedenfalls nicht abgegeben hat.
3. Der Beklagte hat nicht auf alle Dienstverhältnisse der Einrichtung die AVR vollständig und einschränkungslos angewandt. Er ist vielmehr in § 6 Satz 3 und § 7 Satz 3 des Dienstvertrags des Klägers von den AVR abgewichen, ohne dass es sich insoweit um eindeutig und klar vorteilhafte Ergänzungen der AVR zugunsten des Mitarbeiters handeln würde.
a) Das in § 6 Satz 3 des Dienstvertrags der Parteien verpflichtend vor Anrufung des Arbeitsgerichts vorgesehene Schlichtungsverfahren weicht von der Regelung in § 44 AVR ab. Nach dem Dienstvertrag der Parteien kann das Arbeitsgericht erst angerufen werden, wenn das Schlichtungsverfahren nicht zu einer Einigung geführt hat. Nach § 44 Satz 1 AVR ist das Schlichtungsverfahren nur fakultativ durchzuführen. § 44 Satz 2 AVR hebt hervor, dass die Behandlung eines Falls vor der Schlichtungsstelle die Anrufung des Arbeitsgerichts nicht ausschließt. Eine Abweichung des Dienstvertrags besteht auch in Bezug auf die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Parteien geltenden AVR zum Stand 1. Mai 1988. Dort ist in § 44 Satz 1 zwar eine verpflichtende Anrufung der Schlichtungsstelle bei Meinungsverschiedenheiten aus dem Dienstverhältnis geregelt. § 44 Satz 2 der AVR in der damals geltenden Fassung erklärt aber – wie die aktuelle Fassung der AVR –, dass die Behandlung eines Falls vor der Schlichtungsstelle die Anrufung des Arbeitsgerichts nicht ausschließt. § 6 Satz 3 des Dienstvertrags ist keine bloße Ergänzung zu den AVR, die eindeutig und klar vorteilhaft für den Mitarbeiter ist. Vielmehr wird dadurch die ihm zustehende Möglichkeit, Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten zu suchen, erschwert.
b) Die Kündigungsfristenregelung in § 7 Satz 3 des Dienstvertrags der Parteien weicht ausdrücklich von der in § 30 Abs. 2 AVR (nunmehr § 30 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AVR) geregelten Kündigungsfrist im ersten Dienstjahr nach Ablauf der Probezeit ab. Statt der nach den AVR maßgeblichen beiderseitigen Kündigungsfrist von einem Monat zum Schluss eines Kalendermonats gilt nach dem Dienstvertrag eine Frist von sechs Wochen zum Quartalsschluss. Dies ist eine längere Kündigungsfrist als in den AVR geregelt, die auch nur weniger Beendigungstermine zulässt. Diese nach ihrem Wortlaut nicht allein auf arbeitgeberseitige Kündigungen bezogene und vom Beklagten nach seinen Ausführungen in der Revisionsverhandlung auch so verstandene beidseitige Verlängerung der Kündigungsfrist stellt eine Schlechterstellung der Mitarbeiter gegenüber § 30 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AVR dar. Diesen wird es – in der häufig in den ersten Monaten nach Ablauf der Probezeit noch andauernden Orientierungsphase – erschwert, das Dienstverhältnis mit dem Beklagten zu beenden und sich einem anderen Arbeitgeber zuzuwenden. Dabei bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, wie es zu bewerten ist, dass diese im Dienstvertrag vereinbarte Abweichung von den AVR für das seit Jahrzehnten bestehende Arbeitsverhältnis der Parteien keine praktische Auswirkung mehr hat. Der Beklagte hat erklärt, dass bis heute in den Dienstverträgen der Mitarbeiter diese Abweichung von der Kündigungsfristenregelung der AVR aufgenommen wird.
c) Der Beklagte beruft sich zu Unrecht darauf, dass die im Dienstvertrag der Parteien vereinbarten Abweichungen zu den AVR nicht das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung beträfen und daher für die Regelung in § 1 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a AVR unbeachtlich seien. Wie vorstehend ausgeführt, kommt es insoweit nicht auf das synallagmatische Verhältnis an, sondern auf die vollständige und einschränkungslose Übernahme der AVR-Regelungen in den Dienstvertrag.
4. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 iVm. § 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB, nachdem die zweite Hälfte der Jahressonderzahlung 2011 gemäß Anlage 14 Abs. 3 Satz 1 AVR im Juni 2012 zu zahlen war.
III. Der Beklagte hat die Kosten der Berufung und Revision zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Linck, Brune, Schlünder, Diener, Fieback
Fundstellen
Haufe-Index 8977009 |
BAGE 2016, 215 |
BB 2016, 244 |
DB 2016, 6 |