Entscheidungsstichwort (Thema)
Kassenarzthonorar. Rückforderung. Vertrauensschutz
Orientierungssatz
Die Rücknahme eines Verwaltungsaktes (hier: Honorarrückforderung) nach § 45 Abs 2 SGB 10 ist dann ausgeschlossen, wenn der vom Verwaltungsakt Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Hierzu ist im Einzelfall eine Interessenabwägung darüber vorzunehmen, ob das Interesse auf Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes oder das des gutgläubigen Begünstigten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes überwiegt. In diesem Zusammenhang kann ein Verschulden der Verwaltung an der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes das Vertrauen des Bürgers nachhaltig stärken (vgl BSG vom 14.11.1985 7 RAr 123/84 = SozR 1300 § 45 Nr 19). Dieses Verschulden der Verwaltung kann auch in einer wiederholten Leistungsbewilligung bestehen (BSG vom 14.6.1984 10 RKg 5/83 = SozR 1300 § 45 Nr 9).
Normenkette
SGB 5 § 87 Abs 1 Fassung: 1988-12-20; BMÄ Nr 3842; BMÄ Nr 3843; BMÄ Nr 3858; BMÄ Nr 4501; SGB 10 § 45 Abs 2
Verfahrensgang
SG Dortmund (Entscheidung vom 31.01.1989; Aktenzeichen S 9 Ka 74/89) |
Tatbestand
Streitig ist die Abrechnungsfähigkeit von Hormonbestimmungen für die Quartale II/85 bis IV/86 nach dem Bewertungsmaßstab für kassenärztliche Leistungen (BMÄ) und der Gebührenordnung für die Ersatzkassen (EGO) in der bis zum 30. September 1987 gültigen Fassung.
Der Kläger war bis zum 30. September 1987 Mitglied der Laborgemeinschaft D. und ließ über diese zahlreiche Laboruntersuchungen durchführen. Hormonbestimmungen nach der enzym-immunologischen Methode (EIA) rechnete er in den streitigen Quartalen nach den Nrn 3842, 3843, 3858 und 4501 BMÄ bzw EGO ab. Diese Abrechnungsweise war ua Gegenstand von Gesprächen, die bereits im April 1984 zwischen Vertretern der Laborgemeinschaft und Mitgliedern des Vorstandes der Beklagten geführt wurden. Letztere vertraten die Auffassung, daß die Untersuchungen nur nach der Nr 3798 BMÄ bzw EGO abgerechnet werden dürften. Insoweit wurde keine Einigung erzielt. Entsprechend dieser Rechtsauffassung beanstandete die Beklagte die Abrechnungen des Klägers durch die Bescheide vom 20. Januar und 1. April 1987 und machte einen Rückforderungsanspruch hinsichtlich des in den streitigen Quartalen gezahlten Honorars geltend. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheide vom 22. April und 1. Juli 1987).
Mit seiner Klage trug der Kläger vor, für die Bestimmung eines Hormons seien die Nrn 3841 ff BMÄ bzw EGO als speziellere Regelung einschlägig. Jahrelang habe er unbeanstandet in diesem Sinne abgerechnet, und in mehreren Gesprächen mit Vorstandsmitgliedern der Beklagten und Vertretern der Laborgemeinschaft D. sei klargestellt worden, daß die Frauenärzte auch künftig wie bisher abrechnen wollten. Dem habe die Beklagte noch 1984 nicht widersprochen.
Durch Urteil vom 31. Januar 1989 hat das Sozialgericht (SG) Dortmund die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Beklagte sei zur Berichtigung der Abrechnung berechtigt, weil dem Kläger kein Vertrauensschutz zur Seite stehe. Von einer jahrelangen unbeanstandeten Praxis könne zwischen Mitte 1984 und Anfang 1987 nicht die Rede sein. Im übrigen hätte für den Kläger zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit bestanden, die Frage nach der nach Ansicht der Beklagten zutreffenden Abrechnungsmöglichkeit verbindlich klären zu lassen. Die vom Kläger erwähnten zahlreichen informellen Gespräche zwischen Mitgliedern der Laborgemeinschaft D. und Mitgliedern des Vorstandes der Beklagten seien nicht geeignet, schutzwürdiges Vertrauen auf die Billigung ihrer Abrechnungspraxis zu begründen. In der Sache selbst entspreche die Rechtsauffassung der Beklagten der der Vertragspartner des Bundesmantelvertrages und des Arzt-Ersatzkassenvertrages, an die die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden seien, da für eine Willkür jeglicher Anhaltspunkt fehle.
Hiergegen richtet sich die vom SG zugelassene und mit Zustimmung der Beklagten eingelegte Sprungrevision des Klägers. Er rügt die unrichtige Anwendung der Gebührennummern 3842, 3843, 3858 und 4501 BMÄ bzw EGO durch das SG und trägt dazu vor, bei den abgerechneten Laboruntersuchungen handele es sich nicht nur allgemein um die Analyse eines Körpermaterials, sondern um die Bestimmung eines Hormons. Dieser Leistungsinhalt entspreche den abgerechneten Positionen des BMÄ bzw der EGO.
Der Kläger beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 20. Januar 1987 und 1. April 1987 in Fassung der Widerspruchsbescheide vom 22. April und 1. Juli 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die vom Kläger in den Quartalen II/85 bis IV/86 erbrachten enzym-immunochemischen Hormonbestimmungen wie vom Kläger abgerechnet nach den Ziffern 3841 ff bzw 4501 BMÄ/EG-O '87 (alter Fassung) zu honorieren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene stellt keine Anträge.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision des Klägers ist begründet.
Das angefochtene Urteil konnte nicht aufrechterhalten werden. Dem SG kann nicht darin gefolgt werden, daß die Beklagte berechtigt war, die Abrechnung des Klägers für die streitigen Quartale zu berichtigen.
Die Berichtigung von Honorarabrechnungen für die Vergangenheit richtet sich nach § 45 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X). Die Festsetzung des kassenärztlichen Honorars ist ein begünstigender Verwaltungsakt, der nur unter den in der genannten Vorschrift aufgeführten Voraussetzungen zurückgenommen werden darf. Das SG nennt diese Vorschrift zwar nicht, hatte sie aber offenbar im Auge, denn es hat ihre Tatbestandsmerkmale im einzelnen geprüft.
Das SG geht davon aus, daß die in Streit stehenden Hormonbestimmungen nur nach der Nr 3789 BMÄ bzw EGO abrechnungsfähig sind. Hierzu bedarf es jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil im vorliegenden Fall auch eine rechtswidrige Honorarfestsetzung nicht zurückgenommen werden durfte.
Die bloße Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes reicht für seine Rücknahme nicht aus. Nach § 45 Abs 2 SGB X ist die Rücknahme dann ausgeschlossen, wenn der vom Verwaltungsakt Begünstigte - hier der Kläger - auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Hierzu ist im Einzelfall eine Interessenabwägung darüber vorzunehmen, ob das Interesse auf Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes oder das des gutgläubigen Begünstigten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes überwiegt. In diesem Zusammenhang kann ein Verschulden der Verwaltung an der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes das Vertrauen des Bürgers nachhaltig stärken (BSG Urteil vom 14. November 1985 - 7 RAr 123/84 - = SozR 1300 § 45 Nr 19 S 58). Dieses Verschulden der Verwaltung kann auch in einer wiederholten Leistungsbewilligung bestehen (BSG Urteil vom 14. Juni 1984 - 10 RKg 5/83 - = SozR 1300 § 45 Nr 9 S 27 zur wiederholten Bewilligung von Kindergeld). Unter diesen Voraussetzungen hat die Beklagte gegenüber dem Kläger einen speziellen Vertrauenstatbestand geschaffen, der auch schutzwürdig iS des § 45 SGB X ist und daher der von der Beklagten vorgenommenen Honorarberichtigung entgegensteht.
Der Kläger hat im Klageverfahren unwidersprochen vorgetragen, daß bereits im April 1984 Gespräche zwischen Mitgliedern der Laborgemeinschaft und des Vorstandes der Beklagten stattgefunden haben, deren Gegenstand auch die Abrechnung der Hormonbestimmungen war. Das SG hat "zahlreiche informelle Gespräche" festgestellt. Nach dem Vorbringen der Beklagten im Revisionsverfahren sollen bei den Gesprächen die Vertreter der Laborgemeinschaft ausdrücklich darauf hingewiesen worden sein, daß keine Abrechenbarkeit nach höher bewerteten Gebührenziffern bestehe, sondern daß enzym-immunologische Untersuchungen nur nach der Gebührennummer 3798 abgerechnet werden dürften. Aus diesen Gesprächen schließt das SG, daß von einer jahrelangen unbeanstandeten Praxis hinsichtlich der Abrechnung zwischen Mitte 1984 und Anfang 1987 nicht die Rede sein könne, vielmehr für den Kläger zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit bestanden habe, die Frage nach der nach Ansicht der Beklagten zutreffenden Abrechnungsmöglichkeit verbindlich klären zu lassen. Hier überspannt das SG die Anforderungen an das Entstehen eines Vertrauenstatbestandes.
Von einem Kassenarzt kann in aller Regel erwartet werden, daß er zur Klärung von Zweifelsfragen hinsichtlich der Abrechnungsfähigkeit einer Leistung selbst die Initiative ergreift. Dies ist indessen im vorliegenden Fall geschehen. Mitglieder der Laborgemeinschaft haben sich an den Vorstand der Beklagten gewandt und in Gesprächen ihre Auffassung dargelegt. Hierauf wäre es der Beklagten ohne weiteres möglich und zuzumuten gewesen, die Abrechnungen der ihr bekannten Mitglieder der Laborgemeinschaft daraufhin zu überprüfen, ob und in welchem Umfang sie die Nrn 3842, 3843, 3858 und 4501 anstelle der Nr 3798 BMÄ bzw EGO enthielten. Auf diese Weise hätten die Abrechnungen richtiggestellt und den Mitgliedern der Laborgemeinschaft wie auch dem Kläger hierüber ein rechtsmittelfähiger Bescheid erteilt werden können. Dies hätte in jedem Quartal von dem ersten Gespräch im April 1984 bis zur Richtigstellung durch die angefochtenen Bescheide geschehen können und müssen. Offensichtlich hat die Beklagte nichts in dieser Richtung veranlaßt. Sie hat vielmehr laufend das Honorar für die streitigen Leistungen nach den Nrn 3841 ff BMÄ bzw EGO gezahlt. Hierdurch konnte beim Kläger der Eindruck entstehen oder verstärkt werden, daß er korrekt abrechnet. Aufgrund der sich über mehrere Quartale hinziehenden Abrechnungspraxis der Beklagten, die auch von den Kassen offenbar nicht beanstandet worden ist, entstand beim Kläger unter den besonderen Umständen dieses Falles ein nach § 45 SGB X wie auch nach den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-) schutzwürdiger Vertrauenstatbestand, weil der Kläger - wie auch andere Mitglieder der Laborgemeinschaft - davon ausgehen durften, daß die Beklagte durch die mit ihrem Vorstand geführten Gespräche über die Abrechnungsproblematik unterrichtet war. Die vom SG geforderte verbindliche Klärung hätte daraufhin durch die Beklagte im Wege der Bescheiderteilung für jede Quartalsabrechnung erfolgen müssen. Von dieser Möglichkeit hat die Beklagte jedoch keinen Gebrauch gemacht.
Nach allem waren auf die Revision des Klägers das Urteil des SG wie auch die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben. Damit entfällt die Rechtsgrundlage für die Rückforderung des überzahlten Honorars, so daß über den Verpflichtungsantrag des Klägers nicht mehr gesondert entschieden werden mußte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen