Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten. grob fahrlässige Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit für Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Inhaftierung nach Straftat. Sozialwidrigkeitsbegriff
Leitsatz (amtlich)
Ein Kostenersatzanspruch des SGB II-Trägers setzt einen spezifischen Bezug zwischen einem sozialwidrigen Verhalten und der Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw dem Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit voraus.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II setzt nicht voraus, dass schon vor Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit SGB II-Leistungen bezogen wurden und eine “Bedarfsgemeinschaft im Leistungsbezug” vorlag, sondern es genügt, dass bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft bestanden hätte.
2. Eine Heranziehung zum Kostenersatz setzt ein sozialwidriges Verhalten voraus, wobei nicht jedes verwerfliche Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Erstattungspflicht führt, sondern ein Verhalten mit spezifischem Bezug, d.h. “innerem Zusammenhang”, zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw. Leistungserbringung erforderlich ist.
3. Der Verlust des Arbeitsplatzes und die damit einhergehende Hilfebedürftigkeit infolge einer Inhaftierung wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung ist zwar als moralisch in höchstem Maße verwerflich, nicht jedoch als sozialwidrig i.S.v. § 34 SGB II einzustufen, da anders als möglicherweise bei Vermögensdelikten bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit kein spezifischer Bezug zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit besteht, weil dieses Verhalten in seiner Handlungstendenz nicht auf die Einschränkung bzw. den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit bzw. die Herbeiführung von Bedürftigkeit gerichtet war oder hiermit in innerem Zusammenhang stand.
Orientierungssatz
Eine Bedarfsgemeinschaft iS des § 34 Abs 1 S 1 SGB 2 iVm § 7 Abs 3 SGB 2 besteht dem Grunde nach fort, wenn durch Inhaftierung bzw Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung die Ehegatten zwar vorübergehend räumlich getrennt leben und für den Inhaftierten der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 4 SGB 2 greift, aber ein Trennungswille der Ehegatten nicht erkennbar ist.
Normenkette
SGB 2 § 34 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-12-24, S. 2 Fassung: 2003-12-24, § 2 Fassung: 2003-12-24, § 31 Fassung: 2004-07-30; SGB 12 § 103 Fassung: 2003-12-27; BSHG § 92a Fassung: 1994-03-23; SGB 2 § 7 Abs. 3-4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. März 2012 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Mai 2011 zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist ein Kostenersatzanspruch des Beklagten für SGB II-Leistungen.
Der 1973 geborene Kläger wurde wegen einer im Juli 2003 begangenen Straftat (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung) durch das AG Frankfurt am Main zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde (Urteil vom 18.10.2004). Aufgrund eines Haftbefehls desselben Gerichts vom 28.12.2004, das einen dringenden Verdacht der erneuten Belästigung der Geschädigten durch den Kläger sah, wurde er vom 17.1.2005 bis zum 18.3.2005 wegen Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen. Sein Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis zum 24.1.2005. Arbeitslosengeld erhielt der Kläger ab 22.3.2005.
Auf Antrag der Ehefrau des Klägers vom 15.2.2005 bewilligte der Beklagte für diese und die gemeinsame Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 15.2. bis 31.3.2005. Von dem Kläger verlangte er "Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens" für den Zeitraum vom 15.2. bis 21.3.2005 in Höhe von 1477,41 Euro (Bescheide vom 14.4.2005 und 23.3.2006). Im Widerspruchsverfahren setzte der Beklagte den Kostenersatz auf 1513,34 Euro fest und wies den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007). Dabei ging er davon aus, dass der Kläger seinen Arbeitsplatz aufgrund der Inhaftierung verloren und damit grob fahrlässig die Hilfebedürftigkeit seiner Ehefrau und des Kindes herbeigeführt habe.
Das SG hat die angefochtenen Bescheide vom 14.4.2005 und 23.3.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2007 aufgehoben, soweit der Zeitraum vom 15.2. bis 17.3.2005 betroffen war und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 24.5.2011), weil der Kläger während der Zeit der Untersuchungshaft nicht in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau und dem Kind gelebt habe. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 16.3.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, als Fallgruppe eines sozialwidrigen Verhaltens komme die Verletzung der Unterhaltspflicht durch Herbeiführung von Untersuchungs- oder Strafhaft in Betracht. Durch seine strafbare Handlung habe der Kläger sozialwidrig gehandelt, ohne dass ihm ein wichtiger Grund zur Seite gestanden habe. Es liege ein zumindest grob fahrlässiges Verhalten vor, weil für den Kläger vorhersehbar gewesen sei, dass sein Verhalten Hilfebedürftigkeit herbeiführen werde. Sowohl im Zeitpunkt des sozialwidrigen Verhaltens (Straftat im Jahre 2003) als auch im Zeitpunkt des Herbeiführens der Hilfebedürftigkeit (Untersuchungshaft Januar 2005) habe die Bedarfsgemeinschaft bestanden und während der Haft auch fortbestanden.
Mit seiner Revision rügt er die Verletzung von § 34 Abs 1 SGB II, der enger gefasst sei als die Vorgängerregelung des § 92a BSHG. Konstitutiv für das Bestehen eines Kostenersatzanspruchs sei das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, die ohne Bezug zu beantragten oder gewährten Leistungen nicht existiere. Zwar habe er bei seiner Inhaftierung mit Frau und Kind in einem Haushalt gelebt, mangels Leistungsberechtigung aber keine Bedarfsgemeinschaft gebildet. Auch zum Zeitpunkt des Antrags auf SGB II-Leistungen und der tatsächlichen Leistungserbringung habe er nicht mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft gelebt. Auch verletze das Urteil den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, weil sein Verhalten wegen einer von der Bundesagentur für Arbeit verhängten Sperrzeit ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zweifach sanktioniert werde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. März 2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Mai 2011 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Ausführungen des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision des Klägers war das Urteil des LSG vom 16.3.2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 24.5.2011 zurückzuweisen. Das SG hat die angefochtenen Bescheide vom 14.4.2005 und 23.3.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2007 im Ergebnis zu Recht aufgehoben, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Kostenersatzanspruch nach § 34 SGB II nicht vorliegen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 14.4.2005 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 23.3.2006 und des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2007, mit dem der Beklagte von dem Kläger zunächst für die Zeit vom 15.2.2005 bis 19.4.2005 Ersatz für die an seine Ehefrau und Tochter gewährten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 2595,45 Euro, anschließend für die Zeit vom 15.2.2005 bis 21.3.2005 in Höhe von 1477,41 Euro und mit Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007 zuletzt für die Zeit vom 15.2.2005 bis 21.3.2005 in Höhe von 1513,34 Euro verlangt hat.
Hiergegen wendet sich der Kläger zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG). Da nur der Beklagte Berufung gegen das beide Beteiligte beschwerende Urteil des SG eingelegt hat, war ein Kostenersatzanspruch des Beklagten für den Zeitraum vom 18.3.2005 bis 21.3.2005 nicht (mehr) Gegenstand des Berufungsverfahrens. Nach Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und vollständiger Klageabweisung durch das LSG erstreckt sich die Überprüfung im Revisionsverfahren daher nur auf die Rechtmäßigkeit des für die Zeit vom 15.2.2005 bis 17.3.2005 von dem Beklagten geltend gemachten Ersatzanspruches.
2. Unabhängig von einer etwaigen teilweisen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide schon wegen einer Erhöhung des Kostenersatzanspruchs im Widerspruchsverfahren von 1477,41 Euro auf 1513,34 Euro ist die Revision des Klägers schon deshalb begründet, weil die Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch nach § 34 Abs 1 SGB II nicht vorliegen.
Nach § 34 Abs 1 SGB II in der vom 1.1.2005 bis 31.3.2011 geltenden Fassung des Art 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954) ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für seine Hilfebedürftigkeit oder die Hilfebedürftigkeit von Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben (Nr 1), oder die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben (Nr 2) ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet (Satz 1). Von der Geltendmachung des Ersatzanspruches ist abzusehen, soweit sie den Ersatzpflichtigen künftig von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach diesem Buch oder von Leistungen nach dem Zwölften Buch abhängig machen würde (Satz 2). Zwar scheitert ein Ersatzanspruch des Beklagten nicht schon daran, dass der Kläger mit seiner leistungsberechtigten Ehefrau sowie der gemeinsamen Tochter nicht in einer Bedarfsgemeinschaft iS des § 34 Abs 1 SGB II lebte. Es liegt jedoch kein sozialwidriges Verhalten des Klägers vor.
3. Der Kläger erfüllt die persönlichen Voraussetzungen der Ersatzpflicht. Der Kläger hat auch iS von § 34 Abs 1 SGB II mit seiner Ehefrau und Tochter in einer Bedarfsgemeinschaft iS des SGB II gelebt. Hiervon ist das LSG zu Recht ausgegangen. Der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II setzt nicht voraus, dass schon vor Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit SGB II-Leistungen bezogen wurden und eine “Bedarfsgemeinschaft im Leistungsbezug„ vorlag. Es genügt, dass bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft bestanden hätte. Der Begriff der Bedarfsgemeinschaft iS von § 34 Abs 1 S 1 SGB II wird insofern durch den in § 7 Abs 3 SGB II umschriebenen Personenkreis definiert. Ein anderes Verständnis der Bezugnahme auf den Begriff der Bedarfsgemeinschaft widerspräche dem Sinn und Zweck des § 34 SGB II, der gerade an die Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit - und somit die Schaffung einer Leistungsvoraussetzung des SGB II - für die Annahme einer Ersatzpflicht anknüpft. Vor der Inhaftierung am 17.1.2005 bildete der Kläger dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft mit seiner Familie nach § 7 Abs 3 Nr 3a, Nr 4 SGB II.
Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 34 Abs 1 SGB II auch (noch) vorliegen, wenn - etwa während eines längeren Leistungsbezugs - eine Lösung der Bedarfsgemeinschaft stattgefunden hat. Der Kläger hat hier auch während der Untersuchungshaft mit seiner Ehefrau und Tochter eine Bedarfsgemeinschaft iS des SGB II gebildet. Zwar war er selbst in der Zeit seiner Inhaftierung nach § 7 Abs 4 SGB II (idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954, gültig vom 1.1.2005 bis 31.7.2006) grundsätzlich von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen (vgl zur bis 31.7.2006 geltenden Rechtslage BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 5). Mangels eines erkennbaren Trennungswillens als nur vorübergehend räumlich getrennt lebender Ehegatte war er aber weiterhin als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 Nr 3a, Nr 4 SGB II anzusehen (vgl § 1567 Abs 1 BGB, BSGE 105, 291 = SozR 4-4200 § 7 Nr 16, jeweils RdNr 13 f; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 41).
4.a) Eine Heranziehung zum Kostenersatz scheitert jedoch daran, dass ein sozialwidriges Verhalten iS des § 34 Abs 1 SGB II hier nicht vorliegt. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie ihrem jetzigen systematischen Kontext mit weiteren Regelungen des SGB II ergibt sich, dass nicht jedes - hier in hohem Maße gegebene - verwerfliche Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Erstattungspflicht führt. Erfasst wird nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, dh "innerem Zusammenhang", zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw Leistungserbringung. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des als Ausnahmefall vorgesehenen Kostenersatzanspruchs gegenüber einem Leistungsberechtigten sowie dem jetzigen systematischen Kontext des § 34 SGB II mit weiteren SGB II-Regelungen. Das Verhalten des Klägers erfüllte die insofern zu stellenden Anforderungen nicht.
b) Aus der Entstehungsgeschichte des § 34 SGB II ergibt sich, dass es sich um einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand handelt. Während die jetzige Parallelregelung zum Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten in § 103 SGB XII die bis zum 31.12.2004 geltende Vorschrift des § 92a BSHG im Wesentlichen inhaltsgleich übernommen hat (BT-Drucks 15/1514 S 68 zu § 98), soll sich § 34 SGB II nach dem Willen des Gesetzgebers (lediglich) an die sozialhilferechtliche Regelung "anlehnen" (BT-Drucks 15/1516 S 62 zu § 34). Dies findet seinen Ausdruck in der zT unterschiedlichen Ausgestaltung beider Vorschriften, etwa darin, dass § 34 Abs 1 SGB II in seiner hier maßgebenden Fassung bis zum 31.3.2011 keine § 103 Abs 1 S 2 SGB XII entsprechende Regelung zum Wegfall einer Heranziehung zum Kostenersatz, sondern - mit dem Absehen von seiner Geltendmachung bei zu erwartenden Leistungsberechtigung nach dem SGB II oder dem SGB XII - lediglich eine "spezielle Härteregelung" (§ 34 Abs 1 S 2 SGB II aF) enthielt (Simon in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl 2010, § 103 RdNr 14). Auch setzt § 103 Abs 1 S 1 SGB XII im Unterschied zu § 34 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II nicht das Fehlen eines wichtigen Grundes voraus. Trotz dieser Unterschiede ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der gemeinsamen Vorgängervorschrift zu § 103 SGB XII und § 34 SGB II in § 92a BSHG, dass auch für den Ersatzanspruch nach § 34 SGB II ein sozialwidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen notwendig vorauszusetzen ist.
Bereits bei Festsetzung eines Kostenersatzes bei schuldhaftem Verhalten nach § 92a BSHG (in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung), wonach zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet war, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialhilfe an sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hatte, war zu berücksichtigen, dass mit der Einführung des BSHG die frühere Verpflichtung zum Kostenersatz im Grundsatz beseitigt werden sollte. Eine Regelung wie diejenige zur Rückerstattungspflicht in den § 25 Abs 1, § 25a der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht (RFV), die vorsah, dass der Unterstützte "dem Fürsorgeverband" die Kosten zu ersetzen hatte, war bewusst nicht in das BSHG übernommen worden (vgl hierzu bereits Wehlitz in NDV 1964, 152 ff, 153 mit Bezug auf die Diskussion bei Einführung des BSHG, bei der überwiegend die Auffassung vertreten worden sei, dass "die Aufrechterhaltung der Rückerstattungspflicht des Hilfeempfängers … mit dem Charakter einer modernen Sozialhilfe nicht zu vereinbaren sei und die gesetzliche Neukodifikation nicht mit einer erneuten Verankerung der Kostenerstattungspflicht des Hilfeempfängers belastet werden dürfe, die ein Relikt aus einer nunmehr überholten Entwicklungsphase des Fürsorgerechts darstelle"). Die neu aufgenommene Kostenersatzpflicht nach § 92a BSHG beschränkte sich daher auf einen "engen deliktähnlichen Ausnahmetatbestand" mit dem Ziel, "gewisse Unbilligkeiten" auszuschließen, die sich aus der uneingeschränkten Beseitigung der Kostenersatzpflicht des Hilfebedürftigen ergeben hätten (BVerwGE 51, 61 ff, 63). § 92a BSHG diene - so das BVerwG - der Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe, weshalb für diesen Nachranggrundsatz unterlaufendes Verhalten das Merkmal "sozialwidrig" zusätzlich zu dem in § 92a Abs 1 S 1 BSHG normierten Erfordernis eines "vorsätzlichen oder grob fahrlässigen" Verhaltens zu lesen sei (BVerwG aaO, S 61: "etwa wegen Arbeitsscheu oder Verschwendungssucht des Unterhaltspflichtigen").
Eine einschränkende Auslegung hält der Senat auch bei der Anwendung des § 34 Abs 1 SGB II für geboten, weil es sich bei § 34 SGB II in gleicher Weise wie bei § 92a BSHG bzw nunmehr § 103 Abs 1 SGB XII um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind (BVerfG Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, 803; sa BSG SozR 4-4200 § 23 Nr 13, RdNr 12 mwN; vgl auch Klinge in Hauck/Noftz, SGB XII, § 103 RdNr 9, Stand 2/2012). Dieser Grundsatz einer "verschuldensfreien" Deckung des Existenzminimums darf nicht durch eine weitreichende und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht der Leistungsberechtigten und ihrer Angehörigen konterkariert werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II seiner Höhe nach nicht begrenzt war.
c) Unter systematischen Gesichtspunkten sind auch die im SGB II festgeschriebenen Wertmaßstäbe bei der Einordnung eines Verhaltens als sozialwidrig iS des § 34 SGB II einzubeziehen (so ausdrücklich Hänlein in Gagel, SGB II/SGB III, § 34 RdNr 12 f, Stand 2009). In diesen Normen drückt sich - ähnlich wie im Sozialversicherungsrecht in den § 52 SGB V, §§ 103 f SGB VI und § 101 SGB VII (vgl hierzu insgesamt: Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, 2004) - aus, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zuwiderlaufend angesehen wird. Insofern enthält das SGB II detaillierte Regelungen zur Refinanzierung zu Unrecht erbrachter SGB II-Leistungen bzw zu Leistungskürzungen bei einem Verhalten, das dem für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geltenden Nachranggrundsatz (§ 2 SGB II) widerspricht. So finden sich in § 31 SGB II zahlreiche Tatbestände einer Absenkung bzw eines Wegfalls des Alg II bei aus Sicht des SGB II nicht zu billigendem Verhalten. Diese stehen in engem Zusammenhang mit dem Merkmal des vom Leistungsberechtigten geforderten Einsatzes seiner Erwerbsfähigkeit (§ 31 Abs 1 und 2 SGB II) bzw einer gezielten Herbeiführung der Bedürftigkeit (§ 31 Abs 4 Nr 1 und 2 SGB II). Soweit § 31 Abs 4 Nr 3b SGB II für eine Minderung bzw einen Wegfall des SGB II-Anspruchs an die Sperrzeitregelungen des SGB III anknüpft, ist eine Sperrzeit bei einem arbeitsvertragswidrigen Verhalten, nicht jedoch einer - hier wohl allein in Betracht kommenden - personenbedingten Kündigung vorgesehen (§ 144 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB III; vgl zur Abgrenzung BSGE 91, 18 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 2).
Aus diesen Regelungen ist abzuleiten, dass ein - mit einer höheren Belastung verbundener - Ersatzanspruch nach § 34 Abs 1 SGB II nicht nur ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten voraussetzt. Das konkret vorgeworfene Verhalten muss vielmehr - auch im Rahmen der weitreichenden Ersatzpflicht nach § 34 SGB II - nach den Wertungen des SGB II sozialwidrig sein. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (BVerwG Urteil vom 24.6.1976 - V C 41.74 - BVerwGE 51, 61 ff, 65). Es muss ein spezifischer Bezug zwischen dem Verhalten selbst und dem Erfolg bestehen, um das Verhalten selbst als "sozialwidrig" bewerten zu können (vgl BVerwG Urteil vom 10.4.2003 - 5 C 4/02 - BVerwGE 118, 109 ff, 111).
d) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Verhalten des Klägers als moralisch in höchstem Maße verwerflich, nicht jedoch als sozialwidrig iS des § 34 SGB II einzustufen. Anders als möglicherweise bei Vermögensdelikten besteht bei den hier im Zentrum stehenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit kein spezifischer Bezug zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit der Ehefrau des Klägers und seines Kindes. Bei dem mit den Straftaten in Zusammenhang stehenden Verhalten des Klägers, das zu seiner Inhaftierung im Januar 2005 führte, handelt es sich nicht um ein solches, das in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung bzw den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit bzw die Herbeiführung von Bedürftigkeit gerichtet war oder hiermit in innerem Zusammenhang stand. Es besteht auch kein Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen.
Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der von beiden Beteiligten jeweils für ihren Rechtsstandpunkt herangezogenen Entscheidung des BVerwG vom 10.4.2003 (5 C 4/02, BVerwGE 118, 109 ff). Auch das BVerwG ist davon ausgegangen, dass nicht die Inhaftierung an sich, sondern nur die konkrete Feststellung und Würdigung der zur Inhaftierung führenden Umstände ggf eine sozialwidrige Verursachung der Bedürftigkeit von Angehörigen begründen können (BVerwG aaO S 112 f). Anders als in dem hier zu beurteilenden Sachverhalt hatte das BVerwG über die Einstufung eines strafbaren geschäftswidrigen Verhaltens (Untreue, Betrug, Verletzung der Buchführungspflicht, Bankrott, verspätete Konkursanmeldung) mit der Folge des Wegfalls einer selbständigen Existenzgrundlage zu entscheiden, bei dem ein spezifischer Bezug bzw ein innerer Zusammenhang zum SGB II (zB zu einer Arbeitsplatzaufgabe) möglicherweise näher liegen könnte.
5. Da es schon an einem sozialwidrigen Verhalten iS des § 34 SGB II fehlt, brauchte der Senat nicht zu prüfen, ob der Kläger für sein Verhalten einen wichtigen Grund vorweisen kann (vgl zu dessen Berücksichtigung als eigenständiges Tatbestandsmerkmal: Cantzler in Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl 2011, § 34 RdNr 7; Link in Eicher/Spellbrink, aaO, § 34 RdNr 15; aA Hölzer in Estelmann, SGB II, § 34 RdNr 29, Stand 12/2011; Fügemann in Hauck/Noftz, SGB II, § 34 RdNr 33 ff, Stand 1/2012), zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und der Notwendigkeit von Leistungen nach dem SGB II ein ursächlicher Zusammenhang bestand und das als sozialwidrig einzustufende Verhalten zumindest grob fahrlässig gewesen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 3609966 |
BSGE 2013, 135 |