Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 13.11.1996) |
SG Stade (Urteil vom 09.05.1995) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. November 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 9. Mai 1995 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das gesamte Verfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für die Entgiftungsbehandlung eines Suchtkranken.
Der bei der Beklagten rentenversicherte, jedoch nicht gesetzlich krankenversicherte Beigeladene war alkohol- und drogenabhängig. Nach Abbruch einer von der Beklagten geförderten Langzeitentwöhnungsbehandlung (September 1992) bezog er vom Kläger als zuständigem Sozialhilfeträger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Auf seinen Antrag vom 28. Juni 1993 gewährte die Beklagte ihm erneut eine Drogenentwöhnungsbehandlung als medizinische Leistung zur Rehabilitation (Reha) mit der Auflage, daß zuvor eine körperliche Entgiftung erfolge (Bescheid vom 9. Juli 1993). Die Entgiftungsbehandlung wurde im Niedersächsischen Landeskrankenhaus L.… in der Zeit vom 14. Juli bis 2. August 1993 durchgeführt. Dabei entstanden Kosten in Höhe von 6.270,16 DM. Die anschließend vorgesehene Entwöhnungsbehandlung trat der Beigeladene nicht an. Mit Schreiben vom 7. September 1993 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Entgiftungsbehandlung. Dies wurde von der Beklagten abgelehnt (Bescheid vom 8. November 1993; Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1993).
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Stade die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß die Beklagte zur Übernahme der Kosten für die dem Beigeladenen gewährte Entgiftungsbehandlung in Höhe von 6.270,16 DM verpflichtet sei (Urteil vom 9. Mai 1995). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die (zugelassene) Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 13. November 1996) und sein Urteil im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Erstattungsanspruch des Klägers folge aus § 104 Abs 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Der Kläger sei als Träger der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs 1 BSHG lediglich nachrangig verpflichtet gewesen, dem Versicherten Krankenhilfe in Form der Entgiftungsbehandlung zu gewähren. Der Senat teile nicht die Auffassung des SG, wonach die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Kostenerstattung einer Entgiftungsbehandlung weiter anwendbar sei (Hinweis auf BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23). Angesichts der eindeutigen Gesetzesformulierung, wonach der Rentenversicherungsträger die in § 13 Abs 2 Nrn 1 bis 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) umschriebenen Leistungen nicht erbringe, hätte es eines Hinweises in den Gesetzesmotiven bedurft, daß die bisherige Rechtsprechung des BSG für die Reha Suchtabhängiger weiterhin maßgebend sei.
Nach der neuen Rechtslage sei vielmehr jeweils eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. Diese erlaube es nicht, im vorliegenden Fall von einer Akutphase der Polytoxikomanie auf eine akute Behandlungsbedürftigkeit des Beigeladenen zu schließen. Zwar könnten im Rahmen der Entgiftungsbehandlung Komplikationen mit zum Teil schwerwiegenden Folgen auftreten, die eine von Anfang an notwendige intensive ärztliche Überwachung erforderten. Die Komplikationen müßten aber nicht zwingend auftreten und könnten sich zudem ggf erst nach Beginn der Entgiftungsbehandlung einstellen. Die Frage nach dem Vorliegen einer Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit müsse nach den gesundheitlichen Verhältnissen in ihrer Gesamtheit beurteilt werden, die bei einem Versicherten im Zeitpunkt der Aufnahme zur Entgiftung bestanden hätten. Vorliegend hätten beim Beigeladenen am Tag der Aufnahme in das Landeskrankenhaus akut behandlungsbedürftige Erkrankungen in Gestalt von Organschäden, neurologischen Schäden oder infektiösen Erkrankungen nicht vorgelegen. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des Dr. B.… vom 6. Mai 1996. Deshalb liege ein Leistungsausschlußgrund nach § 13 Abs 2 Nr 1 SGB VI nicht vor.
Ebenfalls könne sich die Beklagte nicht auf den Ausschlußgrund des § 13 Abs 2 Nr 2 SGB VI berufen, weil die Entgiftungsbehandlung nicht anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung durchgeführt worden sei. Zur Beantwortung dieser Frage sei wiederum auf den Gesundheitszustand des Beigeladenen im Zeitpunkt der Aufnahme im Landeskrankenhaus abzustellen. Hierbei gelte das bereits Gesagte entsprechend.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 13, 15 SGB VI. Dazu trägt sie im wesentlichen vor: Die durch die Vorinstanzen vorgenommene Rechtsauslegung stimme nicht mit dem Inhalt der Vorschriften des SGB VI überein. Insbesondere verstoße das Urteil des LSG gegen § 15 SGB VI. Aufgrund der beim Beigeladenen am Aufnahmetag festgestellten akuten Polytoxikomanie könne im vorliegenden Fall nicht von einer medizinischen Leistung zur Reha ausgegangen werden. Es handele sich nicht um eine Behinderung, bei der es um Beseitigung oder Besserung bzw Verhütung von Verschlimmerungen gegangen sei, sondern um die akute Krankenbehandlung eines hochgradig intoxiierten Versicherten.
Des weiteren habe das LSG verkannt, daß hier der Leistungsausschluß nach § 13 Abs 2 SGB VI eingreife. Jeder polytoxikomane körperliche Zustand sei ein Indiz für akute Behandlungsbedürftigkeit iS des § 13 Abs 2 Nr 1 SGB VI, genauso wie etwa eine verschlossene Coronararterie, die regelmäßig auch nicht sofort dilatiert werden müsse. Insofern sei die vom LSG vorgenommene einengende Auslegung des Begriffs der akuten Behandlungsbedürftigkeit iS einer notfallmäßigen Aufnahme unzutreffend. Entgiftungsbehandlungen seien mit der Gefahr schwerer Komplikationen verbunden, die von Anfang an eine intensive ärztliche Überwachung erforderten, und stellten sich daher stets als akuter behandlungsbedürftiger Zustand dar.
Überdies liege ein Ausschluß gemäß § 13 Abs 2 Nr 2 SGB VI vor. Im Hinblick auf die geschilderten Gefahren, insbesondere bei Entgiftung substituierter Versicherter, sei stets die besondere medizinische Infrastruktur eines Krankenhauses erforderlich. Im übrigen werde durch § 13 Abs 3 Satz 2 SGB VI klargestellt, daß nach Inkrafttreten des SGB VI der Rentenversicherungsträger Kosten für eine Akutbehandlung nicht übernehmen solle.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. November 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 9. Mai 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und trägt vor: Die bisherige Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23) habe weiterhin zu gelten. Eine Änderung der bisherigen Rechtslage sei durch das Inkrafttreten des SGB VI nicht eingetreten. Dies ergebe sich aus der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des § 13 SGB VI. Diese Vorschrift beinhalte lediglich eine klarstellende Regelung, aber keine Einschränkung der Leistungspflicht der Rentenversicherungsträger. Die Maßnahmen der Entgiftung und anschließenden Entwöhnung stünden in einem untrennbaren funktionellen Zusammenhang. Deswegen erfolge die Aufnahme in ein Krankenhaus auch nicht im Hinblick auf eine Akutbehandlung des Suchtleidens, sondern mit der Zielsetzung, die Voraussetzung für die Durchführung einer medizinischen Reha-Maßnahme in Form der Entwöhnung zu schaffen. Im übrigen sei der Träger der Sozialhilfe kein Reha-Träger iS des Reha-Rechts.
Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
In der mündlichen Verhandlung vor dem BSG hat die Beklagte den Bescheid vom 8. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 1993 aufgehoben. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Dem Kläger steht entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die in der Zeit vom 14. Juli bis 2. August 1993 durchgeführte Entgiftungsbehandlung des Beigeladenen gegen die Beklagte zu.
Als Rechtsgrundlage für einen Erstattungsanspruch kommt allein § 104 Abs 1 SGB X in Betracht. Danach gilt: Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne daß die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (Satz 1). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungspflicht eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet wäre (Satz 2). Erläuternd heißt es in § 104 Abs 1 Satz 3 SGB X zum Nachrangverhältnis, daß ein Erstattungsanspruch nicht besteht, soweit der nachrangige Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen. § 104 SGB X geht also von nebeneinander bestehenden Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger aus, wobei die Verpflichtung eines dieser Leistungsträger wegen System- oder Einzelanspruchssubsidiarität der Leistungspflicht des anderen nachgeht (BSGE 59, 119, 123 = SozR 1300 § 104 Nr 7; BSGE 70, 186, 194 = SozR 3-1200 § 53 Nr 4; BSGE 74, 36, 38 = SozR 3-1300 § 104 Nr 8). Ob sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 104 Abs 1 SGB X – zu denen als ungeschriebene Voraussetzungen ua Rechtmäßigkeit der erbrachten Leistungen, Vergleichbarkeit der Leistungspflichten und sog zeitliche Konkurrenz gehören (vgl etwa BSGE 74, 36, 39 = SozR 3-1300 § 104 Nr 8) – hier erfüllt sind, kann offenbleiben; denn das Erstattungsbegehren des an sich gemäß § 2 Abs 1 BSHG nachrangig leistungspflichtigen Klägers scheitert jedenfalls daran, daß dem Beigeladenen gegen die Beklagte kein (vorrangiger) Anspruch auf Entgiftungsbehandlung zustand.
Die Prüfung eines solchen Anspruchs hat bei den §§ 9 ff SGB VI iVm den Bestimmungen des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) anzusetzen. Gegen die Anwendbarkeit des RehaAnglG, das in den maßgebenden Vorschriften bereits zum 1. Oktober 1974 in Kraft getreten ist (§ 45 Abs 1 RehaAnglG), ergeben sich von vornherein keine Bedenken. Die Vorschriften des SGB VI finden Anwendung, weil der Antrag auf Leistungen zur Reha (vgl § 115 Abs 1 Satz 1 SGB VI) vom Versicherten im Juni 1993 gestellt wurde (vgl §§ 300, 301 SGB VI).
Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VI, der selbst nicht Anspruchsgrundlage ist, erbringt die Rentenversicherung medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen zur Reha, um
- den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und
- dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.
Gemäß § 9 Abs 2 Satz 1 SGB VI können die Leistungen nach Abs 1 erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Die persönlichen Voraussetzungen werden vom Gesetzgeber in § 10 SGB VI, die versicherungsrechtlichen in § 11 SGB VI konkretisiert. Darüber hinaus werden medizinische Leistungen zur Reha gemäß § 12 SGB VI bei Vorliegen bestimmter Tatbestände nicht erbracht. Ob diese teils positiv, teils negativ formulierten Anspruchsvoraussetzungen im vorliegenden Fall verwirklicht sind, kann offenbleiben. Denn für die umstrittene Entgiftungsbehandlung bestand schon aus anderen Gründen keine Leistungspflicht der Beklagten.
Allerdings kann eine ärztlich indizierte stationäre Entgiftungsbehandlung ihrer Art nach zu den in § 9 Abs 1 SGB VI angesprochenen medizinischen Leistungen zur Reha gehören. Diese umfassen gemäß § 15 Abs 1 SGB VI insbesondere
- Behandlung durch Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anordnung durchgeführt werden, einschließlich der Anleitung der Versicherten, eigene Abwehr- und Heilungskräfte zu entwickeln,
- Arznei- und Verbandmittel, Heilmittel einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie und Beschäftigungstherapie,
- Belastungserprobung und Arbeitstherapie,
- Körperersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel einschließlich der notwendigen Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie der Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel.
Die Aufzählung dieser Leistungsarten ist – wie schon die in den einschlägigen Vorläuferbestimmungen (vgl § 14 des Angestelltenversicherungsgesetzes, § 1237 der Reichsversicherungsordnung und § 36 des Reichsknappschaftsgesetzes) – kein abgeschlossener Katalog, sondern, wie aus dem Wort “insbesondere” hervorgeht, eine lediglich beispielhafte Auflistung von typischerweise in Betracht kommenden medizinischen Leistungen zur Reha. Es handelt sich um einen “offenen” Tatbestand, dessen Weite nicht zuletzt durch § 10 RehaAnglG umrissen wird (BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr 2 mwN), der davon spricht, daß die medizinischen Leistungen zur Reha “alle Hilfen” umfassen sollen, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine Behinderung zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.
Hiernach wird auch die stationäre Entgiftungsbehandlung eines Alkohol- bzw Suchtkranken, die einer stationären Entwöhnungsbehandlung vorausgeht, im Grundsatz ebenso wie diese vom Begriff der medizinischen Leistungen zur Reha iS von § 15 Abs 1 und 2 SGB VI erfaßt. Denn insoweit reicht es aus, daß es sich um eine ärztliche Behandlungsmaßnahme handelt. Diesbezüglich ergibt sich kein Unterschied zur früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung, die dabei auch auf den funktionellen medizinischen Zusammenhang abgestellt hat, der zwischen Entgiftung und Entwöhnung in bezug auf das Reha-Ziel anzunehmen ist (BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23; BSGE 68, 167 = SozR 3-2200 § 1237 Nr 1; BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr 2).
Gleichwohl war hier eine Leistungserbringung durch die Beklagte ausgeschlossen. Dies folgt aus § 13 Abs 2 SGB VI, der im Kontext mit den übrigen Absätzen dieses Paragraphen zu lesen ist.
Während in § 13 Abs 1 SGB VI der allgemeine Grundsatz normiert ist, daß der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen zur Reha sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt, heißt es in Abs 2 des § 13 SGB VI: Der Träger der Rentenversicherung erbringt nicht
- medizinische Leistungen zur Reha in der Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit, es sei denn, die Behandlungsbedürftigkeit tritt während der medizinischen Leistungen zur Reha ein,
- medizinische Leistungen zur Reha anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung,
- medizinische Leistungen zur Reha, die dem allgemein anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse nicht entsprechen.
In Abs 3 des § 13 SGB VI findet sich darüber hinaus geregelt: Der Träger der Rentenversicherung erbringt nach Abs 2 Nr 1 im Benehmen mit dem Träger der Krankenversicherung für diesen Krankenbehandlung und Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (Satz 1). Er kann von dem Träger der Krankenversicherung Erstattung der hierauf entfallenden Aufwendungen verlangen (Satz 2). Nach § 13 Abs 4 SGB VI schließlich vereinbaren die Träger der Rentenversicherung mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen gemeinsam und einheitlich im Benehmen mit dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Näheres zur Durchführung von Abs 2 Nrn 1 und 2.
Diesen ab 1. Januar 1992 anzuwendenden Bestimmungen läßt sich nicht entnehmen, daß sie nur eine Abgrenzung der Leistungszuständigkeit der Rentenversicherungsträger gegenüber derjenigen der Krankenversicherungsträger beträfen. Vielmehr stellt § 13 Abs 2 SGB VI eine allgemeine, dh umfassende Ausschlußklausel dar, die sich auch auf das Verhältnis zu den Trägern der Sozialhilfe bezieht.
Für eine derartige Auslegung spricht zunächst der weit gefaßte Wortlaut des § 13 Abs 2 SGB VI, der – anders als die Absätze 3 und 4 dieser Vorschrift – keine ausdrücklichen Hinweise auf die gesetzliche Krankenversicherung enthält. Ebensowenig erlauben die Bezugnahmen auf Abs 2 Nrn 1 und 2 in den Absätzen 3 und 4 den zwingenden Schluß, auch Abs 2 regele nur das Verhältnis zu den Krankenversicherungsträgern. Abgesehen davon, daß bei einer derartigen Betrachtungsweise § 13 Abs 2 Nr 3 SGB VI unberücksichtigt bliebe, erscheint es gesetzessystematisch durchaus als stimmig, wenn einer allgemeinen Ausschlußklausel weitere Vorschriften zu bestimmten, praktisch bedeutsamen Anwendungsmodalitäten – hier betreffend die Krankenversicherung – beigefügt werden. Hätte der Gesetzgeber in § 13 Abs 2 SGB VI ausschließlich das Verhältnis zwischen Renten- und Krankenversicherungsträgern regeln wollen, so hätte es nahe gelegen, dort – wie in den Absätzen 3 und 4 des § 13 SGB VI – eine allein auf das Verhältnis zu den Trägern der Krankenversicherung bezogene Regelungsabsicht zum Ausdruck zu bringen. Das ist indes nicht geschehen.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der § 13 SGB VI betreffenden Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992). Allerdings heißt es darin ua: “Absatz 2 Nr. 1 schließt entsprechend der bisherigen Rechtslage für die Dauer der akuten Phase einer Erkrankung medizinische Leistungen zur Rehabilitation aus. Die Beurteilung, wann die Akutbehandlung endet, ob und in welchem Umfang bestimmte Therapieformen vor allem bei psychisch Kranken der Akutbehandlung zuzurechnen sind, insbesondere wenn sie auf die Behebung der psychischen Fehlhaltung und auf die Stabilisierung der Persönlichkeit ausgerichtet sind, ist jedoch häufig schwierig. Deshalb sieht Absatz 4 vor, daß die beteiligten Leistungsträger hierüber eine Vereinbarung treffen” (BT-Drucks 11/4124 S 155 = BR-Drucks 120/98 S 155). Diese Ausführungen lassen jedoch nicht hinreichend klar erkennen, daß damit der gesamte Regelungsgehalt des § 13 Abs 2 SGB VI erfaßt werden sollte. Es mag wohl sein, daß eine Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Renten- und Krankenversicherung im Vordergrund der gesetzgeberischen Beratungen gestanden hat, eine entsprechende Beschränkung der Regelung des § 13 Abs 2 SGB VI muß damit aber nicht beabsichtigt gewesen sein.
Auch die Darlegungen in den Gesetzesmotiven, daß § 13 Abs 2 Nr 1 “entsprechend der bisherigen Rechtslage für die Dauer der akuten Phase einer Erkrankung medizinische Leistungen zur Reha” ausschließe und daß es dem Rentenversicherungsträger “in Anlehnung an das bisherige Recht” möglich sein solle, “während der von ihm erbrachten medizinischen Leistungen zur Reha anstelle des Krankenversicherungsträgers Krankenbehandlung und Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft zu übernehmen, wenn die Reha voraussichtlich erfolgreich weitergeführt werden kann” (BT-Drucks 11/4124 S 155), rechtfertigten nicht die Annahme, § 13 Abs 2 SGB VI beschränke sich ausschließlich auf das Verhältnis der Rentenversicherungsträger zu den Krankenversicherungsträgern und lasse bei fehlendem Krankenversicherungsschutz eine Leistungspflicht der Rentenversicherungsträger in der Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit zu. Insbesondere kann mit den Hinweisen auf das bisherige Recht nicht das Urteil des BSG vom 16. November 1989 – 5 RJ 3/89 – (BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23) gemeint gewesen sein. Dieses ist den Beteiligten nämlich nachweislich erst im Januar 1990 zugestellt worden. Demgegenüber datiert der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum RRG 1992 vom 10. März 1989 (BR-Drucks 120/89). Mit Formulierungen wie “entsprechend der bisherigen Rechtslage” bzw “in Anlehnung an das bisherige Recht” kann sich der Gesetzgeber mithin nur auf die Rechtspraxis in der Zeit vor der Entscheidung des BSG vom 16. November 1989 (aaO) bezogen haben. Danach aber sahen sich die Rentenversicherungsträger für die Durchführung von Entgiftungsbehandlungen allgemein nicht als zuständig an (vgl dazu Vömel, DRV 1990, 662; ders, DRV 1991, 429).
Schließlich gebieten Sinn und Zweck des § 13 Abs 2 SGB VI die vom erkennenden Senat vertretene Auslegung des § 13 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGB VI. Wenn nämlich der Begriff der medizinischen Leistungen zur Reha iS des § 15 Abs 1 SGB VI, wie oben dargelegt, weit auszulegen ist, bedarf es zur Eingrenzung der Reha-Aufgaben des Rentenversicherungsträgers einer (wortlautgetreu) weiten Auslegung auch der Ausschlußtatbestände des § 13 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGB VI. Andernfalls würde der Rentenversicherungsträger zum subsidiären Krankenversicherungsträger, was mit dem gegliederten Sozialleistungssystem und der gesetzlichen Zuordnung bestimmter Aufgabenbereiche zu bestimmten Leistungsträgern kaum zu vereinbaren wäre (vgl Vömel, DRV 1991, 429, 431; allg dazu auch Krasney, Sucht aktuell, Heft 4/1996, 24, 26 f).
Findet danach die Ausschlußklausel des § 13 Abs 2 SGB VI im vorliegenden Fall Anwendung, so liegen nach den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen auch deren Voraussetzungen vor. Ob die hier durchgeführte Entgiftungsbehandlung den Begriff der “erforderlichen Krankenhausbehandlung” iS des § 13 Abs 2 Nr 2 SGB VI erfüllt, kann offenbleiben; denn nach Auffassung des Senats sind jedenfalls die Tatbestandsmerkmale des § 13 Abs 2 Nr 1 SGB VI gegeben. Der Beigeladene litt während der Dauer der Entgiftungsbehandlung (14. Juli bis 2. August 1993) unter einer “behandlungsbedürftigen Krankheit”, die nicht während der Dauer medizinischer Leistungen zur Reha eingetreten war, und befand sich dabei in einer “Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit”.
Daß der Beigeladene im genannten Zeitraum behandlungsbedürftig krank war, kann keinen Zweifeln unterliegen. Sein Gesundheitszustand wich, was letztlich ausschlaggebend ist (vgl etwa BSGE 35, 10, 12 = SozR Nr 52 zu § 182 RVO; Kasseler Komm/Höfler, § 27 SGB V, RdNr 19; jeweils mwN), aufgrund der Alkohol- bzw Suchtmittelintoxikation von dem eines gesunden Menschen in so beträchtlichem Maße ab, daß es zu seiner Wiederherstellung ärztlicher Betreuung bedurfte. Auch das LSG geht konkludent vom Vorliegen einer “behandlungsbedürftigen Krankheit” aus; denn es hat seine Entscheidung nicht auf dieses Merkmal, sondern auf das Fehlen einer “Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit” gestützt. Daß die behandlungsbedürftige Krankheit des Beigeladenen nicht während der Dauer medizinischer Leistungen zur Reha eingetreten ist, liegt offen zutage.
Entgegen der Auffassung des LSG erfolgte die Entgiftung aber auch in einer “Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit”. Was hierunter genau zu verstehen ist, braucht der Senat nicht abschließend zu definieren. Akut ist jedenfalls ein (regelmäßig plötzlich auftretender, schnell und heftig verlaufender) Zustand, der – im Gegensatz zu einem chronischen Krankheitsgeschehen (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl 1998, unter “akut”) – durch (intensive) ärztliche Bemühungen relativ kurzfristig behoben oder wesentlich gebessert werden kann. Darum handelt es sich hier. Denn eine bestehende Suchtmittelintoxikation ist unter ärztlicher Überwachung – wie der vorliegende Fall zeigt – grundsätzlich innerhalb weniger Tage oder Wochen zu beseitigen, um den Betroffenen auf die anstehende Entwöhnungsbehandlung vorzubereiten.
Ob sich während der Entgiftungsbehandlung Entzugsdeliri und sonstige krankhafte Begleiterscheinungen einstellen, ist unerheblich. Maßgebend ist, daß mit der Entgiftungsbehandlung Komplikationen – zB Entzugsdeliri, Krampfanfälle, Leberversagen, Halluzinationen und Kreislaufzusammenbrüche – einhergehen “können”, die, sofern sie auftreten, ärztlicher Betreuung bedürfen.
Dieses Ergebnis deckt sich mit der sog Sucht-Vereinbarung vom 20. November 1978 (abgedruckt ua in BKK 1979, 58 f), die, soweit ersichtlich, weiterhin gilt. Darin haben die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (BSGE 46, 41 = SozR 2200 § 184a Nr 1) zur Leistungsabgrenzung zwischen Kranken- und Rentenversicherung bei der Reha Abhängigkeitskranker ua vereinbart, daß der nahtlose Übergang von der Entzugsbehandlung in die Entwöhnungsbehandlung anzustreben ist (§ 3 Abs 2 der Vereinbarung) und daß für die Gewährung der Entzugsbehandlung (§ 3 Abs 1 der Vereinbarung) grundsätzlich der Krankenversicherungsträger (§ 4 Abs 2 der Vereinbarung) und für die Gewährung der Entwöhnungsbehandlung (§ 2 der Vereinbarung) der Rentenversicherungsträger zuständig ist (§ 4 Abs 1 der Vereinbarung). Wenn aber die Entzugsbehandlung bei Bestehen einer gesetzlichen Krankenversicherung sinngemäß als eine nicht von den Rentenversicherungsträgern zu erbringende “Akutbehandlung” angesehen wird, erscheint eine solche Betrachtungsweise bei Anwendung des § 13 Abs 2 SGB VI auch in den Fällen angebracht, in denen ein Krankenversicherungsschutz fehlt (vgl dazu allg BSG SozR Nr 7 zu § 1237 RVO).
Eine derartige Auslegung und Anwendung des § 13 Abs 2 SGB VI läßt keine Gesetzeslücke erkennen, die der Ausfüllung bedürfte. Von einer “planwidrigen Unvollständigkeit” des Gesetzes (BGHZ 65, 300, 302; BGH NJW 1988, 2109, 2110) kann nicht die Rede sein. Wenn der Rentenversicherungsträger bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art keine medizinischen Leistungen zur Reha erbringen soll, entspricht dies dem deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers. Besteht für den alkohol- bzw suchtkranken Versicherten kein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz, so greift bei bestehender Bedürftigkeit nach Maßgabe des BSHG eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers ein. Damit ist sichergestellt, daß eine erforderliche Entwöhnungsbehandlung nicht an den Kosten für die notwendigerweise vorgeschaltete Entgiftung scheitern muß. Daß dabei trotz des funktionellen Zusammenhangs zwischen Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung zwei verschiedene Leistungsträger tätig werden, stellt keine gravierende Beeinträchtigung der Reha dar, entspricht diese Aufgabenverteilung doch der Situation im Verhältnis zwischen Renten- und Krankenversicherungsträgern.
Der Senat verkennt nicht, daß zwischen den Sozialhilfeträgern und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger keine Vereinbarung existiert, die der zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger getroffenen Sucht-Vereinbarung vergleichbar wäre. Um so deutlicher ist darauf hinzuweisen, daß alle Leistungsträger auch ohne eine solche Vereinbarung von Rechts wegen verpflichtet sind, bei der Erfüllung der ihnen nach dem Sozialgesetzbuch obliegenden Aufgaben eng zusammenzuarbeiten (§ 86 SGB X). Dort, wo es um den nahtlosen Übergang von der Entzugsbehandlung in die Entwöhnungsbehandlung geht, ist dieser Verpflichtung im Interesse des Betroffenen von seiten beider beteiligten Leistungsträger in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Dabei gehört es gemäß § 5 RehaAnglG zu den einem Reha-Träger obliegenden Aufgaben, durch rechtzeitige Planung und Festlegung von Rückmeldungen sicherzustellen, daß die Reha bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen lückenlos bis zur vollständigen Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durchgeführt wird (vgl BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr 4).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Dabei war zu berücksichtigen, daß sich der Beigeladene während des gesamten Verfahrens nicht geäußert hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1058862 |
BSGE, 143 |
DStR 1999, 1539 |
FEVS 1999, 519 |
SGb 1998, 360 |
SozSi 1999, 217 |