Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. Ausschlussfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Besteht ein Erstattungsanspruch des erstangegangenen, aber nur nachrangig verpflichteten Trägers der Rehabilitation, richtet sich die Berechnung der Ausschlussfrist, innerhalb der dieser Anspruch geltend zu machen ist, nach dem Recht des für die Leistung originär zuständigen, erstattungspflichtigen Trägers.
2. Nach dem Recht der Eingliederungshilfe beginnt der Lauf der Ausschlussfrist auch bei zeitabschnittsweisen Bewilligungen erst, wenn das Teilhabeziel erreicht und die Rehabilitationsmaßnahme damit abgeschlossen ist.
Normenkette
SGB X § 104 Abs. 1 S. 1; SGB IX § 14 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; SGB VIII § 10 Abs. 4 Sätze 1-2; SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1; SGB IX § 55; SGB X § 111 Sätze 1-2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 2017 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 108 473,72 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit ist im Revisionsverfahren noch die Erstattung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von 4704,09 Euro, die die Klägerin im Juli 2009 zu Gunsten des Leistungsberechtigten M K (im Folgenden K) erbracht hat.
Der 1998 geborene K ist wegen einer hochgradigen Hörminderung schwerbehindert (GdB von 100, Merkzeichen G, B, H und RF) und mit einem Cochlea Implantat versorgt; verursacht durch die hochgradige Schwerhörigkeit besteht ein allgemeiner Entwicklungsrückstand und eine Sprachentwicklungsstörung. Er besuchte ab 2004 zunächst eine Förderschule und später ein Internat jeweils mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. An den Wochenenden lebte er bei seiner Mutter im Stadtgebiet der Klägerin. Nachdem es immer wieder zu erheblichen familiären Konflikten gekommen war, bewilligte das Jugendamt der Klägerin vom 1.7.2009 an stationäre Hilfe zur Erziehung nach §§ 29, 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII). K war seither in einer Wohngruppe mit dem Schwerpunkt Hören und Kommunikation in Münster untergebracht, wo er auch die Wochenenden verbringen konnte, und besuchte die dortige Förderschule. Die Klägerin erteilte der Einrichtung ua eine "bis auf Weiteres" geltende Kostenzusage (vom 9.7.2009) auf Grundlage eines Entgeltsatzes von 149,66 Euro pro Tag zuzüglich einer täglichen Bekleidungspauschale in Höhe von 1,23 Euro und einem monatlichen Taschengeld ua für Juli 2009 in Höhe von 26,50 Euro; daneben übernahm sie Kosten für einen Gebärdensprachdolmetscher. In der Folge erteilte sie der Einrichtung weitere Kostenzusagen. Ab August 2009 zahlte der Vater einen Kostenbeitrag.
Mit Schreiben vom 14.9.2012 bat die Klägerin den Beklagten um "Übernahme" des Falles in dessen Zuständigkeit und machte für die Zeit ab dem 1.7.2009 einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) geltend. Der Beklagte erstattete die Kosten für die Zeit ab 1.9.2011 und bewilligte Leistungen der stationären Eingliederungshilfe vom 1.1.2014 an. Die Erstattung der übrigen Kosten lehnte er unter Hinweis auf die Ausschlussfrist des § 111 SGB X ab. Auf die Einrede der Verjährung verzichtete er (Schreiben vom 12.12.2013).
Die Klage auf Zahlung von (zuletzt) 108 473,72 Euro für die Zeit vom 1.7.2009 bis zum 31.12.2010 hat in beiden Instanzen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Dortmund vom 16.6.2015; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Nordrhein-Westfalen vom 12.6.2017). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Erstattungsanspruch bestehe auf Grundlage von § 104 SGB X, weil die Klägerin nach § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII nachrangig gegenüber dem beklagten Träger der Eingliederungshilfe verpflichtet gewesen sei. Der Erstattungsanspruch sei auch rechtzeitig iS des § 111 Satz 1 SGB X geltend gemacht worden. Die erbrachte "Leistung" sei eine solche der Jugendhilfe. Die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für die Geltendmachung eines jugendhilferechtlichen Kostenerstattungsanspruchs beginne nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) erst mit dem Ablauf des letzten Tages, an dem die jeweilige (Gesamt-)Leistung im Sinne der jeweiligen Vorschriften erbracht worden sei. Dies sei hier die Heimerziehung, die während des gesamten Aufenthalts in der Wohngruppe unverändert durchgeführt worden sei.
Der Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung von § 111 SGB X. Die Rechtsprechung des BVerwG zu Erstattungsansprüchen nach §§ 89 ff SGB VIII sei auf das Verhältnis zwischen Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger nicht übertragbar. Entscheidend müsse der Leistungsbegriff des Sozialhilferechts sein. Es handele sich um eine wiederkehrende Leistung, sodass nach Ablauf des jeweiligen Leistungszeitraums, der durch die monatliche Abrechnung mit dem Leistungserbringer gekennzeichnet sei, sukzessive die Frist zu laufen beginne.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 2017 und des Sozialgerichts Dortmund vom 16. Juni 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Leistungen hat, die sie an K im Juli 2009 erbracht hat.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der von der Klägerin statthaft im Wege der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) verfolgte Anspruch auf Kostenerstattung für Leistungen der Eingliederungshilfe, die sie an K im Juli 2009 in Höhe von 4704,09 Euro erbracht hat. Soweit das LSG den Beklagten für die Zeit vom 1.8.2009 bis zum 31.12.2010 zur Zahlung von (weiteren) 103 769,63 Euro verurteilt hat, haben die Beteiligten im Revisionsverfahren einen sog Unterwerfungsvergleich entsprechend dem Ausgang des vorliegenden Verfahrens geschlossen. Über diese Ansprüche hat der Senat daher keine Entscheidung mehr zu treffen.
Anspruchsgrundlage für den klägerischen Erstattungsanspruch ist § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X(idF des Vierten Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000, BGBl I 1983) iVm § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (≪SGB IX≫; hier idF des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.4.2004, BGBl I 606). Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. So liegt der Fall hier.
Die Klägerin ist nachrangig verpflichteter Leistungsträger. Sie hat auf den Rehabilitationsantrag hin ihre Zuständigkeit gegenüber K geprüft und bejaht. Eine Weiterleitung innerhalb der Frist des § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IX ist dementsprechend nicht erfolgt. In solchen Fällen hat der erstangegangene Träger den notwendigen Rehabilitationsbedarf unabhängig davon zu erbringen, ob ein anderer Rehabilitationsträger zuständig gewesen wäre. Für das Erstattungsverhältnis zwischen den Trägern begründet § 14 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 1 und 2 SGB IX damit eine nachrangige Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers, wenn er nach den Zuständigkeitsregelungen außerhalb von § 14 SGB IX unzuständig, ein anderer Träger aber zuständig gewesen wäre. Dies ermöglicht es, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen eines Erstattungsstreits sich die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X vom vorrangig zuständigen Rehabilitationsträger erstatten lässt (stRspr; vgl nur Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 26.6.2007 - B 1 KR 34/06 R - BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr 4, RdNr 9 ff).
Für die Anwendung des § 14 Abs 1 und 2 SGB IX genügt es, dass die Klägerin (jedenfalls) als örtlich und sachlich zuständige Trägerin der Jugendhilfe (§ 69 Abs 1 SGB VIII iVm § 2 Erstes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ≪AG-KJHG NW≫ und § 1 der Verordnung über die Bestimmung Großer kreisangehöriger Städte und Mittlerer kreisangehöriger Städte zu örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe vom 8.11.1991 - Gesetz- und Verordnungsblatt ≪GV≫ NW 598) nach § 6 Abs 1 Nr 6 SGB IX eine Rehabilitationsträgerin ist und Rehabilitationsleistungen erbracht hat. Bei der von ihr erbrachten Maßnahme handelte es sich in der Sache um eine Rehabilitationsleistung. Auf Grundlage der bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lag bei K zumindest auch eine körperlich wesentliche Behinderung durch die hochgradige Schwerhörigkeit vor (vgl § 1 Nr 5 Eingliederungshilfe-Verordnung ≪EinglHV≫). Die Unterbringung in der Wohngruppe war nach seinen Feststellungen auf die Entwicklung des K gerade als hörgeschädigtes und in seiner allgemeinen und sprachlichen Entwicklung gestörtes Kind ausgerichtet. Die Betreuungsmaßnahme in einer spezialisierten Fördereinrichtung für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche ist damit von Beginn an sowohl als notwendige Hilfe zur Erziehung als auch als Rehabilitationsmaßnahme erfolgt. § 14 SGB IX ist auch im Verhältnis solcher Rehabilitationsträger anwendbar, die - die Regelungen des § 14 SGB IX hinweggedacht - in einem Vorrang-/Nachrangverhältnis (hier nach § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII; dazu sogleich) stehen können (vgl BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 21; BSG vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 18). Eine zielgerichtete Zuständigkeitsanmaßung durch die Klägerin, die die Erstattung nach § 104 SGB X ausschlösse, ist auf der Grundlage der den Senat bindenden Feststellungen des LSG nicht gegeben.
K hatte vorrangig einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in der Wohngruppe gegen den Beklagten gemäß §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) iVm § 55 Abs 2 Nr 6 SGB IX. Dieser war für die erbrachten Leistungen "eigentlich" zuständiger Leistungsträger, während für die Klägerin als Jugendhilfeträgerin nur eine nachrangige Verpflichtung bestand. Für Leistungen der Eingliederungshilfe an körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche ergibt sich nämlich aus § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII(in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des SGB VIII vom 14.12.2006, BGBl I 3134) eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Leistungsverpflichtung des nach §§ 97 f SGB XII sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war (vgl BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 26 ff; BVerwG vom 9.2.2012 - 5 C 3.11 - BVerwGE 142, 18 = Buchholz 436.511 § 10 SGB VIII Nr 7, RdNr 31 mwN). Für die Erbringung der Eingliederungshilfe in der Wohngruppe (§§ 53, 54 SGB XII iVm § 55 Abs 2 Nr 6 SGB IX) war der Beklagte der sachlich und örtlich zuständige Sozialhilfeträger. Seine sachliche Zuständigkeit ergibt sich auf der Grundlage der Feststellungen des LSG bei Unterbringung in einer stationären Einrichtung aus § 97 Abs 2 Satz 1 SGB XII iVm § 2 Abs 1 Nr 1 Buchst a Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes Nordrhein-Westfalen (AV-SGB XII NW vom 16.12.2004 - GVBl NRW 816 - in der Fassung vom 11.5.2009 - GVBl NRW 299). Seine örtliche Zuständigkeit folgt aus § 98 Abs 2 SGB XII; denn K hatte im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten, der das Stadtgebiet der Klägerin erfasst.
Nach §§ 53, 54 SGB XII iVm § 55 Abs 2 SGB IX erhalten Personen, die durch eine Behinderung iS von § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX, § 1 EinglHV wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. K war durch seine hochgradige Schwerhörigkeit bei einem GdB von 100 wesentlich körperlich behindert (§ 1 Nr 5 EinglHV). Seine Unterbringung in der speziell auf hörgeschädigte Kinder und Jugendliche ausgerichteten Wohngruppe (Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten, § 55 Abs 2 Nr 6 SGB IX) war nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG angesichts des durch diese hochgradige Schwerhörigkeit verursachten Entwicklungsrückstandes mit Sprachentwicklungsstörung die geeignete Teilhabemaßnahme, da sie erwarten ließ, dass die Behinderungsfolgen gemildert und dem K so die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werde.
Der Erstattungsanspruch für Juli 2009 beträgt der Höhe nach 4704,09 Euro. In diesem Umfang hätte der Beklagte als "eigentlich" zuständiger Rehabilitationsträger Leistungen erbringen müssen. Nach den Feststellungen des LSG sind für die von der Klägerin an K im Juli 2009 erbrachten Leistungen auf Grundlage der maßgeblichen Vereinbarungen Kosten in dieser Höhe entstanden, nämlich für 31 Tage zu einem Tagessatz in Höhe von je 149,66 Euro zuzüglich eines Bekleidungszuschusses in Höhe von täglich 1,23 Euro sowie einem monatlichen "Taschengeld" in Höhe von 26,50 Euro. Nach seinen Feststellungen sind Kostenbeiträge vom Vater des K im Juli 2009 nicht geleistet worden, sodass deren genaue Höhe offenbleiben konnte. Kosten wegen Leistungen an einen Gebärdensprachdolmetscher sind von der Klägerin für Juli 2009 nicht geltend gemacht worden.
Diesem Kostenerstattungsanspruch für die im Juli 2009 erbrachten Leistungen, den die Klägerin im September 2012 gegenüber dem Beklagten geltend gemacht hat, steht der Ablauf der Ausschlussfrist des § 111 SGB X(in der Fassung des Vierten Euro-Einführungsgesetzes) nicht entgegen.
Nach § 111 SGB X ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht (Satz 1). Der Lauf der Frist beginnt nach Satz 2 der Vorschrift frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Seit der Änderung von Satz 2 zum 1.1.2001 (vgl Art 10 Nr 8 des Vierten Euro-Einführungsgesetzes) ist der Zeitpunkt der Entstehung des Erstattungsanspruchs, auf den Satz 2 bis zum 31.12.2000 für den Beginn der Ausschlussfrist abstellte, nicht mehr entscheidend. Mit dieser Änderung des Gesetzes ist - ohne dass dies in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommt (vgl BT-Drucks 14/4375 S 60) - neben das Ziel zügiger Klarstellung der Verhältnisse (zur ursprünglichen Gesetzesbegründung BT-Drucks 9/95 S 26) zumindest auch der Gesichtspunkt der materiellen Ausgleichsgerechtigkeit getreten (vgl nur BSG vom 10.5.2005 - B 1 KR 20/04 R - SozR 4-1300 § 111 Nr 3 RdNr 13; Mutschler in jurisPK-SGB X, § 111 RdNr 3, Stand Januar 2019; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, K § 111 RdNr 2, Stand Dezember 2013; kritisch Roller in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 111 RdNr 2; Böttiger, LPK-SGB X, 5. Aufl 2018, § 111 RdNr 2).
Vorliegend kommt nur eine Berechnung der Ausschlussfrist nach Satz 1 in Betracht. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, scheidet die Anwendung des Satzes 2 von vornherein aus, wenn der erstattungsverpflichtete Träger eine Entscheidung über Leistungen, wie sie der erstattungsberechtigte Träger erbracht hat, überhaupt nicht mehr treffen kann und darf (BSG vom 10.5.2005 - B 1 KR 20/04 R - SozR 4-1300 § 111 Nr 3 RdNr 14; ebenso BVerwG vom 19.8.2010 - 5 C 14.09 - BVerwGE 137, 368 = Buchholz 435.12 § 111 SGB X Nr 5, RdNr 16; kritisch Becker, aaO, K § 111 RdNr 54). Ein solcher Fall liegt bei der Erbringung von Leistungen der Rehabilitation durch den erstangegangenen Träger iS des § 14 SGB IX vor. Da der erstangegangene Träger den Leistungsantrag nicht innerhalb von zwei Wochen (vgl § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IX) weitergeleitet hat, bleibt er nach § 14 SGB IX im Verhältnis zum Leistungsberechtigten zuständig, auch wenn seine Zuständigkeit von Beginn an nur nachrangig war (s oben). Die in § 14 Abs 1 und 2 SGB IX geregelte Zuständigkeit erstreckt sich im Außenverhältnis (behinderter Mensch/Rehabilitationsträger) auf alle Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind. Eine Übernahme des Leistungsfalls durch den vorrangig verpflichteten Rehabilitationsträger ist ausgeschlossen (im Einzelnen BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 30 - 32); für eigene Entscheidungen des erstattungsverpflichteten Trägers gegenüber dem Leistungsberechtigten ist kein Raum.
Die Ausschlussfrist nach Satz 1 stellt auf den Ablauf des letzten Tages ab, für den die Leistung erbracht wurde. Das Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) und das SGB X als die für alle Sozialleistungsbereiche geltenden Bücher enthalten keine eigenständige Definition des Begriffs der Leistung, auf den im Rahmen der Ausschlussfrist zurückgegriffen werden könnte. Mit der Leistung iS des Satzes 1 ist vielmehr die dem Anspruchsberechtigten erbrachte Sozialleistung gemeint; maßgeblich ist also der Leistungsbegriff des jeweiligen Sozialleistungsbereichs, in dem der geltend zu machende Anspruch auf Kostenerstattung im Einzelfall seine Rechtsgrundlage findet.
Für den Fall des Erstattungsanspruchs, der sich für den erstangegangenen Träger einer Rehabilitationsleistung aus § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 14 SGB IX ergibt, ist wegen des Begriffs der erbrachten Leistung damit auf die Regelungen des "eigentlich" verpflichtet gewesenen Trägers zurückzugreifen, an den der erstangegangene Träger den Antrag des Leistungsberechtigten entgegen § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IX nicht innerhalb von zwei Wochen weitergeleitet hat. Das System der verschiedenen Erstattungsansprüche im Anwendungsbereich des § 14 SGB IX und mithin auch die Auslegung des § 111 Satz 1 SGB X muss dem Primärzweck des § 14 SGB IX dienen, nämlich der schnellen Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems im Innenverhältnis. Nicht im Verhältnis zum behinderten Menschen, sondern vielmehr im Erstattungsverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander wird dem gegliederten Sozialrechtssystem Rechnung getragen. Dieser Ausgleichsmechanismus, den der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X verwirklicht, sichert zugleich, dass der Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Rahmen von § 14 SGB IX bejahen kann, ohne allein deshalb verpflichtet zu sein, im Verhältnis zu anderen Rehabilitationsträgern diese Lasten auch endgültig zu tragen. Infolge der fehlenden Weiterleitung hat er über die Leistungen an den behinderten Menschen nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen zu entscheiden, der Erstattungsanspruch ergibt sich aber (nur) aus der Leistung, die er nach den Vorschriften des "eigentlich" zuständigen Trägers erbringt, sodass dieses, gegenüber dem behinderten Menschen im Außenverhältnis zur Anwendung kommende Recht - hier das SGB XII - für die Bestimmung des Laufs der Ausschlussfrist maßgeblich ist. Die Ausschlussfrist läuft damit im Ergebnis ein Jahr nach dem Tag ab, an dem der Leistungsfall, für den der erstangegangene Leistungsträger wegen der fehlenden Weiterleitung zuständig geworden ist, endet. An diesem Ergebnis ändert sich nichts für den Fall, dass - wie vorliegend - eine weitere (nachrangige) Anspruchsgrundlage für die erbrachte Leistung besteht, die sich nach dem Recht des erstangegangenen Trägers richtet.
Die Ausschlussfrist wegen der für Juli 2009 erbrachten Leistungen der stationären Eingliederungshilfe hat allerdings - entgegen der Auffassung des Beklagten - weder mit dem Ende des jeweils mit der Einrichtung abgerechneten Monats noch mit dem Ende des jeweiligen Zeitabschnitts begonnen, für den die Klägerin eine Kostenzusage erteilt hat. Nach den Feststellungen des LSG war K kontinuierlich und ohne qualitative Veränderungen der dortigen Betreuung dauerhaft in der Wohngruppe untergebracht. Damit handelt es sich (auch) nach den Regelungen der §§ 53, 54 SGB XII iVm § 55 SGB IX um eine einheitliche Leistung, auch wenn sie in mehreren Zeitabschnitten erbracht worden ist (vgl Becker, aaO, K § 111 RdNr 26). Allein die Notwendigkeit in bestimmten Zeitabschnitten die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Leistung (in Hilfeplangesprächen) zu überprüfen und die darauf fußende Praxis der Träger, Kostenzusagen gegenüber dem Leistungserbringer nur abschnittsweise zu erteilen und die Leistungen monatsweise abzurechnen, führt nach dem Recht der Eingliederungshilfe nicht dazu, dass im Anschluss an einen solchen Zeitabschnitt (jeweils) ein Anspruch auf eine neue Teilhabeleistung entsteht. Es handelt sich nicht um eine wiederkehrende Leistung; denn erst wenn das Teilhabeziel erreicht ist, ist die Sachleistung vollständig erbracht. Im Übrigen endet der Leistungsfall, auf den sich der Kostenerstattungsanspruch nach § 104 SGB X iVm § 14 SGB IX bezieht, ggf dann, wenn ein maßgeblich veränderter Rehabilitationsbedarf entsteht (vgl BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 22). Dies war nach den bindenden, von dem Beklagten nicht mit Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG vorliegend zwischen Juli 2009 und dem Zeitpunkt der Geltendmachung im September 2012 nicht der Fall.
Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, eine solche Auslegung widerspreche dem Zweck des § 111 Satz 1 SGB X, zügig die Verhältnisse der Träger zueinander klarzustellen. Schon die Änderung des § 111 Satz 2 SGB X zeigt - wie oben ausgeführt -, dass auch Gesichtspunkte der materiellen Ausgleichsgerechtigkeit im Anwendungsbereich des § 111 SGB X eine Rolle spielen sollen. Dieser Gedanke tritt im Verhältnis des erstangegangenen zum eigentlich zuständigen Rehabilitationsträger in den Vordergrund. Die Funktion, die dem Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X im Verhältnis von Rehabilitationsträgern zueinander zukommt, besteht gerade darin, dass die "eigentlichen" Zuständigkeiten, nach denen die Sozialleistungssysteme voneinander abzugrenzen sind (und dabei gerade auch die Kostenträgerschaft), erheblich bleiben sollen. Mit diesem Ziel des Erstattungsanspruchs ist ohne Weiteres vereinbar, dass erst nach Abschluss der jeweiligen Maßnahme der Lauf der Ausschlussfrist beginnt. Bei langfristigen Maßnahmen bietet die Verjährung nach § 113 SGB X dem erstattungsverpflichteten Träger noch einen ausreichenden Schutz. Auf die Einrede der Verjährung hat der Beklagte hier aber ohnehin verzichtet, sodass die Frage nach der Fristberechnung ungeprüft bleiben kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2 Satz 1, 47 Abs 1 und 2, 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Fundstellen
Haufe-Index 13408577 |
BSGE 2020, 36 |