Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Kündigungsbeschränkung. Vertragsauslegung. einzelvertragliche Zusage zur Anrechnung außertariflicher Beschäftigungszeiten
Orientierungssatz
- Typische Willenserklärungen, wie etwa vorgedruckte Anschreiben an Stellenbewerber oder Vordrucke zur Dienstzeitberechnung, unterliegen einer unbeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle.
- Ein von der Deutschen Reichsbahn verwendetes Formular mit der Überschrift “Berechnung der Dienstzeiten gemäß der Verordnung vom 28.3.1973 über die Pflichten und Rechte der Eisenbahner – Eisenbahner-Verordnung – (GBl. I Nr. 25 S. 217)” und eine darin vorgenommene Dienstzeitberechnung verfolgten ausschließlich den Zweck, die Dienstzeiten für die Erfüllung bestimmter damals geltender Voraussetzungen für besondere Vergünstigungen, Jubiläen usw., zu ermitteln. Eine individualrechtlich wirkende Anerkennung von Dienstzeiten ist damit nicht verbunden.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2; BGB § 133
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 26.08.2003; Aktenzeichen 7 Sa 85/03) |
ArbG Dresden (Urteil vom 04.12.2002; Aktenzeichen 16 Ca 3624/02) |
Tenor
- Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 26. August 2003 – 7 Sa 85/03 – aufgehoben.
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dresden vom 4. Dezember 2002 – 16 Ca 3624/02 – wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin tarifrechtlich unkündbar ist.
Die am 7. Mai 1955 geborene Klägerin war vom 14. Juli 1976 bis zum 31. Mai 1988 als Stewardess bei der Deutschen Seereederei in R.…, ab dem 1. Juni 1988 bei der Deutschen Reichsbahn – F.… S.… – beschäftigt. Seit dem 1. August 1997 war sie dem Dienstleistungszentrum Arbeit in H.… der Deutschen Bahn AG zugeordnet. Dort wurde sie als Bürohilfskraft eingesetzt. Das Arbeitsverhältnis ging zum 1. Juni 1999 auf die Beklagte über. Deren Geschäftstätigkeit erstreckte sich auf die Arbeitsvermittlung von kündigungsbeschränkten und nicht kündigungsbeschränkten Arbeitnehmern sowie Beamten. Diese hatte sie zum 1. August 2001 aufgegeben; seit dem befindet sie sich in Liquidation. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31. Dezember 2002 sowie das der anderen Arbeitnehmern, die, wie die Klägerin, Angebote auf Übermittlung in eine Transfergesellschaft bzw. zur Aufhebung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung abgelehnt hatten.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Sie zähle zu den kündigungsbeschränkten Arbeitnehmern iSv. § 20 des Tarifvertrags über die Sicherung der Einkommen und Arbeitsbedingungen für die zur DB AG übergeleiteten Arbeitnehmer (ÜTV), da sie eine Eisenbahndienstzeit von mindestens 15 Jahren aufweise und das 40. Lebensjahr vollendet habe. Bei der Berechnung der Eisenbahndienstzeit sei ihre frühere Beschäftigungszeit bei der Deutschen Seeredeerei in R.… zu berücksichtigen. Das folge jedenfalls aus einem Schreiben des F.… S.… vom 16. Juli 1987 und einer Dienstzeitberechnung der Deutschen Reichsbahn vom 1. Juni 1988.
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 17. Mai 2002, zugegangen am 29. Mai 2002, nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten, die die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung erstrebt. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Sie führt unter Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts zur Zurückweisung der Berufung der Klägerin. Die Klage ist unbegründet. Die Kündigung vom 17. Mai 2002 ist wirksam. Sie hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Dezember 2002 aufgelöst.
1. Das Arbeitsverhältnis der Parteien konnte durch ordentliche Kündigung beendet werden. Für die Klägerin gilt keine tarifliche Kündigungsbeschränkung.
a) Nach § 20 Abs. 1 ÜTV finden für Arbeitnehmer, deren ständiges Arbeitsverhältnis sich am 31. Dezember 1993 nach den Bestimmungen des LTV oder AnTV bzw. des LTV-DR oder des AnTV-DR gerichtet hat, die Kündigungsbeschränkungen iSd. § 20 Abs. 2 ÜTV Anwendung. Gemäß § 30 Abs. 3 LTV ist der Arbeiter nach einer Einsenbahndienstzeit von 15 Jahren und nach Vollendung des 40. Lebensjahres unkündbar, wenn die arbeitsvertraglich vereinbarte durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit mindestens die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit eines ständig vollbeschäftigten Arbeiters beträgt. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 LTV ist Eisenbahndienstzeit die bei der Bundesbahn bzw. Deutschen Reichsbahn nach Vollendung des 18. Lebensjahres zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist. Im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. im Zeitpunkt der Kündigung hat die Klägerin noch keine 15-jährige Beschäftigungszeit erreicht.
b) Die bei der Deutschen Seereederei zurückgelegten Zeiten seit dem 14. Juli 1976 sind im tarifvertraglichen Sinne keine Eisenbahndienstzeit.
aa) Nach ihrem Wechsel von der damaligen staatlichen “Deutschen Seereederei” zur Deutschen Reichsbahn (DR) hatte die Klägerin einen Anspruch auf Dienstzeitanrechnung unmittelbar aus dem Rahmenkollektivvertrag für die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn (RKV). In der damaligen DDR fanden Rahmenkollektivverträge für alle Beschäftigten im jeweiligen tariflichen Geltungsbereich unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu den tarifvertragsschließenden Parteien Anwendung. Unter den Voraussetzungen des Einigungsvertrages (Teil II Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14) galten Rahmenkollektivverträge nach der deutschen Wiedervereinigung weiter. Auch der RKV fand zunächst weiter Anwendung.
bb) Mit Wirkung vom 1. Juli 1991 galt der LTV-DR. Nach § 35 LTV-DR traten die Bestimmungen des RKV außer Kraft, soweit diese von den Regelungen des LTV-DR abwichen. Nach § 5 LTV-DR war hinsichtlich der Anrechnung von Vordienstzeiten geregelt, dass solche aus einer Vortätigkeit bei der Deutschen Seereederei nicht mehr angerechnet werden. Der Gesetzgeber hat in Teil II Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 die Tarifvertragsparteien ausdrücklich berechtigt, Bestimmungen bisheriger Rahmenkollektivverträge abzuändern. Darüber hinaus hatte die Klägerin zu diesem Zeitpunkt noch keinen Status der Unkündbarkeit erworben. Daher mussten die Normadressaten des Rahmenkollektivvertrages nach Abschluss des Staatsvertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 mit der Änderung des Arbeitsrechts der früheren DDR und der kraft dessen geltenden Rahmenkollektivverträge ab dem 1. Juli 1990 rechnen (vgl. BAG 13. Dezember 1995 – 4 AZR 567/94 – BAGE 82, 15). Damit konnte die Klägerin nicht auf den Fortbestand ihrer Dienstzeitanrechnung vertrauen.
c) Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts liegt auch keine individualrechtliche Anerkennung der früheren Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Seereederei vom 14. Juli 1976 bis zum 31. Mai 1988 vor. Eine solche folgt weder aus dem Schreiben vom 16. Juli 1987 unter dem Briefkopf der Deutschen Reichsbahn – F.… S.… – noch aus der Dienstzeitberechnung der Deutschen Reichsbahn vom 1. Juni 1988.
aa) In der Revisionsinstanz ist nur die Auslegung sog. typischer Willenserklärungen durch das Berufungsgericht in vollem Umfang nachprüfbar (st. Rspr. vgl. BAG 3. April 2003 – 6 AZR 163/02 –, zu II 1 der Gründe; 19. Januar 2000 – 5 AZR 637/98 – BAGE 93, 212, zu I 3b der Gründe; 16. Februar 2000 – 4 AZR 14/99 – BAGE 93, 328, zu II 3b aa der Gründe; 16. Mai 2000 – 9 AZR 245/99 – BAGE 94, 325, zu I 2b der Gründe, jeweils mwN). Sowohl das Schreiben vom 16. Juli 1987 wie auch die Dienstzeitberechnung weisen formularmäßigen Charakter auf. Die dort enthaltenen Erklärungen sind nach § 133 BGB auszulegen. Dabei ist nach dieser Vorschrift der wirkliche Wille der Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Bei der Auslegung sind alle Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die für die Frage von Bedeutung sein könnten, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war (BAG 3. April 2003 – 6 AZR 163/02 –, zu II 2 der Gründe; 26. September 2002 – 6 AZR 434/00 – AP BBiG § 10 Nr. 10 = EzA BBiG § 10 Nr. 6, zu I 3 der Gründe; 12. Juni 2002 – 10 AZR 323/01 – EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 110, zu II 1b der Gründe mwN).
bb) Mit diesen Grundsätzen steht die Auslegung des Berufungsgerichts nicht in Einklang. Dies betrifft sowohl den Inhalt des Schreibens vom 16. Juli 1987 als auch die Dienstzeitberechnung vom 1. Juni 1988.
(1) Das Schreiben der Deutschen Reichsbahn – F.… S.… – datiert vom 16. Juli 1987, während die Einstellung bei der Deutschen Reichsbahn erst knapp ein Jahr später, zum 1. Juni 1988, erfolgte. Damit kann das Schreiben wegen des fehlenden zeitlichen Zusammenhangs schon keine gestaltende Wirkung für das Arbeitsverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn haben. Ob es sich überhaupt um ein Angebot gehandelt hat, ist schon fraglich. Im Wesentlichen wurde die Klägerin nach Darlegung der im Einzelnen bezeichneten Leistungen wie ”… Hinzu kommen alle seemännischen und reichsbahnseitigen Vergünstigungen wie Devisen, Transit, Anrechnung der Vordienstzeit bei der DSR, Zusatzurlaub, zusätzliche Belohnung bis zu 3 % und freie Fahrt vom Heimatort zum Dienstort …” lediglich dazu aufgefordert, vollständige Bewerbungsunterlagen erst noch abzugeben. Jedenfalls konnte die Klägerin vor dem Hintergrund des damals geltenden § 33 RKV diese Formulierung nur als einen deklaratorischen Hinweis auf die hierdurch eröffneten Leistungen und Vergünstigungen verstehen. Das Schreiben läßt an keiner Stelle erkennen, dass der Klägerin für den Fall des Wechsels zur Deutschen Reichsbahn eine besondere Rechtsstellung verschafft werden sollte. Es wurden lediglich die ihr günstigen Regelungen benannt, die auch anderen Arbeitnehmern bei einem Wechsel zustanden. Darüber hinaus gab es zum damaligen Zeitpunkt keinen Status der ordentlichen Unkündbarkeit. Die Klägerin konnte demnach die Erklärungen aus dem Schreiben vom 16. Juli 1987 auch nicht auf einen solchen zukünftigen beziehen.
(2) Das Berufungsgericht hat zudem die Bedeutung und den Aufbau der Dienstzeitberechnung vom 1. Juni 1988 verkannt, weil es wesentliche Auslegungsgrundsätze unbeachtet ließ. Das beanstandet die Revision zu Recht. Bei der Dienstzeitberechnung handelt es sich um ein Formular, das für eine unbestimmte Zahl von Arbeitnehmern der Deutschen Reichsbahn verwendet wurde. Das Formular trägt die Überschrift “Berechnung der Dienstzeiten gemäß der Verordnung vom 28.3.1973 über die Pflichten und Rechte der Eisenbahner – Eisenbahner-Verordnung – (GBl. I Nr. 25 S. 217)”. In dieser Verordnung sind Pflichten und Rechte der Eisenbahner beschrieben. In §§ 5 bis 7 der Eisenbahner-Verordnung sind Auszeichnungen enthalten. In den §§ 8, 9 der Eisenbahner- Verordnung werden Anerkennungsprämien für treue Dienste geregelt. In § 10 der Eisenbahner-Verordnung wird ein Zusatz- und Mindesturlaub für Eisenbahner geregelt. §§ 11 bis 15 der Eisenbahner-Verordnung enthalten Bestimmungen für die Rentenversorgung. § 16 der Eisenbahner-Verordnung enthält Bestimmungen über Dienstränge, § 17 der Eisenbahner-Verordnung über die Uniform und § 18 der Eisenbahner- Verordnung über die disziplinarische Verantwortlichkeit. An keiner Stelle sind Regelungen bezüglich einer Unkündbarkeit aufgeführt. Die Dienstzeitberechnung vom 1. Juni 1988 dient allein der Ausführung der in der Eisenbahner-Verordnung vom 28. März 1973 enthaltenden Bestimmungen. Sie verfolgt damit den Zweck, die Dienstzeiten für die Erfüllung bestimmter damals geltender Voraussetzungen für besondere Vergünstigungen, Jubiläen usw. zu ermitteln. Ausweislich der Dienstzeitberechnung wird für die Klägerin die Dienstzeit vom 14. Juli 1976 bis 31. Mai 1988 unter der Überschrift unter Ziff. 2 “Anrechnungsfähige ununterbrochene Dienstzeit für die Berechnung der Versorgung und des Stichtages für treue Dienste bei der DR (RKV Kap. 9 § 33)” festgehalten und ansonsten als ersten Eintritt in den Reichsbahndienst weiterhin der 1. Juni 1988 ausgewiesen (Ziff. 1 der Dienstzeitberechnung). Das Berufungsgericht hat verkannt, dass die Ziff. 1 bis 5 aufeinander aufbauende “Arbeitsschritte” darstellen. Unter Ziff. 1 ist als erster Schritt der Eintritt in den Reichsbahndienst festgehalten. Unter Ziff. 2 werden anrechnungsfähige Dienstzeiten gemäß § 33 RKV festgehalten. Da es sich bei diesen Vordienstzeiten nicht notwendig um durchgehende Dienstzeiten handeln musste, hat der ausfüllende Mitarbeiter unter Ziff. 3 als “Zwischenergebnis” den Stichtag für die Berechnung der Dienstzeit eingetragen. Dieser ist im vorliegenden Fall identisch mit dem Dienstzeitbeginn unter Ziff. 2, könnte aber in anderen Fällen hiervon abweichen. Ziff. 3 stellt ein zusammenfassendes Ergebnis der Ziff. 1 und 2 dar. Unter Ziff. 4 wird der eigentliche Zweck der Berechnung festgehalten dergestalt, wann sich für den Arbeitnehmer hinsichtlich des Dienstjubiläums ein Vorteil ergibt, vorliegend am 13. Juli 1996 für ein zwanzigjähriges Dienstjubiläum.
2. Sonstige Bedenken gegen die Wirksamkeit der Kündigung bestehen unstreitig zwischen den Parteien nicht. Die von der Beklagten ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 KSchG. Zum 1. August 2001 hat die Beklagte ihren Geschäftsbetrieb vollständig eingestellt und die Liquidation eingeleitet.
Unterschriften
Schmidt, Dr. Armbrüster, Brühler, Hinsch, Reimann
Fundstellen
FA 2005, 253 |
ZTR 2005, 533 |
AP, 0 |
NZA-RR 2005, 672 |
NJOZ 2005, 4865 |