Entscheidungsstichwort (Thema)
Restitutionsklage. Wiederaufnahme der Ermittlungen nach staatsanwaltschaftlicher Einstellungsverfügung und anschließende strafgerichtliche Verurteilung als Restitutionsgrund. nachträglicher Urkundenbeweis
Orientierungssatz
1. Ein Strafurteil, das nach rechtskräftiger Beendigung eines Kündigungsrechtsstreits ergangen ist, zählt nicht zu den Urkunden, die nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO eine Restitutionsklage begründen könnten.
2. Ein Urteil, das die Kündigungsschutzklage eines Arbeitnehmers mit der Begründung abweist, die der Kündigung zugrunde liegende Strafanzeige entbehre einer Berechtigung, und das sich insoweit maßgeblich auf eine Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO stützt, unterliegt nicht deshalb der Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 6 ZPO, weil die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nach rechtskräftigem Abschluss des Kündigungsrechtsstreits wieder aufgenommen wurden und zu einer – rechtskräftigen – strafgerichtlichen Verurteilung geführt haben.
Normenkette
ZPO §§ 580, 561, 578 Abs. 1, § 580 Nrn. 4, 6, 7 Buchst. b, § 581 Abs. 1, § 586 Abs. 1-2, § 589 Abs. 1
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 11.02.2010; Aktenzeichen 6 (5) Sa 224/09) |
ArbG Chemnitz (Urteil vom 11.03.2004; Aktenzeichen 12 Ca 5239/03) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 11. Februar 2010 – 6 (5) Sa 224/09 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfahrens im Wege der Restitutionsklage.
Rz. 2
Der 1962 geborene Kläger war bei dem Beklagten seit Mai 2001 als EDV-Betreuer tätig. Das Arbeitsverhältnis der Parteien war zunächst bis zum 30. April 2002 und danach bis zum 30. April 2005 befristet. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2003 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. November 2003. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2003 kündigte er – vorsorglich – außerordentlich fristlos.
Rz. 3
Die gegen beide Kündigungen gerichtete Kündigungsschutzklage wies das Landesarbeitsgericht durch Urteil vom 19. Januar 2005 ab. Zur Begründung führte es aus, das Arbeitsverhältnis sei durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden. Der Kläger habe pflichtwidrig Strafanzeige gegen den – damaligen – Vorstandsvorsitzenden des Beklagten erstattet. Mit zwei Anzeigen vom 13. August 2003 habe er nicht nur staatsbürgerliche Pflichten wahrgenommen. Vielmehr sei es ihm vornehmlich darum gegangen, dem Vorstandsvorsitzenden, mit dem er im Streit über den Ausgleich von Überstunden gestanden habe, Schaden zuzufügen. Eine Berechtigung der Anzeigen sei nicht feststellbar. Ein gegen den Vorstandsvorsitzenden wegen des Vorwurfs der Untreue eingeleitetes, zunächst nach § 170 Abs. 2 StPO eingestelltes Ermittlungsverfahren (– 350 Js 42379/02 –) sei zwar nach dem Anruf des Klägers bei der Staatsanwaltschaft vom 13. August 2003 und Übermittlung diverser vertraulicher Unterliegen wieder aufgenommen worden. Zwischenzeitlich sei es aber erneut eingestellt worden. Ein weiteres Ermittlungsverfahren (– 350 Js 41235/03 –) sei bis dato ergebnislos verlaufen. Angesichts dessen sei dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar. Die Revision gegen sein Urteil ließ das Landesarbeitsgericht nicht zu. Dagegen erhob der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde, die das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 23. August 2005 (– 2 AZN 632/05 –) als unzulässig verwarf. Eine Verfassungsbeschwerde des Klägers wurde gemäß Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Oktober 2005 (– 1 BvR 2076/05 –) nicht zur Entscheidung angenommen.
Rz. 4
Ende des Jahres 2005 wurde das zweite gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Beklagten geführte Ermittlungsverfahren teilweise eingestellt. Auf Beschwerde des Klägers wurden die Ermittlungen Anfang 2006 wieder aufgenommen und unter neuem Aktenzeichen (– 350 Js 8379/06 –) fortgeführt. Am 7. Dezember 2007 verurteilte das Amtsgericht Chemnitz (– 6 Ds 350 Js 8379/06 –; verbundenes Verfahren: – 6 Cs 350 Js 41235/03 –) den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden wegen versuchter veruntreuender Unterschlagung und versuchter bzw. vollendeter Nötigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 50,00 Euro. Mit Urteil vom 3. April 2009 (– 6 Ns 350 Js 8379/06 –) verwarf das Landgericht Chemnitz dessen Berufung unter Herabsetzung der Strafe auf 120 Tagessätze.
Rz. 5
Am 30. April 2009 hat der Kläger beim Landesarbeitsgericht Restitutionsklage mit dem Ziel erhoben, das rechtskräftige Urteil vom 19. Januar 2005 zu beseitigen. Er hat die Auffassung vertreten, er könne nunmehr mittels Urkunden – der Strafurteile – belegen, dass er im Kündigungszeitpunkt berechtigterweise von einem strafbaren Verhalten des Vorstandsvorsitzenden ausgegangen sei und keineswegs pflichtwidrig Anzeige erstattet habe. Darüber hinaus stehe aufgrund des landgerichtlichen Urteils rechtskräftig fest, dass das Ermittlungsverfahren 350 Js 41235/03 nicht ergebnislos verlaufen sei und die Ermittlungen im Verfahren 350 Js 42379/02 wieder aufgenommen worden seien. Letzteres belegten auch die Akten der Staatsanwaltschaft.
Rz. 6
Der Kläger hat beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 – 5 (10) Sa 313/04 – aufzuheben und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung vom 21. Oktober 2003 noch durch die Kündigung vom 15. Dezember 2003 aufgelöst worden ist.
Rz. 7
Der Beklagte hat – sinngemäß – beantragt, die Restitutionsklage abzuweisen, hilfsweise, die Kündigungsschutzklage abzuweisen, hilfsweise dazu, das Arbeitsverhältnis der Parteien gegen Zahlung einer Abfindung – deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, allerdings einen Betrag von 1.000,00 Euro nicht übersteigen sollte – zum 30. November 2003 aufzulösen. Er hat die Auffassung vertreten, die Restitutionsklage sei unzulässig. Sie sei zumindest unbegründet; ein Restitutionsgrund liege nicht vor.
Rz. 8
Der Kläger hat beantragt, den Auflösungsantrag abzuweisen.
Rz. 9
Das Landesarbeitsgericht hat die Restitutionsklage abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 10
Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Restitutionsklage (§ 578 Abs. 1 ZPO iVm. § 580 ZPO) bleibt im Ergebnis erfolglos.
Rz. 11
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Restitutionsklage sei bereits unzulässig – ohne dies im Tenor durch ihre Verwerfung (§ 589 Abs. 1 Satz 2 ZPO) auszudrücken. Es fehle an der schlüssigen Darlegung eines Restitutionsgrundes. Dem folgt der Senat nicht. Die Restitutionsklage ist zulässig.
Rz. 12
1. Gemäß § 79 Satz 1 ArbGG iVm. § 589 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist von Amts wegen zu prüfen, ob die Restitutionsklage an sich statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist erhoben worden ist. Diese Voraussetzungen, deren Überprüfung auch noch in der Revisionsinstanz vorzunehmen ist (BAG 25. November 1980 – 6 AZR 210/80 – zu I der Gründe, BAGE 34, 275), sind erfüllt.
Rz. 13
a) Die Restitutionsklage ist an sich statthaft. Sie richtet sich gegen das rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005, durch das der Kläger beschwert ist (§ 578 Abs. 1 ZPO).
Rz. 14
b) Die Restitutionsklage ist rechtzeitig erhoben worden. Sie ist, wie nach § 586 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO erforderlich, vor Ablauf der Notfrist von einem Monat nach Kenntnis des Klägers von dem behaupteten Restitutionsgrund und nicht später als fünf Jahre nach der Rechtskraft des Urteils eingelegt worden.
Rz. 15
aa) Der Kläger stützt seine Anfechtung im Wesentlichen auf das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 3. April 2009 und auf ihm im Zusammenhang mit dessen Verkündung bekannt gewordene Tatsachen. Die Restitutionsklage ist am 30. April 2009 beim zuständigen Landesarbeitsgericht (§ 584 Abs. 1 Alt. 2 ZPO) eingegangen. Die Zustellung an den Beklagten erfolgte am 13. Mai 2009 und damit “demnächst” iSv. § 167 ZPO (vgl. BGH 10. Februar 2011 – VII ZR 185/07 – Rn. 8, NJW 2011, 1227).
Rz. 16
bb) Der Einhaltung der Monatsfrist des § 586 Abs. 1 ZPO steht nicht entgegen, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Beklagten seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts, soweit er wegen versuchter Nötigung verurteilt worden war, schon vor Verkündung des landgerichtlichen Urteils zurückgenommen hatte. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Umstand dem Kläger vor dem 3. April 2009 bekannt geworden wäre, liegen nicht vor.
Rz. 17
cc) Die Restitutionsklage wahrt die fünfjährige Ausschlussfrist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 ist erst mit Zustellung des die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zurückweisenden Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2005 rechtskräftig geworden (vgl. BAG 26. November 2009 – 2 AZR 185/08 – Rn. 12, BAGE 132, 293; BGH 19. Oktober 2005 – VIII ZR 217/04 – Rn. 8, BGHZ 164, 347). Die Zustellung erfolgte am 7. September 2005.
Rz. 18
2. Zur Zulässigkeit der Restitutionsklage gehört die Darlegung eines gesetzlichen Restitutionsgrundes (BAG 20. Juni 1958 – 2 AZR 231/55 – zu II 1c der Gründe, BAGE 6, 95). Der Restitutionskläger muss, um dieser Anforderung zu genügen, einen Anfechtungsgrund iSv. § 580 ZPO nachvollziehbar behaupten. Ob er mit dem geltend gemachten Grund durchzudringen vermag, ist dagegen eine Frage der Begründetheit der Restitutionsklage (BAG 22. Januar 1998 – 2 AZR 455/97 – zu II 2a der Gründe, AP ArbGG 1979 § 79 Nr. 3 = EzA ZPO § 580 Nr. 3; BGH 6. Juli 1979 – I ZR 135/77 – zu II 1 der Gründe, NJW 1980, 1000). Diesen Voraussetzungen wird das Vorbringen des Klägers insoweit gerecht, wie der Anfechtungsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO angesprochen ist.
Rz. 19
a) Unzureichend ist das Vorbringen des Klägers, soweit dieser sich auf eine Anfechtung nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO stützt. Das hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei erkannt.
Rz. 20
aa) Gemäß § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn die Partei eine “andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde”. Dazu muss die Urkunde zu einem Zeitpunkt errichtet sein, in dem sie in dem früheren Verfahren noch hätte geltend gemacht werden können. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO findet grundsätzlich nur auf solche Urkunden Anwendung, die zum Zeitpunkt des früheren Verfahrens bereits existent waren (BAG 22. Januar 1998 – 2 AZR 455/97 – zu II 2c der Gründe, AP ArbGG 1979 § 79 Nr. 3 = EzA ZPO § 580 Nr. 3). Um solche, im Zeitpunkt des früheren Verfahrens bereits existente Urkunden handelt es sich bei den Strafurteilen nach dem eigenen Vorbringen des Klägers nicht.
Rz. 21
bb) Ausnahmsweise sind auch nachträglich errichtete Urkunden als Restitutionsgrund anzuerkennen. Eine solche Ausnahme kommt für nachträglich errichtete Personenstandsurkunden, etwa eine Geburtsurkunde (BGH 28. Mai 1951 – IV ZR 6/50 – BGHZ 2, 245), oder den Bescheid des Versorgungsamts in Betracht, mit dem nach Rechtskraft eines die Kündigungsschutzklage abweisenden Urteils die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zum Kündigungszeitpunkt festgestellt wird (BAG 15. August 1984 – 7 AZR 558/82 – zu I 5b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO § 580 Nr. 2). Die Anerkennung dieser Ausnahmetatbestände beruht darauf, dass es sich bei den bezeichneten Urkunden um solche handelt, die ihrer Natur nach nicht in zeitlichem Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden können und die deshalb, wenn sie – später – errichtet werden, notwendig Tatsachen beweisen, die einer zurückliegenden Zeit angehören (BAG 15. August 1984 – 7 AZR 558/82 – aaO; BGH 6. Juli 1979 – I ZR 135/77 – zu III der Gründe, NJW 1980, 1000). Für einen erst nachträglich errichteten Strafbefehl oder ein nachträglich ergangenes Strafurteil treffen diese Überlegungen nicht in vergleichbarer Weise zu (BAG 22. Januar 1998 – 2 AZR 455/97 – AP ArbGG 1979 § 79 Nr. 3 = EzA ZPO § 580 Nr. 3; BGH 7. November 1990 – IV ZR 218/89 – zu 2 b der Gründe, NJW-RR 1991, 380; 8. Februar 1984 – IVa ZR 203/81 – VersR 1984, 453; 6. Juli 1979 – I ZR 135/77 – aaO; für ein nachträglich ergangenes Urteil des Disziplinargerichts: BVerwG 27. Januar 1994 – 2 C 12.92 – BVerwGE 95, 86). Der Kläger legt nicht dar, weshalb gleichwohl im Streitfall von einem Ausnahmetatbestand auszugehen sein soll.
Rz. 22
b) Der Kläger hat einen Restitutionsgrund ausreichend schlüssig behauptet, soweit sein Vorbringen auf eine Anfechtung nach § 580 Nr. 6 ZPO zielt.
Rz. 23
aa) Nach § 580 Nr. 6 ZPO ist eine Restitutionsklage statthaft, wenn das Urteil ua. eines ordentlichen Gerichts, auf welches das anzufechtende Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist. Der Kläger hat sinngemäß die Auffassung vertreten, die Vorschrift sei auf die mit Erlass des landgerichtlichen Strafurteils entstandene Konstellation zur Anwendung zu bringen. Das Landesarbeitsgericht habe – im Ausgangsverfahren – seine die Kündigungsschutzklage abweisende Entscheidung maßgeblich auf den ergebnislosen Verlauf der Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden gegründet und dabei insbesondere auf die Einstellung des Verfahrens 350 Js 42379/02 abgestellt. Später seien die Ermittlungen jedoch fortgeführt worden und hätten zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang vorgebracht, ihm sei ein Grund erwachsen, der den Anforderungen des § 580 Nr. 6 ZPO entspreche. Darin liegt ein den Zulässigkeitsanforderungen genügender Vortrag. Ob die Auffassung des Klägers – zumindest bei extensiver Auslegung des Anfechtungsgrundes – sachlich zutrifft, ist im Rahmen der Begründetheit zu klären (vgl. BAG 20. Juni 1958 – 2 AZR 231/55 – zu II 1c der Gründe, BAGE 6, 95).
Rz. 24
bb) Einer Berufung des Klägers auf den Anfechtungsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO steht nicht entgegen, dass er in seiner Klageschrift ausdrücklich nur die Regelung des § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO angeführt hat. Nach § 588 Abs. 1 Nr. 1 ZPO soll zwar die Bezeichnung des Anfechtungsgrundes bereits in der Klageschrift enthalten sein. Das erfordert aber nicht eine numerisch zutreffende Benennung einer der gesetzlichen Alternativen, sondern die Angabe von Tatsachen, die sich einer der Alternativen jedenfalls inhaltlich zuordnen lassen. Im Übrigen ist selbst dies keine unabdingbare prozessuale Voraussetzung einer Restitutionsklage. Die für die Schlüssigkeit der Klage erforderlichen Angaben können grundsätzlich noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nachgeholt werden (vgl. Musielak ZPO 8. Aufl. § 588 Rn. 1, 2; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 586 Rn. 6).
Rz. 25
3. Der Kläger war ohne sein Verschulden außerstande, den behaupteten Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen (§ 582 ZPO). Die strafgerichtliche Verurteilung, auf die er seine Klage stützt, erfolgte erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung im Kündigungsschutzprozess. Dem Kläger kann auch nicht entgegengehalten werden, er habe es versäumt, die Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO zu beantragen. Dazu war er nicht gehalten (vgl. BAG 15. August 1984 – 7 AZR 558/82 – zu I 4b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO § 580 Nr. 2; 25. November 1980 – 6 AZR 210/80 – zu II 1 der Gründe, BAGE 34, 275).
Rz. 26
II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich im Ergebnis gleichwohl als zutreffend dar (§ 561 ZPO). Die Restitutionsklage ist unbegründet. § 580 Nr. 6 ZPO greift nicht ein. Andere Anfechtungsgründe liegen nicht vor.
Rz. 27
1. Die Voraussetzungen einer Restitution nach § 580 Nr. 6 ZPO liegen nicht vor.
Rz. 28
a) Eine Wiederaufnahme des Ursprungsverfahrens setzt nach dieser Bestimmung dreierlei voraus: (erstens) ein präjudizielles Urteil, auf dem (zweitens) das mit der Restitutionsklage angegriffene Urteil beruht, und (drittens) ein weiteres – rechtskräftiges – Urteil, durch das das präjudizielle Urteil aufgehoben wurde (BAG 17. Juni 1998 – 2 AZR 519/97 – zu II 1 der Gründe; 25. November 1980 – 6 AZR 210/80 – zu II 2 der Gründe, BAGE 34, 275; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 580 Nr. 13; Musielak ZPO 8. Aufl. § 580 Rn. 12). Die gegenteilige Auffassung des Landesarbeitsgerichts, eine Restitutionsklage könne nur Erfolg haben, wenn das mit ihr angegriffene Urteil durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben worden sei, widerspricht dem eindeutigen Wortlaut des § 580 Nr. 6 ZPO und würde eine Restitution unnötig machen.
Rz. 29
b) Im Streitfall liegen nur zwei Urteile vor: das im Ausgangsverfahren ergangene Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 und – je nach Gegenstand der Verurteilung – das rechtskräftige Strafurteil des Landgerichts Chemnitz vom 3. April 2009 bzw. das teilweise in Rechtskraft erwachsene Urteil des Amtsgerichts Chemnitz vom 7. Dezember 2007. Das angegriffene Urteil gründet nicht auf ein anderes – präjudizielles – Urteil, sondern auf den – seinerzeit – ergebnislosen Verlauf zweier Ermittlungsverfahren und eine damit im Zusammenhang stehende Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft. Diese ist kein Urteil. Eine direkte Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO scheidet damit aus.
Rz. 30
c) § 580 Nr. 6 ZPO ist nicht entsprechend anzuwenden. Eine staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügung nach § 170 Abs. 2 StPO und erst recht der “ergebnislose” Verlauf eines Ermittlungsverfahrens stehen einem präjudiziellen “Urteil” im Sinne der Regelung nicht gleich.
Rz. 31
aa) Der Wiederaufnahmegrund des § 580 Nr. 6 ZPO findet, wie alle übrigen Restitutionsgründe, seine Berechtigung in der Notwendigkeit, das Vertrauen in die Rechtspflege zu sichern und die Autorität der Gerichte zu wahren (BAG 15. August 1984 – 7 AZR 558/82 – zu I 5b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO § 580 Nr. 2). Die in § 580 ZPO geregelten Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass die Fehlerhaftigkeit des vorangehenden Urteils nachträglich evident geworden ist und die materielle Gerechtigkeit eine Aufhebung dieses Urteils verlangt. Sie sind zwar trotz ihres Ausnahmecharakters grundsätzlich einer erweiternden Auslegung zugänglich (vgl. BAG 15. August 1984 – 7 AZR 558/82 – aaO; BFH 27. September 1977 – VII K 1/76 – BFHE 123, 310). Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, einen Widerstreit zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit einerseits und der Forderung nach materieller Gerechtigkeit andererseits – Grundsätzen, die beide aus dem Rechtsstaatsprinzip folgen – zum Ausgleich zu bringen (BVerfG 19. Oktober 2006 – 2 BvR 1486/06 – zu 1 der Gründe, NVwZ 2007, 77; 8. November 1967 – 1 BvR 60/66 – zu B II 2 der Gründe, BVerfGE 22, 322; vgl. ferner BAG 28. Januar 2010 – 2 AZR 985/08 – Rn. 33, BAGE 133, 149; BVerwG 24. Juni 1994 – 6 B 29.93 – Buchholz 330 ZPO § 580 Nr. 4). Mit Rücksicht auf die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) kann eine analoge Anwendung der Anfechtungsgründe des § 580 ZPO nur in engen Grenzen in Betracht kommen.
Rz. 32
bb) Eine analoge Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO wird dementsprechend befürwortet mit Blick auf solche Entscheidungen, die ihrer Bedeutung nach einem Urteil gleichkommen und (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 69. Aufl. § 580 Rn. 9; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 580 Rn. 13). In diesem Sinne wurde einem Urteil gleichgestellt etwa ein Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO, der vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden war (vgl. BGH 23. November 2006 – IX ZR 141/04 – MDR 2007, 600). Auch die Aufhebung eines Schiedsspruchs (§ 1055 ZPO) kann einen Restitutionsgrund iSv. § 580 Nr. 6 ZPO bilden (BGH 17. Januar 2008 – III ZR 320/06 – Rn. 13, MDR 2008, 460).
Rz. 33
cc) Als Restitutionsgrund iSv. Nr. 6 kommt zudem die Aufhebung eines Verwaltungsakts in Betracht, auf den das mit der Restitutionsklage angegriffene Urteil gegründet ist (statt vieler: Musielak ZPO 8. Aufl. § 580 Rn. 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPO 17. Aufl. § 160 Rn. 20; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 580 Rn. 13; offengelassen von BGH 21. Januar 1988 – III ZR 252/86 – zu 2 a der Gründe, BGHZ 103, 121). Im Schrifttum bestehen dabei unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Anforderungen an das Zustandekommen und den Inhalt eines solchen Verwaltungsakts zu stellen sind (Haueisen NJW 1965, 1214; MünchKommZPO/Braun 3. Aufl. § 580 Rn. 37, 38 mwN). Das Bundesarbeitsgericht geht vom Vorliegen eines Restitutionsgrundes aus, wenn ein Verwaltungsakt, der Wirksamkeitsvoraussetzung für eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung ist – wie gemäß § 85 SGB IX die vorherige Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung eines Schwerbehinderten –, durch Urteil aufgehoben wird und hierdurch die Grundlage für eine arbeitsgerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der Willenserklärung entfällt (BAG 17. Juni 1998 – 2 AZR 519/97 – zu II 1 der Gründe). Dies beruht auf dem Gedanken der Einheit der rechtsprechenden Gewalt. Divergierende Entscheidungen der verschiedenen Zweige der Gerichtsbarkeit sollen vermieden werden. § 580 Nr. 6 ZPO drückt seit der Novellierung der Zivilprozessordnung im Jahre 1933 (RGBl. I S. 783), die den Restitutionsgrund der Nr. 6 neben strafgerichtlichen Urteilen auf die dort weiter genannten Entscheidungen erstreckt hat, den Grundsatz aus, es müssten Urteile trotz ihrer Rechtskraft angegriffen werden können, wenn ihre Richtigkeit so sehr in Frage steht, dass es nicht angeht, dies auf sich beruhen zu lassen. Die Restitutionsklage soll verhindern, dass rechtskräftige Urteile nicht mehr überprüft werden können, obwohl ihre Grundlagen für jedermann erkennbar in einer für das allgemeine Rechtsempfinden unerträglichen Weise erschüttert sind. Dieser Grundsatz verlangt Geltung auch für einen Verwaltungsakt, von dem die Wirksamkeit einer privaten Willenserklärung abhängt (BAG 17. Juni 1998 – 2 AZR 519/97 – aaO; 25. November 1980 – 6 AZR 210/80 – zu II 2b der Gründe, BAGE 34, 275).
Rz. 34
dd) Der “ergebnislose Verlauf” eines Ermittlungsverfahrens, auf den sich das angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 ua. stützt, kann solchen Fällen nicht gleichgestellt werden. Dies gilt selbst dann, wenn das Nichtbetreiben eines Ermittlungsverfahrens auf einer bewussten Entscheidung der Staatsanwaltschaft beruhen sollte. Ungeachtet ihrer Zulässigkeit fehlt einer solchen “Entscheidung” jedwede Förmlichkeit und die Fähigkeit, in Bestands- oder gar Rechtskraft zu erwachsen, wie sie für eine “urteilsgleiche” Entscheidung iSv. § 580 Nr. 6 ZPO zwingend zu verlangen ist.
Rz. 35
ee) Die förmliche Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 ZPO stellt ebenso wenig eine “urteilsgleiche” Entscheidung iSv. § 580 Nr. 6 ZPO dar. Sie gibt lediglich das rechtliche Ergebnis der Ermittlungen zu einem bestimmten Stand wieder und beruht auf einer negativen Prognose der Staatsanwaltschaft darüber, ob sie nach dem aktuellen Sachstand am Ende einer Hauptverhandlung zum Antrag auf Verurteilung gelangen wird. Eine Einstellung ist zudem aus Gründen der Opportunität möglich. Ihr kommt keinerlei formelle Bindung zu. Eine Wiederaufnahme der Ermittlungen oder eine Anklageerhebung ist nicht an das Vorliegen äußerer Umstände – etwa das Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel – gebunden, sondern ist jederzeit möglich. Es genügt die andere Beurteilung der rechtlichen oder tatsächlichen Lage durch einen anderen oder auch den bisherigen Dezernenten (Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 170 Rn. 50 mwN). Ein Vertrauen auf den Bestand der Einstellungsverfügung ist demnach nicht berechtigt. Auch irgendeine materielle Rechtskraftwirkung scheidet aus; insbesondere geht mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO kein Strafklageverbrauch einher (BAG 5. April 2001 – 2 AZR 217/00 – zu II 2c der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 34 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 10; 20. August 1997 – 2 AZR 620/96 – zu II 1c der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 27 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7). Mit ihr ist keine Aussage darüber verbunden, ob Gründe für eine vorausgegangene Anzeigenerstattung vorlagen. Soweit Arbeitsgerichte mit denselben Fragen befasst sind, kann die Einstellungsverfügung allenfalls eine Entscheidungshilfe bieten; die tatsächlichen und rechtlichen Umstände sind von den Gerichten für Arbeitssachen im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht selbständig auf ihre Wahrheit und Richtigkeit hin zu prüfen. In der Wiederaufnahme der Ermittlungen und einem nachfolgenden, zur Verurteilung führenden Strafurteil liegt deshalb keine “rechtskräftige”, ex tunc wirkende “Aufhebung” der vorausgegangenen staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung, von der § 580 Nr. 6 ZPO spricht. Die gegenteilige Auffassung würde die vom Gesetzgeber mit dieser Vorschrift zugunsten des Prinzips der Rechtssicherheit getroffene Regelung unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG gleichsam außer Kraft setzen.
Rz. 36
ff) Es kommt nicht darauf an, ob das Landesarbeitsgericht in dem mit der Restitutionsklage angegriffenen Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt hat, insbesondere seiner Verpflichtung, den ihm unterbreiteten Kündigungssachverhalt eigenständig zu bewerten und umfassend aufzuklären, ausreichend nachgekommen ist. Gegen solche Rechtsfehler kann Abhilfe nur im ordentlichen Rechtsmittelverfahren gesucht werden. Allein der Umstand, dass sich nachträglich bessere Erkenntnismöglichkeiten ergeben haben mögen, ändert daran nichts. Es mag unter den im Streitfall gegebenen Umständen schwerfallen, das angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 hinzunehmen. Die spätere strafgerichtliche Verurteilung des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Beklagten ist aus den dargelegten Gründen gleichwohl kein Fall des § 580 Nr. 6 ZPO.
Rz. 37
2. Für das Vorliegen sonstiger Restitutionsgründe fehlt es an Anhaltspunkten. Auf sein Vorbringen, der ehemalige Vorstandsvorsitzende habe das Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 durch wahrheitswidrigen Vortrag erwirkt, ist der Kläger in der Revision nicht mehr zurückgekommen. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, insoweit fehle es schon an der schlüssigen Darlegung eines Anfechtungsgrundes iSv. §§ 580 Nr. 4, 581 Abs. 1 ZPO, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
Rz. 38
III. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Kreft, Rachor, Berger, Nielebock, Dr. Roeckl
Fundstellen