Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspätete Ablehnung des Antrags auf Befragung des Sachverständigen
Leitsatz (amtlich)
Das Recht eines Beteiligten, Fragen an einen Sachverständigen zu stellen, der ein schriftliches Gutachten erstattet hat, geht mit Ende der Instanz dann nicht verloren, wenn das Gericht dessen Antrag auf Befragung des Sachverständigen verfahrensfehlerhaft als verspätet abgelehnt hat.
Normenkette
SGG § 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 4
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Beschluss vom 19.07.2007; Aktenzeichen L 4 SB 78/04) |
SG Kassel (Entscheidung vom 19.10.2004; Aktenzeichen S 14/13 SB 225/00) |
Gründe
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Beschluss vom 19.7.2007 die Auffassung des Beklagten und das erstinstanzliche Urteil bestätigt, wonach der Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin nur 70 beträgt und bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) nicht vorliegen. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Dagegen hat die Klägerin Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Sie macht ua Verfahrensfehler geltend.
Die Beschwerde ist begründet.
Die Klägerin hat eine Verletzung ihres Fragerechts nach § 116 Abs 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) hinreichend bezeichnet. Die Rüge trifft auch zu. Das LSG hat zu Unrecht jedenfalls den Sachverständigen Prof. Dr. W. anders als von der Klägerin beantragt - nicht ergänzend befragt. Darin liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, auf dem die angegriffene Entscheidung beruhen kann.
Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht jedem Beteiligten gemäß § 116 Satz 2 SGG, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (BVerfG ≪Kammer≫ vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 = juris RdNr 11; vgl auch BSG, Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - juris RdNr 7). Dabei müssen die dem Sachverständigen zu stellenden Fragen nicht formuliert werden. Es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen, zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (§ 411 Abs 4 ZPO) . Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl allg zu dieser Voraussetzung BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören, und dabei schriftlich Fragen in dem oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt. Das gilt auch dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner Erläuterung bedarf. Den genannten Anforderungen an die Bemühung des Beteiligten um rechtliches Gehör ist hier genügt.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren beantragt, den Sachverständigen Prof. Dr. W. zur Erläuterung seines - erstinstanzlich erstatteten - schriftlichen Gutachtens vom 3.5.2004 zur mündlichen Verhandlung zu laden. Sie hat sich dabei auf einen erstinstanzlichen Schriftsatz vom 29.9.2004 bezogen, mit dem sie schon dort die Anhörung des Sachverständigen beantragt hatte, damit er Widersprüche zwischen seiner GdB-Bewertung des Restless-legs-Syndroms und einem - höheren - Bewertungsvorschlag in der Literatur (Benes, MedSach 96 ≪2000≫, 120, 124) erläutere.
Die Klägerin hat diesen Antrag rechtzeitig (in der Berufungsbegründung vom 25.8.2005) gestellt und ihn mit Schreiben vom 12.7.2007 aufrechterhalten, nachdem ihr das LSG mitgeteilt hatte, durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden zu wollen.
Die angekündigte Frage ist - wovon auch das LSG ausgegangen ist - sachdienlich. Sie hält sich im Rahmen des Beweisthemas (Einschätzung des GdB), ist nicht abwegig und nicht bereits eindeutig beantwortet.
Das Recht der Klägerin, an den erstinstanzlich tätig gewordenen Sachverständigen noch im Berufungsverfahren Fragen zu stellen, entfällt auch nicht deshalb, weil das Fragerecht grundsätzlich nur innerhalb des Rechtszuges besteht, in dem das Gutachten eingeholt worden ist. Außer in dem von der Rechtsprechung entschiedenen Fall (Vorliegen der Voraussetzungen nach § 411 Abs 3 ZPO; vgl dazu BSG, Beschlüsse vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - SGb 2000, 269 und vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - juris) geht das Fragerecht mit Ende der Instanz, in der das schriftliche Gutachten erstattet worden ist, auch dann nicht verloren, wenn es dort verfahrensfehlerhaft mit der Begründung unberücksichtigt geblieben ist, es sei verspätet oder missbräuchlich geltend gemacht worden. So liegt es hier.
Missbrauch ist der Klägerin nicht vorgeworfen worden; schuldhaft verspätet hat die Klägerin ihren erstinstanzlichen Antrag vom 29.9.2004 nicht gestellt; insbesondere hat sie keine vom Gericht gesetzte Frist versäumt. Denn das Sozialgericht (SG) hatte ihr auf ihre Ankündigung vom 19.7.2004, wegen des Gutachtens von Prof. Dr. W. noch gesondert vortragen zu wollen, dafür keine Terminvorgaben gemacht. Auch nach Einschätzung des SG war der Antrag vom 29.9.2004 zunächst offenbar nicht verspätet. Denn es hat der Klägerin am 30.9.2004 mitgeteilt, ihre Einwände gegen das Gutachten von Prof. Dr. W. sollten in der mündlichen Verhandlung am 19.10.2004 eingehend erörtert werden; derzeitig werde noch kein Bedarf gesehen, den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens zu laden. Danach wollte das SG zunächst das Ergebnis der mündlichen Verhandlung abwarten, um dann zu entscheiden, ob einem etwa aufrechterhaltenen Antrag der Klägerin zu folgen sein würde. Nachdem die Klägerin am 6.10.2004 auf ihr aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgendes Fragerecht hingewiesen hatte, hat das SG am 7.10.2004 von dem Sachverständigen auf Nachfrage erfahren, dass er am Sitzungstag verhindert sei. Erst im Urteil hat es dann den - in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Antrag - als verspätet bezeichnet.
Auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. W. nach dessen Anhörung zu von der Klägerin gestellten Fragen anders gewürdigt und weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte oder unmittelbar zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Davon macht der Senat hier Gebrauch, weil aus den eben genannten Gründen auch ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung führen müsste und grundsätzlich bedeutsame Fragen dort voraussichtlich nicht - mehr - zu klären wären. Das gilt insbesondere für die in der Beschwerdebegründung aufgeworfene Frage, ob die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" trotz fehlender Legitimationsgrundlage weiterhin gelten (vgl dazu BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2 jeweils RdNr 15). Es gilt ebenso für die von der Klägerin gestellte Frage, ob es - verfassungsrechtlich - zulässig ist, dass § 2 Abs 1 SGB IX nur solche Gesundheitsstörungen berücksichtigt, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass Gesundheitsstörungen der Klägerin unter diesem Gesichtspunkt bei der GdB-Einschätzung außer Acht geblieben oder nur teilweise berücksichtigt worden sind.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen