Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. rechtliches Gehör. Vertagung des Rechtsstreits. Erkrankung des Klägers und Ausbleiben des Bevollmächtigten in der mündliche Verhandlung
Orientierungssatz
1. § 62 SGG verlangt nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird, wenn er sich durch seinen Bevollmächtigten Gehör verschaffen kann.
2. Bleibt bei Erkrankung des Klägers auch der Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung aus, so liegt kein Vertagungsgrund vor, wenn dieser nicht sicher mit der Vertagung rechnen durfte (vgl BSG vom 17.1.1994 - 9 BV 118/93).
Normenkette
SGG §§ 62, 202; ZPO § 227
Verfahrensgang
Gründe
Mit Urteil vom 13. Juli 2005 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint, weil das Leistungsvermögen der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Klägerin für sechs Stunden täglich oder mehr ausreiche.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin über ihren Schwiegervater Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt und sinngemäß die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt.
Der Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin ist abzulehnen.
Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann Prozesskostenhilfe bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Das ist hier nicht der Fall. Es ist nicht zu erkennen, dass ein nach § 166 Abs 2 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin erfolgreich zu begründen.
Gemäß § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Ein solcher Zulassungsgrund ist weder nach dem Vorbringen der Klägerin noch nach summarischer Prüfung des Streitstoffes ersichtlich.
Es ist nicht erkennbar, dass eine Zulassung der Revision gegen das von der Klägerin angegriffene Urteil auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung iS dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 11, 39). Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind hier nicht ersichtlich. Zu den Leistungsvoraussetzungen von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - soweit diese sich nicht bereits zweifelsfrei aus dem Gesetz ergeben - besteht bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des BSG (vgl dazu Niesel in Kasseler Komm, Ablegeordner, Anmerkungen zu §§ 43, 44 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫). Dass eine rentenbegründende Erwerbsminderung iS der Erwerbsunfähigkeit alten Rechts nur in Betracht kam, wenn das zeitliche Leistungsvermögen eines Versicherten eingeschränkt war, ergab sich unmittelbar aus dem Gesetz (vgl § 44 Abs 2 SGB VI aF). In gleicher Weise folgt aus dem SGB VI neuer Fassung, dass die Gewährung von Rente wegen (teilweiser) Erwerbsminderung erst dann in Betracht kommt, wenn der Versicherte auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI nF). Die Verneinung eines unter sechs Stunden täglich herabgesunkenen Leistungsvermögens der Klägerin durch das LSG lässt mithin eine Rechtsfrage grundsätzlicher Art nicht erkennen.
Des Weiteren ist nicht ersichtlich, dass der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (vgl Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 8. Aufl 2005, RdNr 13 zu § 160; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 163 f). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.
Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ein derartiger Beweisantrag, den das Berufungsgericht unter Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) übergangen haben könnte, ist hier nicht ersichtlich. Auch andere Verfahrensfehler, die dem Berufungsgericht unterlaufen sein könnten, sind nach Durchsicht der Akten und nach dem Vorbringen der Klägerin nicht erkennbar. Insbesondere konnte das LSG im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13. Juli 2005 trotz Ausbleibens der Klägerin eine Sachentscheidung treffen, weil sie auf diese Möglichkeit mit der Terminsmitteilung vom 15. Juni 2005 hingewiesen worden und ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet war. Weder der am 8. Juli 2005 eingegangene Hinweis des Bevollmächtigten der Klägerin, dass diese aus gesundheitlichen Gründen zu dem Termin nicht anreisen könne, noch das von ihr persönlich abgesandte Fax vom 11. Juli 2005 mit ärztlicher Bescheinigung vom Vortag mussten dem LSG Veranlassung geben, den Rechtsstreit zu vertagen. Denn § 62 SGG verlangt nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird, wenn er sich durch seinen Bevollmächtigten Gehör verschaffen kann. Bleibt bei Erkrankung des Klägers auch der Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung aus, so liegt kein Vertagungsgrund vor, wenn dieser nicht sicher mit der Vertagung rechnen durfte (vgl BSG Beschluss vom 17. Januar 1994 - 9 BV 118/93 - veröffentlicht bei Juris). So aber lag der Fall hier, selbst wenn die Nachricht des LSG vom 11. Juli 2005, dass der Verhandlungstermin nicht verlegt werde, den Bevollmächtigten der Klägerin nicht erreicht haben sollte. Dass er selbst den Termin nicht hätte wahrnehmen können, war für das LSG nicht ersichtlich.
Eine - vermeintliche - inhaltliche Unrichtigkeit des Urteils des LSG, die die Klägerin möglicherweise zum Gegenstand ihrer Nichtzulassungsbeschwerde machen möchte, lässt sich mit einer Verfahrensrüge nicht überprüfen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
Da der Klägerin hiernach Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen ist, kann auch ihr Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts keinen Erfolg haben (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 ZPO).
Die von der Klägerin über ihren Bevollmächtigten privatschriftlich erhobene Beschwerde ist mangels der gesetzlich vorgeschriebenen Vertretung (vgl § 166 SGG) unzulässig. Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen