Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Berufung. fehlende Unterschrift
Leitsatz (amtlich)
Das Schriftlichkeitserfordernis des § 151 Abs 1 SGG kann ausnahmsweise auch dann erfüllt sein, wenn der Berufungsschriftsatz zwar keine eigenhändige Unterschrift, aber detaillierte Angaben zum Gegenstand des Rechtsstreits enthält und dem Gericht in einem Umschlag zugeht, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild von dem Berufungskläger selbst mit einer handschriftlichen Absender- und Empfängerangabe versehen worden ist.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGG § 151 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Oktober 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten in der Sache über die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Vorab geht es um die Zulässigkeit der Berufung.
Den Rentenantrag des 1934 geborenen Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. November 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 1993 ab, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die anschließende Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Speyer vom 12. Juli 1995). Das SG hat eine Ausfertigung seines Urteils am 30. August 1995 als eingeschriebenen Brief an den Kläger zur Post gegeben.
Am 27. September 1995 ist beim Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ein gänzlich mit Schreibmaschine gefertigtes Schreiben eingegangen, das im Briefkopf den Namen sowie die Anschrift des Klägers und eine maschinenschriftliche Unterschrift „gez. Kerch Otto” enthält. Darin wird unter Angabe des erstinstanzlichen Aktenzeichens mit eingehender Begründung ausgeführt, daß gegen das am 31. August 1995 zugestellte Urteil des SG Berufung eingelegt werde. Auf dem dazu gehörigen Briefumschlag sind jeweils handschriftlich mit vollständiger Anschrift das LSG als Empfänger und der Kläger als Absender angegeben. In der Folgezeit hat sich der Kläger erst im März 1996 mit einer handschriftlich unterschriebenen Eingabe an das LSG gewandt. Nach einem entsprechenden Hinweis an den Kläger hat das LSG die Berufung durch Beschluß vom 4. Oktober 1996 als unzulässig verworfen. Diese Entscheidung ist auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger habe die Berufung nicht nach Maßgabe des § 151 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) fristgerecht schriftlich eingelegt. Das dem LSG am 27. September 1995 zugegangene Schriftstück erfülle nicht das Merkmal der Schriftlichkeit, da es an der erforderlichen eigenhändigen Unterschrift fehle. Letztere solle zu erkennen geben, daß es sich nicht um einen bloßen Entwurf, sondern um eine wirkliche Prozeßerklärung handele. Eine mit Maschine geschriebene Unterschrift, wie sie hier vorliege, erfülle diese Voraussetzung nicht. Dieser Mangel könne auch nicht durch einen nachträglichen Nachweis geheilt werden, daß der Kläger die dem LSG am 27. September 1995 zugegangene Schrift in der Absicht abgesandt habe, Berufung einzulegen.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 158 iVm § 151 Abs 1 SGG, § 153 Abs 4 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes iVm § 62 SGG sowie §§ 43, 44, 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Dazu trägt er im wesentlichen vor: Auch ohne eigenhändige Unterschrift sei dem Schriftlichkeitserfordernis für eine Berufungsschrift genügt, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergebe. Dies sei hier der Fall aufgrund der Verbindung zwischen der maschinenschriftlichen Berufungsschrift und der handschriftlichen Absender- und Empfängerangabe auf dem Briefumschlag. Indem die Vorinstanz die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß als unzulässig verworfen habe, sei zugleich sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Die an sich erforderliche Sachprüfung nach §§ 43, 44, 53 SGB VI sei unterblieben. Insbesondere hätte weiter aufgeklärt werden müssen, ob seine EU auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sei.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des LSG vom 4. Oktober 1996 aufzuheben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen den Beschluß des LSG zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Beschluß für zutreffend und führt ergänzend aus: Nach § 126 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs müsse die Urkunde, wenn durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben sei, von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet sein. Dies gelte nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch für die in § 151 Abs 1 SGG geforderte Schriftform. Soweit der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend mache, habe er anzugeben, welches Vorbringen verhindert worden sei und inwieweit das Berufungsurteil darauf beruhe. Diesem Erfordernis sei der Kläger nicht nachgekommen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Wie der Kläger zutreffend gerügt hat, ist seine Berufung von der Vorinstanz zu Unrecht als unzulässig verworfen worden. Darin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (vgl dazu bereits BSGE 1, 227, 230; 283, 286 f).
Gemäß § 151 Abs 1 SGG ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten hat der Kläger mit der am 27. September 1995 beim LSG eingegangenen Sendung form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Da eine Ausfertigung des Urteils des SG vom 12. Juli 1995 am 30. August 1995 (Aufgabe zur Post) mittels eingeschriebenen Briefes an den Kläger abgesandt worden ist, gilt dieses gemäß § 63 Abs 2 SGG iVm § 4 Abs 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes als am 2. September 1995 zugestellt; wobei unerheblich ist, daß dieses Datum auf einen Sonnabend fiel (vgl dazu BSGE 5, 53 ff; Loytved, SGb 1997, 254 ff). Die einmonatige Berufungsfrist war somit am 27. September 1995 noch nicht abgelaufen (vgl dazu § 64 SGG). Auch die erforderliche Schriftform hat der Kläger gewahrt.
Allerdings trifft es zu, daß eine Berufungsschrift grundsätzlich vom Berufungskläger oder einer für ihn vertretungsberechtigten Person eigenhändig unterzeichnet sein muß (vgl dazu Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 6. Aufl, § 151 RdNr 4; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 151 SGG RdNr 83; jeweils mwN). Daran fehlt es hier. Insbesondere reicht es insoweit nicht aus, daß der Kläger seine gänzlich mit einer Schreibmaschine verfaßte Eingabe vom „23. 1. 95” (richtig wohl: 23. September 1995) mit dem maschinenschriftlichen Zusatz „gez. Kerch Otto” versehen hat (vgl dazu BSGE 37, 279 = SozR 1960 § 5 Nr 1; ebenso Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 310 § 81 Nr 9). Ebensowenig ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß sich der Kläger später auch mit eigenhändig unterschriebenen Eingaben an das LSG gewandt und damit konkludent die im September 1995 erfolgte Berufungseinlegung bestätigt hat. Denn für die Frage, ob der Schriftlichkeit iS von § 151 Abs 1 SGG genügt ist, können – abgesehen von der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl § 67 SGG) – nur die bis zum Ablauf der Berufungsfrist eingetretenen Umstände berücksichtigt werden (vgl dazu BSGE 5, 110, 114; 6, 256, 260).
Von dem Erfordernis einer eigenhändigen Unterschrift hat die Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte jedoch Ausnahmen zugelassen, wenn sich aus dem betreffenden Rechtsmittelschriftsatz allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Verkehr zu bringen, hinreichend sicher ergeben, ohne daß darüber Beweis erhoben werden müßte (vgl zB BVerwG Buchholz 310 § 81 Nr 8; BVerwGE 81, 32; allgemein dazu auch BVerwG NJW 1995, 2121 ≪Btx-Mitteilung≫; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 ≪Telefax per PC-Modem≫). Ein derartiger Ausnahmefall liegt nach Auffassung des erkennenden Senats hier vor. Urheberschaft und Äußerungswille des Klägers lassen sich aus dem Inhalt und den Begleitumständen der am 27. September 1995 beim LSG eingegangenen Sendung eindeutig entnehmen. Zum einen werden in dem betreffenden Schreiben unter dem Namen des Klägers detaillierte Angaben zum Gegenstand des Rechtsstreits gemacht, die Kenntnisse voraussetzen, welche praktisch nur der Kläger selbst haben konnte. Zum anderen ist die Eingabe – und dies ist ein besonders deutlicher Beleg – dem Gericht in einem Umschlag zugegangen, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild vom Kläger selbst mit einer handschriftlichen Angabe des Empfängers (LSG) und des Absenders (Name und Anschrift des Klägers) versehen worden ist (vgl dazu Bundesfinanzhof ≪BFH≫, BFHE 148, 205; BFH/NV 1990, 586).
Da die Berufung nach alledem ordnungsgemäß erhoben worden ist, durfte das LSG sie nicht nach § 158 SGG durch Beschluß als unzulässig verwerfen; vielmehr hätte es in der Sache über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, entscheiden müssen. Dies kann der erkennende Senat im Revisionsverfahren nicht nachholen; denn es fehlt insoweit an hinreichenden berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen, auf die das BSG für seine Entscheidung angewiesen ist (vgl § 163 SGG). Mithin ist es geboten, gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG den angefochtenen Beschluß aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1175333 |
MDR 1998, 1431 |
NJ 1999, 278 |
NZS 1999, 104 |
SGb 1998, 365 |
SozR 3-1500 § 151, Nr.3 |
SozSi 1999, 190 |