Entscheidungsstichwort (Thema)
Wartezeit bei Invaliditätsversorgung
Leitsatz (redaktionell)
Bestimmt eine betriebliche Ruhegeldordnung, daß der Versorgungsfall der Invalidität nicht schon beim Eintreten von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorliegen soll, sondern erst bei Aufnahme der Rentenzahlungen durch den gesetzlichen Sozialversicherungsträger, so kann eine vorgeschriebene Wartezeit auch von berufs- oder erwerbsunfähigen Arbeitnehmern noch erfüllt werden, bis die gesetzlichen Rentenzahlungen einsetzen.
Normenkette
BGB §§ 133, 157, 242; BetrAVG §§ 1, 7 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 06.06.1984; Aktenzeichen 7 Sa 440/83) |
ArbG Köln (Entscheidung vom 20.12.1982; Aktenzeichen 3 Ca 8162/82) |
Tatbestand
Der im Jahre 1923 geborene Kläger trat am 1. August 1958 in die Dienste der I KG, B ,über deren Vermögen am 24. Januar 1978 das Konkursverfahren eröffnet worden ist. Der Kläger verlangt von dem Beklagten als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung die Zahlung einer Invaliditätsrente.
Die Gemeinschuldnerin erbrachte ihren Mitarbeitern Leistungen der betrieblichen Altersversorgung über die Unterstützungskasse J-Stiftung e.V., in deren Richtlinien Unterstützungsleistungen nach einer Wartezeit von 20 Jahren vorgesehen sind. Von dieser Wartezeit kann abgesehen werden, wenn der Unterstützungsfall auf einem Arbeitsunfall beruht. In § 3 der Richtlinien heißt es:
"(1) Betriebsangehörige, die die Voraussetzungen
des § 1 erfüllt haben und die entweder
a) die in der Arbeitsordnung der Firma fest-
gelegte Altersgrenze erreicht haben oder
b) im Einvernehmen mit der Firma vorzeitig
in den Ruhestand treten,
erhalten eine laufende Unterstützung (Ruhe-
geld).
(2) Über die Dienstunfähigkeit gem. Absatz 1 b
entscheidet der Vereinsvorstand aufgrund ei-
nes vertrauensärztlichen Zeugnisses. Dienst-
unfähigkeit liegt in jedem Falle vor, wenn
und solange aus der gesetzlichen Sozialver-
sicherung Rente gewährt wird."
Am 4. Januar 1978 erlitt der Kläger einen Herzinfarkt. Nach Rehabilitationsmaßnahmen im Herz- und Kreislaufzentrum Rotenburg/Fulda durfte er ab 1. August 1978 einen Arbeitsversuch unternehmen. Der Konkursverwalter hatte inzwischen sein Arbeitsverhältnis zum 30. September 1978 gekündigt. Wenige Tage nach Arbeitsaufnahme erlitt der Kläger Angina pectoris-Anfälle. Am 7. August 1978 wurde er erneut in stationäre Behandlung aufgenommen. Im Oktober 1978 unterzog er sich einer Bypaßoperation. Im Mai 1979 beantragte er bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die BfA bewilligte diese mit Wirkung vom 1. Mai 1979; den Versicherungsfall setzte sie auf den 4. Januar 1978 fest. Der Beklagte lehnte als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung ab, eine Invaliditätsrente zu zahlen, da der Versicherungsfall vor Ablauf der 20jährigen Wartezeit eingetreten sei. Eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft auf Altersrente erkannte er an.
Der Kläger hat vorgetragen, wegen seines im Januar 1978 erlittenen Herzinfarktes sei er nach ärztlichem Gutachten nur vorübergehend arbeitsunfähig gewesen. Er habe sich bei verschiedenen Unternehmen beworben. Die zur Erwerbsunfähigkeit führende Erkrankung sei erst nach Ablauf der Wartezeit eingetreten. Die BfA habe keine medizinischen Feststellungen getroffen, die dem widersprächen.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß der Beklagte verpflich-
tet ist, ihm eine betriebliche Invalidi-
tätsrente entsprechend der Satzung vom 3.
August 1961 mit Änderung vom 29. Dezember
1971 sowie den Richtlinien von Januar 1963
mit Ergänzungen vom 20. Mai 1965 und 30.
September 1975 der J -Stiftung e.V.
1843 - 1943, B , zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, aus § 3 der Richtlinien ergebe sich, daß für den Zeitpunkt der Dienstunfähigkeit allein der von der BfA festgesetzte Stichtag maßgebend sei. An diesem Tage, dem 4. Januar 1978, habe der Kläger die 20jährige Wartezeit noch nicht erfüllt gehabt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich dessen Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger kann von dem Beklagten Invaliditätsrente verlangen.
I. Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 und 2 BetrAVG hat der Beklagte den Begünstigten einer Unterstützungskasse Insolvenzschutz zu gewähren, wenn diese bei Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen des Trägerunternehmens eine nach § 1 BetrAVG unverfallbare Versorgungsanwartschaft haben. Diese Voraussetzung ist gegeben.
Der Kläger besaß bei Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der I KG eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft, die durch deren Unterstützungskasse, die J-Stiftung e.V., aufrecht zu erhalten war. Eine Versorgungsanwartschaft wird dann unverfallbar, wenn ein Arbeitnehmer, dem Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aus Anlaß seines Arbeitsverhältnisses zugesagt werden, bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses das 35. Lebensjahr vollendet hat und wenn die Versorgungszusage für ihn mindestens zehn Jahre bestanden hat. Der Kläger gehörte seit Begründung seines Arbeitsverhältnisses im Jahre 1958 zu den Versorgungsberechtigten der Unterstützungskasse. Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 30. September 1978 war er 54 Jahre alt; die Versorgungszusage bestand für ihn rund 20 Jahre.
II. Nach Eröffnung des Konkursverfahrens ist der Versorgungsfall eingetreten. § 3 Abs. 1 der Unterstützungsrichtlinien sieht vor, daß Betriebsangehörige der I eine laufende Unterstützung erhalten, wenn sie während der letzten 20 Jahre vor Eintritt in den Ruhestand ununterbrochen in den Diensten der I gestanden haben und mit deren Einvernehmen in den vorzeitigen Ruhestand treten. Beide Voraussetzungen sind erfüllt.
1. Der Kläger ist am 1. Mai 1979 in den Ruhestand getreten.
a) Nach § 3 Abs. 1 Buchst. b der Versorgungsrichtlinien werden Unterstützungen gewährt, wenn der Betriebsangehörige "im Einvernehmen" mit den I in den Ruhestand tritt. Als Grund für die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gilt die dauernde Dienstunfähigkeit. Dienstunfähig ist ein Arbeitnehmer dann, wenn er die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht mehr erbringen kann. Für die Feststellung der Dienstunfähigkeit enthält § 3 Abs. 2 der Versorgungsrichtlinien Beweisregeln. Die Dienstunfähigkeit wird festgestellt durch den Vereinsvorstand aufgrund eines vertrauensärztlichen Gutachtens. Nach der Beweisregel des § 3 Abs. 2 Satz 2 der Versorgungsrichtlinien ist in jedem Fall Dienstunfähigkeit gegeben, wenn und solange aus der gesetzlichen Sozialversicherung Rente gewährt wird. Einer Feststellung durch den Vereinsvorstand bedarf es in diesem Fall also nicht.
b) Die Versorgungsordnung enthält jedoch eine Regelungslücke. Sie regelt das Feststellungsverfahren für den Eintritt des Versorgungsfalles so, daß der Bestand des Arbeitsverhältnisses vorausgesetzt wird. Dagegen ist an Fallgestaltungen nicht gedacht worden, in denen eine Feststellung des Vereinsvorstandes unmöglich ist, weil der Arbeitnehmer inzwischen aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist, oder weil der Vereinsvorstand - wie im Falle des Konkurses - nicht mehr handlungsfähig ist. Ein solcher Fall ist hier gegeben.
Die in der Versorgungsordnung bestehende Regelungslücke ist im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu schließen. Die ergänzende Vertragsauslegung, die auch noch vom Revisionsgericht vorgenommen werden kann, hat in der Weise zu erfolgen, daß unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu ermitteln ist, wie die Beteiligten bei redlichem Verhalten die versäumte Regelung getroffen hätten, wenn ihr Fehlen erkannt worden wäre (BAG Urteil vom 2. September 1956 - 5 AZR 24/65 - AP Nr. 4 zu § 128 ZP0, zu II 3 der Gründe; Urteil vom 13. Oktober 1976 - 3 AZR 606/75 - AP Nr. 3 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Wertsicherung, zu 3 der Gründe; BGH Urteil vom 21. September 1955 - VI ZR 118/54 - LM BGB § 157 (D) Nr. 5; ähnlich Urteil vom 12. Dezember 1952 - V ZR 99/51 - Nr. 1, aa0 und Urteil vom 11. Juni 1958 - V ZR 277/56 - Nr. 10; MünchKomm-Mayer-Maly, BGB, 2. Aufl., § 157 Rz 39 mit weiterem Nachweis).
Wenn die Parteien die Regelungslücke erkannt hätten, wäre als Versorgungsfall der Invalidität vorsorglich der Zeitpunkt des Beginns der gesetzlichen Rentenzahlung bestimmt worden. Hierfür spricht, daß die Parteien in § 3 Abs. 2 Satz 2 der Versorgungsrichtlinien eine Vermutung dahin aufgestellt haben, mit Aufnahme der gesetzlichen Rentenzahlungen sei von der Dienstunfähigkeit auszugehen. Hinzu kommt weiter, daß mit Aufnahme der Rentenzahlungen der Arbeitnehmer im allgemeinen kein Interesse mehr an dem Bestand des Arbeitsverhältnisses haben wird. Sein Lebensunterhalt ist jetzt durch seine Sozialversicherung gewährleistet. Zur gleichen Zeit ist der Arbeitgeber im allgemeinen an einer schnellen Beendigung des Arbeitsverhältnisses interessiert. Er wird die Versetzung eines Arbeitnehmers in den Ruhestand, sei es im Wege der Kündigung oder eines Aufhebungsvertrages, in aller Regel dann vornehmen, wenn mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr gerechnet werden kann und die Grundversorgung des Arbeitnehmers gesichert ist.
c) Danach ist dem Beklagten nicht zuzustimmen, daß der Versorgungsfall zu dem Zeitpunkt eingetreten sei, auf den von der BfA der Versicherungsfall festgesetzt wurde. Sicherlich ist denkbar, daß eine Versorgungsordnung im Rahmen der Vertragsautonomie einen solchen Zeitpunkt für den Versorgungsfall der Invalidität wählt. Im vorliegenden Fall besteht aber für diese Auslegung kein Anhalt, da die Parteien nicht auf den Rentenversicherungsfall, sondern auf vertrauensärztliche Gutachten oder die Aufnahme der Rentenzahlung abgestellt haben. Auch stellt die BfA in aller Regel keine medizinischen Ermittlungen an, wann der Versicherungsfall eingetreten ist. Vorliegend hat sie ohne nähere Aufklärung des Krankheitsverlaufes den Zeitpunkt des ersten Herzinfarktes oder jedenfalls der auslösenden Krankheit gewählt.
2. Im Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in den Ruhestand am 1. Mai 1979 war die 20jährige Wartezeit für den Versorgungsfall der Invalidität abgelaufen. Der Kläger gehörte seit dem 1. August 1958 zu dem Kreis der Versorgungsberechtigten. Die Wartezeit endete mithin am 31. Juli 1978. Bestimmt eine betriebliche Ruhegeldordnung, daß der Versorgungsfall der Invalidität nicht schon beim Eintreten von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorliegen soll, sondern erst bei Aufnahme der Rentenzahlungen durch den gesetzlichen Sozialversicherungsträger, so kann eine vorgeschriebene Wartezeit auch von berufs- oder erwerbsunfähigen Arbeitnehmern noch erfüllt werden, bis die gesetzlichen Rentenzahlungen einsetzen. Die vom Beklagten angeschnittene Streitfrage, ob die Wartezeit auch noch nach Eintritt eines Versorgungsfalles ablaufen kann, muß nicht erörtert werden.
Dr. Dieterich Schaub Dr. Peifer
Gnade Dr. Bächle
Fundstellen
Haufe-Index 438610 |
RdA 1986, 401 |
ZIP 1986, 1485 |
ZIP 1986, 1485-1487 (LT) |
AP § 1 BetrAVG Invaliditätsrente (LT1), Nr 6 |
EzA § 1 BetrAVG, Nr 36 (LT1) |