Beteiligte
Landesversicherungsanstalt für das Saarland |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. September 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1948 geborene Kläger durchlief von 1963 bis 1966 erfolgreich eine Ausbildung zum Elektroinstallateur. Diesen Beruf übte er bis 1970 aus. Danach war er als Kontrolleur bei den F. -Werken in S. beschäftigt. Von 1972 bis 1974 arbeitete er als Lkw-Fahrer (mit Fahrerlaubnis Klasse 3), von 1976 bis 1978 als Lagerarbeiter und anschließend bis September 1984 wieder als Lkw-Fahrer. Nach Zeiten der Arbeitslosigkeit absolvierte der Kläger in der Zeit von September 1989 bis September 1990 eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer, Fachrichtung Personenverkehr. Dabei erwarb er auch die Fahrerlaubnis der Klasse 2. Sodann war er von April bis Dezember 1991 als Omnibusfahrer im Buslinienverkehr bei der Firma D. in M. tätig. Die Entlohnung des Klägers richtete sich nicht nach einem Tarifvertrag. Das Arbeitsverhältnis wurde aufgrund häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten des Klägers in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst. In der Folgezeit arbeitete der Kläger noch von Mai bis August 1992 als Hilfsschreiner. Für diese Tätigkeit war eine Anlernzeit von einem Monat erforderlich. Seit Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses war der Kläger arbeitslos oder arbeitsunfähig.
Im April 1992 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder BU. Dies lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Februar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 unter Hinweis auf eine Verweisbarkeit des Klägers auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Am 9. Juni 1995 beantragte der Kläger dann die Rücknahme dieses Verwaltungsaktes gemäß § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) mit der Begründung, daß ihm Berufsschutz als Facharbeiter zuzuerkennen sei. Hilfsweise stellte er einen neuen Antrag auf Gewährung von Rente wegen EU/BU.
Nachdem die Beklagte zunächst den auf § 44 SGB X gestützten Antrag des Klägers durch Bescheid vom 13. Juli 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1995 abgelehnt hatte, beschied sie während des anschließenden Klageverfahrens vor dem Sozialgericht für das Saarland (SG) auch den Neuantrag abschlägig (Bescheid vom 23. Mai 1996). Der nunmehr auf die Gewährung von BU-Rente ab 24. August 1994 beschränkte Klageantrag hatte vor dem SG Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht für das Saarland (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung durch Urteil vom 11. September 1997 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Diese Entscheidung ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Beim Kläger liege keine BU vor. Sein insoweit maßgeblicher bisheriger Beruf sei die 1991 ausgeübte Tätigkeit als Omnibusfahrer im Buslinienverkehr. Daß der Kläger danach noch als Hilfsschreiner gearbeitet habe, sei unerheblich, weil die höherwertige Busfahrertätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben worden sei. Als Busfahrer gehöre der Kläger nicht zur Gruppe der Facharbeiter, denn die Regelausbildungsdauer für Berufskraftfahrer betrage nur zwei Jahre. Zwar würden Berufskraftfahrer iS des einschlägigen Tarifvertrages als Facharbeiter angesehen, dafür bedürfe es jedoch neben dem Facharbeiterbrief nach der Berufskraftfahrer-Verordnung einer zusätzlichen zweijährigen Fahrpraxis mit Führerschein Klasse 2, über die der Kläger nicht verfüge. Als angelernter Arbeiter im oberen Bereich könne der Kläger sozial zumutbar auf solche ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden, die gewisse, wenn auch einfachere Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzten. Insofern kämen die Tätigkeiten eines einfachen Pförtners, Boten oder Parkplatzwächters in Betracht. Es handele sich dabei um einfache körperliche Tätigkeiten nicht aller einfachster Art, deren vollschichtige Ausübung dem Kläger auch gesundheitlich möglich sei.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) sowie der §§ 62, 128 und 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Dazu trägt er ua vor: Die vom LSG aufgeführten Verweisungstätigkeiten seien nicht ordnungsgemäß benannt worden. Es fehle insbesondere an Feststellungen dazu, welche Anforderungen diese Tätigkeiten in gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht stellten und ob er dem nach seinem gesundheitlichen und geistigen Leistungsvermögen sowie seinem beruflichen Können und Wissen gewachsen sei. Darüber hinaus habe das LSG seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Denn er habe erst aus den Urteilsgründen des LSG von den Verweisungstätigkeiten eines einfachen Pförtners, Boten oder Parkplatzwächters erfahren. Damit sei ihm die Möglichkeit genommen, auf weitere Ermittlungen des LSG mit dem Ziel hinzuwirken zu klären, ob er auf die genannten Tätigkeiten verwiesen werden dürfe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. September 1997 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 1996 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und führt ergänzend aus: Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs sei nicht gegeben. Die Verweisung auf die vom LSG genannten Tätigkeiten sei bei angelernten Arbeitern mit entsprechendem Restleistungsvermögen gängige Spruchpraxis der gesamten saarländischen Sozialgerichtsbarkeit. Insofern sei von Anfang an klar gewesen, daß ein Rentenanspruch nur dann bestehe, wenn dem Kläger Facharbeiterstatus zukomme. Davon habe in der Verhandlung vor dem LSG – auch im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Juli 1997 - 5 RJ 8/96 - nicht mehr ausgegangen werden können.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, da es für eine abschließende Entscheidung weiterer Tatsachenfeststellungen zu den vorliegend in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten bedarf.
In materieller Hinsicht ist zwischen den Beteiligten die Gewährung von BU-Rente ab 24. August 1994 streitig. Gegenstand des Verfahrens ist insoweit vorrangig der Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1995, durch den der Antrag des Klägers auf Rücknahme des Rentenversagungsbescheides vom 28. Februar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 abgelehnt worden ist. Darüber hinaus haben die Vorinstanzen zu Recht auch den Bescheid vom 23. Mai 1996 - betreffend die Ablehnung des hilfsweise gestellten Rentenantrages vom 9. Juni 1995 - mit einbezogen. Dieser Verwaltungsakt ist nämlich, ohne daß es der Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte, in entsprechender Anwendung des § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Im Falle eines Erfolges des Zugunstenantrages würde nämlich die mit Bescheid vom 23. Mai 1996 ausgesprochene Verneinung eines Rentenanspruchs (für Zeiten ab 1995) einer durchgängigen Rentenbewilligung entgegenstehen.
Die begehrte Rücknahme des Bescheides vom 28. Februar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 richtet sich nach § 44 SGB X. Abs 1 dieser Vorschrift bestimmt: Soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Im vorliegenden Fall ist es unschädlich, daß der ablehnende Bescheid bereits am 28. Februar 1994 ergangen ist, während der Kläger Rente erst ab 24. August 1994 beansprucht. Zwar stellt § 44 Abs 1 SGB X darauf ab, ob der betreffende Verwaltungsakt bereits bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Insoweit ist jedoch der Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 maßgebend, da der ursprüngliche Bescheid durch diesen erst seine abschließende Gestalt gefunden hat (vgl § 95 SGG; so auch Schneider-Danwitz in SGB-Sozialversicherung-GesamtKomm, § 44 SGB X Anm 10a).
Ob der Bescheid vom 28. Februar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 für die Zeit ab 24. August 1994 hinsichtlich der Versagung von BU-Rente iS von § 44 SGB X rechtswidrig war, ergibt sich aus § 43 SGB VI (vgl § 300 Abs 1 SGB VI). Nach Abs 1 dieser Bestimmung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie
- berufsunfähig sind,
- in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
- vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Berufsunfähig sind nach § 43 Abs 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Ausgangspunkt für die Beurteilung von BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der „bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107 S 334, 169 S 544; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 58). Dabei ist unter dem bisherigen Beruf in der Regel die letzte nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit zu verstehen. Sie ist auch dann maßgebend, wenn sie nur kurzfristig verrichtet wurde, aber zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten war (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 130 S 413; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 58). Eine zuletzt ausgeübte geringerwertige Tätigkeit ist dann unbeachtlich, wenn die vorangegangene höherwertige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben wurde (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 126 S 397 mwN).
Anhand dieser Grundsätze hat das LSG die vom Kläger von April bis Dezember 1991 ausgeübte Tätigkeit als Omnibusfahrer im Buslinienverkehr rechtsfehlerfrei als dessen bisherigen Beruf angesehen. Der Umstand, daß der Kläger danach noch von Mai bis August 1992 als Hilfsschreiner gearbeitet hat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, weil die höherwertige Tätigkeit als Omnibusfahrer nach den unbestrittenen Feststellungen des LSG aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben wurde.
Des weiteren hat das LSG – von den Beteiligten nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen und damit bindend (§ 163 SGG) – festgestellt, daß der Kläger mit seinem gesundheitlichen Restleistungsvermögen nach wie vor nicht mehr als Omnibusfahrer tätig sein kann. Dabei ist es davon ausgegangen, daß dem Kläger noch körperlich leichte Arbeiten vollschichtig möglich sind. Zu vermeiden sind allerdings das Heben und Tragen von Lasten über zehn Kilogramm, häufiges Bücken, Zwangshaltungen an laufenden Maschinen oder Fließbändern, Kälte- und Nässeexpositionen, häufiges Begehen von Treppen sowie das Besteigen von Leitern. Damit ist der Kläger jedoch nicht ohne weiteres berufsunfähig. Es kommt vielmehr darauf an, ob es zumindest eine andere Tätigkeit gibt, die ihm sozial zumutbar und für ihn sowohl gesundheitlich als auch fachlich zuträglich ist.
Ausgehend von dem in § 43 Abs 2 SGB VI verankerten Gedanken des Berufsschutzes soll demjenigen Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der bisherigen Weise arbeiten kann, ein zu starkes Absinken im Beruf erspart bleiben (vgl BSG, Urteil vom 30. Juli 1997 - 5 RJ 8/96 -). Unter Berücksichtigung dieses Gedankens beurteilt sich die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in verschiedene Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufes haben, gebildet worden. Entsprechend diesem sog Mehrstufenschema werden die Arbeiterberufe durch die Gruppen mit den Leitberufen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters gekennzeichnet (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 140 S 453 mwN; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 15 S 49). Die nach diesem Schema vorzunehmende Einordnung eines bestimmten Berufes erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Ausbildung. Entscheidend ist vielmehr die Wertigkeit der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufes, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 15 S 50, Nr 17 S 58 f mwN). Davon ausgehend darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf grundsätzlich auf die nächstniedrigere Berufsgruppe verwiesen werden (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 5 S 21 f mwN; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 59).
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist der bisherigen Beruf des Klägers – wie das LSG zutreffend entschieden hat – dem oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzuordnen. Eine höhere Wertigkeit kommt nach den Feststellungen des LSG nicht in Betracht. Zunächst reicht die nur zweijährige Regelausbildungszeit für Berufskraftfahrer nicht aus, um einen Berufsschutz als Facharbeiter zu vermitteln (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 140 S 454 f; SozR 3-2600 § 43 Nr 15 S 50). Zwar ist darüber hinaus insbesondere auch die tarifvertragliche Einstufung einer Tätigkeit von Bedeutung, wobei im Falle einer fehlenden Tarifbindung – wie hier – der ansonsten einschlägige Tarifvertrag heranzuziehen ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 18 S 71). Aus dem insoweit vom LSG berücksichtigten Lohntarifvertrag für die Arbeitnehmer im Verkehrsgewerbe des Saarlandes ergibt sich jedoch für den Kläger bereits deshalb keine günstigere Einstufung, weil die danach für eine Eingruppierung als Berufskraftfahrer erforderliche zweijährige Fahrpraxis mit der Fahrerlaubnis Klasse 2 fehlt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die individuelle Ausgestaltung der Tätigkeit des Klägers als Omnibusfahrer bei der Firma D. besondere berufliche Anforderungen mit sich brachte, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten.
Als Angehöriger des oberen Bereichs der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters darf der Kläger sozial zumutbar nicht schlechthin auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen werden. Soweit ungelernte Tätigkeiten in Betracht gezogen werden, dürfen diese nicht nur ganz geringen qualitativen Wertes sein. Sie müssen sich vielmehr durch Qualitätsmerkmale auszeichnen, zB das Erfordernis einer nicht ganz geringfügigen Einweisung oder Einarbeitung, die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45 S 187 mwN). Aus dieser Einschränkung folgt zugleich, daß mindestens eine danach in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu benennen ist (vgl BSG aaO).
Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die vom LSG insoweit angeführten Tätigkeiten eines einfachen Pförtners, Boten oder Parkplatzwächters in diesem Sinne ordnungsgemäß benannt worden sind. So ist der Begriff „Bote” sicher zu unbestimmt, da er sowohl – dem Kläger unzumutbare – einfache Botengänge (vgl BSG SozR Nr 32 zu § 1246 RVO) als auch gehobene Botentätigkeiten (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 34 S 105) umfaßt. Entsprechendes gilt für den Beruf eines Parkplatzwächters, der vom BSG geradezu als Beispiel für eine qualitativ ganz geringwertige Tätigkeit genannt worden ist (vgl BSGE 43, 243, 246 f = SozR 2200 § 1246 Nr 16; dazu auch BSG, Beschluß vom 7. Oktober 1988 - 5 BJ 195/88 -). Selbst wenn man die Bezeichnung „einfacher Pförtner” ohne besondere Angaben zu Qualitätsmerkmalen ausreichen lassen wollte (so wohl BSG, Urteil vom 13. Juli 1988 - 5/4a RJ 19/87 -; vgl dazu allerdings BSG, Urteile vom 14. Dezember 1995 - 5 RJ 10/95 -, vom 22. Oktober 1996 - 13 RJ 35/95 - und vom 17. Dezember 1997 - 13 RJ 59/97 -), vermag der erkennende Senat diesen Beruf (ebensowenig wie die anderen vom LSG genannten) seiner Entscheidung nicht als eine für den Kläger passende Verweisungstätigkeit zugrunde zu legen, weil die betreffenden Tatsachenfeststellungen des LSG in verfahrensfehlerhafter Weise zustande gekommen sind.
Wie der Kläger zutreffend rügt, hat das LSG seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl §§ 62, 128 Abs 2 SGG) dadurch verletzt, daß es die genannten Verweisungstätigkeiten – die zuvor in keiner Weise in das Verfahren eingeführt worden waren – erst in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils aufgeführt hat. Dadurch hatte der Kläger im vorinstanzlichen Verfahren keine Gelegenheit, zur sozialen Zumutbarkeit dieser Tätigkeiten und insbesondere auch dazu Stellung zu nehmen, ob er die damit verbundenen Anforderungen gesundheitlich wie fachlich zu bewältigen vermag (vgl dazu BSG SozR 1500 § 62 Nr 11; SozR 2200 § 1246 Nr 98).
Eine andere Beurteilung ist auch nicht – wie die Beklagte annimmt – im Hinblick auf die Spruchpraxis des LSG zur Verweisung „oberer Angelernter” gerechtfertigt. Abgesehen davon, daß die von der Beklagten dazu vorgelegten Urteile (aus der Zeit von 1993 bis 1997) durchaus insoweit Differenzierungen erkennen lassen, als auch andere Verweisungsberufe (zB Telefonist, Parkhauswächter) Verwendung gefunden haben, ist eine derartige Rechtsprechung schon ihrer Art nach nicht geeignet, im konkreten Einzelfall jedweden berufungsgerichtlichen Hinweis auf die für eine Verweisung in Betracht gezogenen Tätigkeiten entbehrlich zu machen. Dem Sinn und Zweck des § 128 Abs 2 SGG entsprechend ist das Gericht grundsätzlich nur dann seiner Pflicht, entscheidungserhebliche Tatsachen ausdrücklich in den Prozeß einzuführen, enthoben, wenn diese (wegen ihrer Allgemeinkundigkeit) allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und letzteren auch die mögliche Bedeutung dieser Tatsachen für die Entscheidung bewußt ist (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15). Davon konnte das LSG in bezug auf die genannten Verweisungstätigkeiten schon deshalb nicht ausgehen, weil jede Verweisung eine individuelle Abgleichung des Restleistungsvermögens des Versicherten mit den Anforderungen der betreffenden Tätigkeit voraussetzt (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 98; SozR 3-2200 § 1246 Nr 33).
Soweit die Beklagte geltend macht, das LSG habe den gesamten Umständen nach keine für den Kläger überraschende Entscheidung getroffen, übersieht sie, daß das aus § 62 SGG ableitbare Verbot von Überraschungsentscheidungen die sich für ein Gericht aus § 128 Abs 2 SGG ergebenden Pflichten nicht einschränkt, sondern diese dahingehend erweitert, daß es auch Hinweise auf neue rechtliche Gesichtspunkte sowie auf eine unvorhersehbare Würdigung an sich bekannter Tatsachen erforderlich macht (vgl zB BSG SozR 1500 § 62 Nr 20; allgemein dazu Meyer-Ladewig, SGG mit Erl, 6. Aufl, § 62 RdNrn 8 ff).
Schließlich ist der Kläger auch nicht gehindert, sich auf eine Verletzung der §§ 62, 128 Abs 2 SGG zu berufen. Allerdings hat das BSG – im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl zB BVerfGE 5, 9, 10; BVerfG MDR 1981, 470) – mehrfach entschieden, daß ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs dann nicht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt, wenn der betreffende Verfahrensbeteiligte die vorhandenen prozessualen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, nicht ausgeschöpft hat (vgl zB BSGE 7, 209, 211; BSG, Urteil vom 1. August 1975 - 6 RKa 2/74 - in USK 7567). Dabei handelt es sich um Fälle, in denen der Beteiligte ein bereits beabsichtigtes Vorbringen nicht hinreichend (zB durch Anträge auf Weiterführung oder Vertagung der mündlichen Verhandlung) zur Geltung gebracht (vgl BSG, Urteil vom 1. August 1975 - 6 RKa 2/74 - in USK 7567, Beschlüsse vom 26. Juni 1985 - 2 BH 7/83 - und vom 26. Juni 1991 - 5 BJ 141/90 -) oder eine bereits vorhandene Kenntnis von der Existenz bestimmter entscheidungserheblicher Tatsachen oder Unterlagen nicht in der gebotenen Weise (zB durch Akteneinsicht) vervollständigt hatte (vgl BSGE 7, 209, 211 f; BSG, Beschluß vom 28. Januar 1993 - 2 BU 131/92 -). Diese Fallgestaltungen sind mit der vorliegenden nicht vergleichbar. Da zwischen den Beteiligten unstreitig war, daß der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr auszuüben vermochte, konnte er abwarten, welche Verweisungstätigkeit ihm benannt werden würde. Denn insoweit trug die Beklagte die objektive Darlegungs- und Beweislast (vgl zB BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 14 S 41). Wollte man dem damals bereits rechtskundig vertretenen Kläger dennoch unter dem Gesichtspunkt einer mangelnden Ausschöpfung prozessualer Möglichkeiten einen Vorwurf daraus machen, daß er in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG die Frage einer möglichen Verweisungstätigkeit nicht von sich aus angesprochen hat, würde man richterliche Pflichten betreffend einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf letztlich auf ihn verlagern und damit seine Rechte aus §§ 62, 128 Abs 2 SGG in unzulässiger Weise aushöhlen.
Nach dem Vorbringen des Klägers kann die angefochtene Entscheidung auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß die Vorinstanz nach einer vom Kläger angestrebten weiteren Sachaufklärung zu dem Ergebnis gelangt wäre, die aufgeführten Verweisungstätigkeiten seien für den Kläger entweder sozial unzumutbar oder mit Rücksicht auf seine Kräfte und Fähigkeiten ungeeignet. Da der erkennende Senat die für eine ordnungsgemäße Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlichen Tatsachenfeststellungen nicht selbst treffen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 542764 |
SGb 1999, 75 |