Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 03.01.1995; Aktenzeichen L 6 Ka 12/93)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. Januar 1995 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat dem Beklagten dessen Aufwendungen für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die 1933 geborene und seit 1982 als Kassenärztin zugelassene Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der Zulassung zur kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung. Ihre Honorarforderungen waren im Primär- wie im Ersatzkassenbereich in nahezu allen Quartalen seit ihrer Niederlassung bis zum Ende des Quartals IV/91 wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise durch die Prüfgremien gekürzt worden. Der Disziplinarausschuß der Beigeladenen zu 5) hatte die Klägerin 1986 durch eine Verwarnung und 1987 durch einen Verweis und eine Geldbuße gemaßregelt. Das 1988 durch den Disziplinarausschuß angeordnete Ruhen der Zulassung für ein Quartal ist vom Sozialgericht (SG) Kiel wegen eines Verstoßes gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör im Verlaufe des Disziplinarverfahrens aufgehoben worden.

Auf Antrag der Beigeladenen zu 5) entzog der Zulassungsausschuß der Klägerin die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit wegen ständiger unwirtschaftlicher Behandlungsweise. Der Beklagte wies ihren Widerspruch zurück. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 4. November 1992 – zugestellt am 2. Juni 1993 – abgewiesen. Die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 3. Januar 1995 zurückgewiesen. Die Nichtzulassung der Revision durch das LSG in diesem Urteil greift die Klägerin mit ihrer Beschwerde an.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Soweit die Klägerin als Verfahrensmangel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) rügt, das LSG hätte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverweisen müssen und nicht selbst in der Sache entscheiden dürfen, weil ihr das Urteil des SG erst mehr als fünf Monate nach seiner Verkündung zugestellt worden ist, liegt kein Verfahrensfehler vor. Das LSG hat von dem ihm im Rahmen des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG eingeräumten Ermessen hinsichtlich der Zurückverweisung der Sache an das SG bei Fehlern im sozialgerichtlichen Verfahren keinen sachwidrigen Gebrauch gemacht. Auch wenn das sozialgerichtliche Urteil verspätet zur Geschäftsstelle gelangt und zugestellt worden ist, ist das Ermessen des Berufungsgerichts, ob der Rechtsstreit zurückverwiesen oder vom LSG in der Sache entschieden werden soll, nicht eingeschränkt. Das Berufungsgericht hat sich aus prozeßökonomischen Gründen dafür entschieden, den Rechtsstreit durch die von ihm für notwendig gehaltene Anhörung der Frau Dr. B. … entscheidungsreif zu machen und in der Sache selbst zu entscheiden. Bei der Ausübung des Ermessens im Rahmen des § 159 Abs 1 Ziff 2 SGG ist die Beachtung prozeßökonomischer Gesichtspunkte zulässig und geboten, und es ist nicht erkennbar, weshalb die Klägerin durch das Verfahren des LSG benachteiligt worden sein könnte (vgl Senatsurteile vom 18. Oktober 1995 – 6 RKa 31/94 – ≪SozR 3-2500 § 87 Nr 8 S 27≫ und vom 15. November 1995 – 6 RKa 58/94 – ≪SozR 3-1300 § 16 Nr 1≫).

Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die Klägerin hält für klärungsbedürftig, ob im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung einer Zulassungsentziehungsentscheidung unter dem Gesichtspunkt der Beachtung des Gebotes der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen ist, daß der betroffene Arzt aus Rechtsgründen keine Möglichkeit hat, künftig erneut zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen zu werden. In dieser Allgemeinheit wäre die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, weil nicht feststeht, daß die Klägerin aus Rechtsgründen schlechterdings keine Möglichkeit hat, nach – unterstellter – Wiedererlangung ihrer Eignung als Vertragsärztin erneut zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen zu werden. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang auf die Vorschrift des § 25 Satz 1 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) verweist, wonach die Zulassung eines Arztes ausgeschlossen ist, der das 55. Lebensjahr bereits vollendet hat, ist zu beachten, daß nach Satz 2 dieser Vorschrift der Zulassungsausschuß Ausnahmen zulassen kann, wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich ist. Der Senat hat zu § 25 Satz 2 Ärzte-ZV ausgeführt, daß ein Härtefall gegeben sein kann, wenn ein Arzt seine kassenärztliche Tätigkeit unfreiwillig, etwa wegen Krankheit oder aus anderen zwingenden persönlichen Gründen, aufgeben mußte und später nach Wegfall dieser Umstände wieder zugelassen werden will (BSG SozR 3-2500 § 98 Nr 3 S 6). Dieser Gesichtspunkt kann allerdings nicht zum Zuge kommen, wenn einem Vertragsarzt die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung wegen gröblicher Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten (§ 95 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫) entzogen worden ist; doch ist auch in einem solchen Fall die Anwendung der Härteregelung des § 25 Satz 2 Ärzte-ZV nicht von vornherein ausgeschlossen. Soweit die Klägerin geltend macht, sie werde wegen einer für den Planungsbereich ihres derzeitigen Kassenarztsitzes angeordneten Zulassungsbeschränkung in A. … nicht erneut zugelassen werden können, folgt daraus nicht, daß sie in Zukunft nicht an einem anderen Ort erneut zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen werden könnte. Ebenfalls läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin im Hinblick auf eine möglicherweise fehlende allgemeinmedizinische Weiterbildung künftig aus Rechtsgründen keine Möglichkeit zur erneuten Zulassung hat.

Klärungsfähig wäre die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage allenfalls in dem eingeschränkten Sinne, ob der bei Zulassungsentziehungen stets zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Folge haben kann, daß die rechtlichen Schwierigkeiten von Ärzten bestimmter Arztgruppen, in der Zukunft erneut zugelassen zu werden, in der Weise zu berücksichtigen sind, daß das Vorliegen einer gröblichen Pflichtverletzung bei den von diesen Schwierigkeiten betroffenen Ärzten nach anderen Maßstäben als bei den übrigen Ärzten beurteilt wird. Diese Frage ist indessen zu verneinen, ohne daß es dafür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedürfte.

In der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist geklärt, daß eine gröbliche Pflichtverletzung iS des § 95 Abs 6 SGB V vorliegt, wenn durch das Verhalten eines Arztes das Vertrauen der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) und der Krankenkassen insbesondere in die ordnungsgemäße Behandlung der Versicherten und in die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen durch diesen Arzt so gestört ist, daß diesen eine weitere Zusammenarbeit mit dem betreffenden Arzt nicht zugemutet werden kann. Er ist dann zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nicht (mehr) geeignet. Die Funktionsfähigkeit des von anderen geschaffenen und finanzierten Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung, an dem der Arzt durch seine Zulassung teilnimmt, hängt in dem hier zu betrachtenden Teil der vertragsärztlichen Versorgung entscheidend mit davon ab, daß die KÄV und die Krankenkassen auf die ordnungsgemäße Leistungserbringung durch den einzelnen Arzt vertrauen können. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie des Grundrechts der Berufsfreiheit des betroffenen Arztes aus Art 12 Abs 1 Grundgesetz (GG) darf die Zulassungsentziehung nur ausgesprochen werden, wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist (vgl BSGE 73, 234 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 4). Wenn – wie das LSG angenommen hat – die ständigen, sich über nahezu zehn Jahre hinweg von Quartal zu Quartal wiederholenden Verstöße der Klägerin gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot im Hinblick auf ihre Intensität und das Ausmaß des angerichteten Schadens derart schwerwiegend sind, daß ein anderes Mittel als die Zulassungsentziehung zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ausscheidet, kann die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme nicht davon abhängig sein, ob die Klägerin etwa im Hinblick auf ihr Alter oder auf ihre fachliche Weiterbildung schlechtere Chancen als andere Ärzte auf eine erneute Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung hat. Das Recht von Krankenkassen und KÄV, den Ausschluß solcher Ärzte aus dem System der vertragsärztlichen Versorgung verlangen und durchsetzen zu können, die sich zur Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit nachhaltig als ungeeignet erwiesen haben, darf im Interesse der Sicherung einer funktionsfähigen ambulanten vertragsärztlichen Versorgung nicht deswegen beschränkt werden, weil der Gesetzgeber im Hinblick auf eine von ihm für erforderlich gehaltene Begrenzung der Zahl der Vertragsärzte die (erneute) Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung von Voraussetzungen abhängig gemacht hat, die in früheren Zeiten noch nicht gegolten haben. Auch im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) wäre es nicht begründbar, wenn bei bestimmten Ärzten auch äußerst schwerwiegende Pflichtverletzungen nicht zur Zulassungsentziehung führen könnten, während die Mehrzahl der Ärzte bei entsprechenden Verstößen ohne weiteres aus dem System der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen werden könnte und müßte.

Der von der Klägerin weiterhin aufgeworfenen Frage, ob im Rahmen der Prüfung des „Wohlverhaltens” eines Vertragsarztes nach Ausspruch der Zulassungsentziehung auch solche statistische Auffälligkeiten, die (noch) nicht zur Einleitung eines Prüfverfahrens geführt haben, verwertet werden dürfen, kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nicht zu. In der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist geklärt, daß dann, wenn eine Zulassungsentziehung nicht vollzogen worden ist, dem Verhalten des Kassen- bzw Vertragsarztes während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hinsichtlich der Zulassungsentziehung im Hinblick auf ein etwaiges „Wohlverhalten” Bedeutung auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zukommen kann, wobei allerdings ein „Wohlverhalten” des betreffenden Arztes während des Prozesses geringeres Gewicht hat als ein vorwerfbares Verhalten in der Zeit vor der Zulassungsentziehung (vgl zuletzt BSGE 73, 234, 243 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4 S 19). Welche Gesichtspunkte im einzelnen bei der Prüfung des sog „Wohlverhaltens” von Bedeutung sind, entzieht sich einer generalisierenden Beurteilung. Bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer auf ständige Verstöße gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise gestützten Zulassungsentziehung kann die Entwicklung der Honorarforderungen des betroffenen Arztes in Relation zum Durchschnitt seiner Vergleichsgruppe in den Quartalen nach dem Ausspruch der Entziehung Gewicht haben. Ein „Wohlverhalten” kann in diesem Zusammenhang nicht erst dann verneint werden, wenn gegen den betroffenen Arzt bereits vor der den Rechtsstreit abschließenden letzten mündlichen Verhandlung erneut Kürzungsmaßnahmen der Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung festgesetzt worden sind. Genausowenig ist es zweifelhaft, daß ein Verhalten des Arztes bei der Prüfung des „Wohlverhaltens” berücksichtigt werden kann, das pflichtwidrig ist, aber (noch) nicht Gegenstand selbständiger disziplinarischer Ermittlungen geworden ist. Das mag etwa für den vom LSG festgestellten Sachverhalt gelten, daß die Klägerin mehrfach ihre Honorarabrechnung verspätet abgegeben hat. Wenn dem „Wohlverhalten” eines Arztes während des laufenden Entziehungsverfahrens ohnehin gegenüber den vorangegangenen Pflichtverletzungen nur eine geringe Bedeutung zukommt, ist jeder durch Tatsachen belegte Zweifel daran, ob tatsächlich eine wirkliche Verhaltensänderung bei dem betroffenen Arzt eingetreten ist, geeignet, die Annahme eines rechtlich relevanten „Wohlverhaltens” auszuschließen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174234

SozSi 1997, 119

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