Entscheidungsstichwort (Thema)
Streitgegenstand. Abfindungsanspruch
Orientierungssatz
1. Der Gegenstand eines arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahrens wird durch den gestellten Antrag und dem ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt bestimmt (sog. zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff). Er erfasst alle Tatsachen, die ausgehend vom Standpunkt der Parteien bei einer natürlichen, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtung zu dem zu entscheidenden Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger dem Gericht unterbreitet hat.
2. Der Streitgegenstand wird durch das Vorbringen des Beklagten oder hierauf bezogenes eigenes Verteidigungsvorbringen des Klägers nicht beeinflusst.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 4 S. 1, § 112 Abs. 1 S. 3; EStG § 38 Abs. 2; SGB IV § 28g
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 24. November 2016 – 11 Sa 1767/15 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 29. September 2015 – 2 Ca 752/15 – abgeändert und die Klage abgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine Zahlung nach einem Sozialplan.
Der im April 1952 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und war bei der Beklagten an deren Produktionsstandort B beschäftigt. Wegen dessen beabsichtigter Schließung vereinbarte die Beklagte am 12. Juni 2014 mit der zuständigen Gewerkschaft einen Sozialtarifvertrag (STV) und einigte sich am 25. Juni 2014 mit dem Betriebsrat auf einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan (SP). Dieser erstreckt nach seiner Nr. 1 den Inhalt des in Abschn. C. des STV geregelten Sozialplans auf die Arbeitsverhältnisse aller Betriebsangehörigen. Nach Abschn. H. des STV werden dessen Abfindungsansprüche auf solche nach einem betrieblichen Sozialplan angerechnet und Doppelansprüche ausgeschlossen.
Beide Vereinbarungen sehen für Arbeitnehmer der Jahrgänge 1949 bis 1959 ein individuelles Angebot zum Ausscheiden zum 31. Dezember 2014 gegen Zahlung einer Abfindung vor. Das Abfindungsangebot ist gemäß Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV so zu bemessen, dass es „unter Anrechnung von Arbeitslosengeld 1 und Bezügen aus der O Altersversorgung” ab dem 60. Lebensjahr eine Absicherung iHv. 80 % des zuletzt bezogenen Nettomonatseinkommens im Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente sicherstellt (sog. „Nettoabsicherung”). Der sich für den abzusichernden Zeitraum ergebende Gesamtbetrag zuzüglich der Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung ist unter Zuhilfenahme der dem Arbeitgeber bekannten und angezeigten Steuermerkmale auf eine Bruttosumme hochzurechnen (sog. „Bruttoisierung”). Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 4.1 und 4.6 STV legen fest, dass es sich bei dem mit Abschluss des Aufhebungsvertrags entstehenden Abfindungsanspruch um einen Bruttobetrag handelt, der unter Beachtung der gesetzlichen Regelungen mit der Gehaltsabrechnung für Januar 2015 abzurechnen und auszuzahlen ist.
Der Berechnung des Abfindungsangebots legte die Beklagte den 1. September 2012 zugrunde. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Kläger erstmals eine vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen beziehen. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Dezember 2014 endete, zahlte die Beklagte lediglich eine Bruttoabfindung gemäß Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.3a STV iHv. 7.000,00 Euro wegen einer mehr als 24-jährigen Betriebszugehörigkeit.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV benachteilige ihn wegen seiner Schwerbehinderung. Nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer des identischen Geburtsjahrgangs erhielten eine höhere Abfindung, da sie drei Jahre später als er erstmals in die gesetzliche Rente wechseln könnten. Zur Vermeidung einer mittelbaren Diskriminierung wegen Behinderung sei er nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 6. Dezember 2012 (– C-152/11 – [Odar]) wie ein nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer zu behandeln. Demzufolge belaufe sich sein monatlicher Nettoabsicherungsbedarf in der Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 30. April 2015 auf 1.439,66 Euro zuzüglich Aufwendungspauschale für freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung iHv. 200,00 Euro.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 6.558,64 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2015 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass „die Zahlungsverurteilung ohne den Zusatz ‚netto’ erfolgt”. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht die begehrte Zahlung einer Nettoabsicherung weder nach dem SP noch nach dem STV zu. Dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.
I. Die Klage ist auf Auszahlung der Nettoabsicherung iSv. Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV gerichtet.
1. Nach dem für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren geltenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den dort gestellten Antrag (Klageantrag) und dem ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt. Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet hat (BAG 26. Juni 2013 – 5 AZR 428/12 – Rn. 16). Das Vorbringen des Beklagten oder eigenes Verteidigungsvorbringen des Klägers gegenüber dem Beklagtenvortrag verändert den mit Antrag und Klagevorbringen festgelegten Streitgegenstand nicht (BAG 18. November 2014 – 1 AZR 257/13 – Rn. 15, BAGE 150, 50 mwN).
2. Mit seinem Klageantrag hat der Kläger ausdrücklich eine Nettozahlung verlangt. In Verbindung mit dem von ihm geschilderten Lebenssachverhalt ergibt sich, dass Streitgegenstand die Nettoabsicherung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV ist und nicht eine nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 4, Ziff. 4 STV zu berechnende Bruttoabfindung. Zwar führt der Kläger zunächst aus, dass er einen Anspruch auf Zahlung der ihm bei diskriminierungsfreier Auslegung des SP und des STV zustehenden Abfindung geltend mache. Bei der näheren Konkretisierung des Klagebegehrens beschränkt er sich aber auf die Berechnung eines Nettoabsicherungsbedarfs für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 30. April 2015. Auf diesen Betrag beschränkte er die Klageforderung, weil es Sache der Beklagten sei, einen Anspruch auf Nettoabsicherung „zu bruttoisieren”, also den Bruttobetrag zu berechnen und unter Berücksichtigung der entsprechenden Abzüge den verbleibenden Nettobetrag an ihn auszuzahlen. Danach ist Gegenstand der Klage die im Einzelnen bezifferte Nettoabsicherung für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 30. April 2015. Entgegen der im Revisionsverfahren geäußerten Auffassung des Klägers dient diese nicht bloß der Berechnung einer Bruttoforderung, sondern in ihr erschöpft sich die Klageforderung.
3. Das auf eine Nettoabsicherung gerichtete Klagebegehren konnte das Landesarbeitsgericht nicht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 17. Februar 2016 – 5 AZN 981/15 – Rn. 5, BAGE 154, 116) in einen Bruttozahlbetrag gleicher Höhe umwandeln. Durch das Streichen des Zusatzes „netto” hat das Landesarbeitsgericht nicht bloß verdeutlicht, was von Gesetzes wegen hinsichtlich der einen Arbeitnehmer treffenden Leistungspflicht für Steuer- und/oder Sozialabgaben gilt (§ 38 Abs. 2 EStG, § 28g SGB IV). Vielmehr hat es den Streitgegenstand ausgewechselt und auf eine Sozialplanforderung erkannt, die der Kläger nicht verlangt hat und die auch der Höhe nach nicht dem sich nach einer Nettoabsicherung von 6.558,64 Euro errechnenden Bruttobetrag entspricht.
II. Der Kläger kann nach Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV keine (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung beanspruchen.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind Sozialpläne als Betriebsvereinbarungen eigener Art wegen ihrer normativen Wirkungen (§ 77 Abs. 4 Satz 1, § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) wie Tarifverträge auszulegen. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Bestimmung an. Darüber hinaus sind Sinn und Zweck der Regelung von besonderer Bedeutung. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt (BAG 26. September 2017 – 1 AZR 137/15 – Rn. 11 mwN auf BAG 17. November 2015 – 1 AZR 881/13 – Rn. 13 mwN). Dieser Auslegungsgrundsatz gilt auch, wenn die Betriebsparteien tarifliche Regelungen in eine Betriebsvereinbarung einbeziehen (BAG 26. September 2017 – 1 AZR 137/15 – Rn. 12).
2. Gemäß Ziff. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV wird das individuelle Abfindungsangebot so bemessen, dass es für einen bestimmten Zeitraum bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente eine Absicherung iHv. 80 % des zuletzt bezogenen und sich nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.5 Abs. 1 STV errechnenden Nettomonatseinkommens sicherstellt. Der aus dem gesamten Zeitraum ermittelte 80 %ige Nettobedarf sowie die Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 3 STV werden unter Zuhilfenahme der der Beklagten bekannten und angezeigten Steuermerkmale nach Maßgabe der Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 4 STV auf einen Bruttoabfindungsbetrag hochgerechnet. Grundlage dafür sind das zu erwartende steuerpflichtige Bruttoarbeitsentgelt im Jahr 2015 in der Transfergesellschaft und die bekannten Steuerparameter des jeweiligen Mitarbeiters. Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 4 STV regelt das Entstehen sowie die Fälligkeit des Abfindungsanspruchs. Die Regelung bestimmt weiterhin, dass es sich bei den Abfindungsbeträgen um Bruttobeträge handelt und etwaige Steuern und Sozialabgaben von den Arbeitnehmern entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen zu tragen sind.
3. Hiernach vermittelt der SP iVm. dem STV keinen Anspruch auf (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung. Sowohl nach seinem Wortlaut als auch nach seiner Systematik handelt es sich bei der Nettoabsicherung lediglich um eine Rechengröße, mit deren Hilfe und auf deren Grundlage eine dem Kläger anzubietende Bruttoabfindung zu berechnen ist. Erst diese unterliegt der Sozialversicherungs- und individuellen Steuerpflicht. Zwangsläufig ist der danach verbleibende Zahlbetrag dividiert durch die Anzahl der abzusichernden Monate rechnerisch nicht identisch mit dem monatlichen (Netto-)Absicherungsbedarf.
III. Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend, soweit der Kläger seinen Anspruch allein auf Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV stützt. Dieser vermittelt keine weitergehenden Ansprüche und schließt zudem eine Doppelzahlung bei identischen Ansprüchen aus (Abschn. H. Ziff. 2 STV).
IV. Ungeachtet dessen besteht bei dem Kläger auch unter Zugrundelegung seiner Rechtsansicht zur Berechnung der Nettoabsicherung kein zusätzlicher Absicherungsbedarf. Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete am 31. Dezember 2014. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hätte er als nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer erstmals zum 1. Mai 2015 gesetzliche Altersrente beanspruchen können. Schon dieser Zeitabschnitt liegt außerhalb des nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV absicherungsfähigen Zeitraums, der erst mit dem 1. Januar 2016 beginnt. Unabhängig davon hätte auch kein Absicherungsbedarf bestanden. Das nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV anzurechnende Arbeitslosengeld 1 iHv. 1.512,60 Euro und die ebenfalls anzurechnenden Bezüge aus der O Altersversorgung iHv. 432,85 Euro monatlich übersteigen den vom Landesarbeitsgericht auf Vortrag des Klägers festgestellten monatlichen Absicherungsbetrag iHv. 1.872,51 Euro.
Unterschriften
Schmidt, K. Schmidt, Heinkel, Sibylle Spoo, Ralf Stemmer
Fundstellen
Haufe-Index 11531851 |
BB 2018, 691 |