Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. selbständiger Unternehmer. Kampf mit einem Einbrecher. Festnahme
Orientierungssatz
1. Ein selbständiger Unternehmer steht beim Kampf mit einem Einbrecher, den er an der Flucht hindert bis die Polizei eintrifft, nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst c unter Versicherungsschutz, wenn er nicht nach anderen Vorschriften unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht. Es kommt nicht darauf an, ob seine unfallbringende Handlung auch wesentlich dazu bestimmt war, den betrieblichen Interessen seines Unternehmens zu dienen.
2. Für die Annahme Unternehmer, die nicht schon pflichtversichert seien, müßten sich für ihre dem öffentlichen Wohl iS des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst c RVO gewidmeten Tätigkeiten den Unfallversicherungsschutz durch eine freiwillige Unfallversicherung erkaufen, fehlt jeder Anhaltspunkt im Gesetz.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst c
Verfahrensgang
SG Kiel (Entscheidung vom 09.10.1989; Aktenzeichen S 1 U 54/89) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt, seinen Unfall bei dem Kampf mit einem Einbrecher als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Der Kläger ist Apotheker und betreibt die S -Apotheke in K . Er ist nicht Mitglied einer Berufsgenossenschaft.
In der Nacht vom 8. zum 9. Februar 1988 versah er den Nachtdienst in seiner Apotheke, die im Erdgeschoß liegt. Morgens gegen 6.30 Uhr öffnete er ein Fenster des Aufenthaltsraumes, um zu lüften. Danach begab er sich in den Waschraum. Plötzlich sah er sich einem maskierten Mann gegenüber, der im Flur mit einer auf ihn gerichteten Pistole stand. Es war ein Rauschmittelabhängiger, der durch das geöffnete Fenster in die Apotheke eingestiegen war und nunmehr von ihm Betäubungsmittel forderte. Der Kläger geriet mit ihm in ein kräftiges Handgemenge. Dabei gelang es dem Kläger, die Polizei telefonisch zu benachrichtigen und den Täter solange an der Flucht zu hindern, bis die Polizei eintraf. Während des Kampfes schoß der Täter mehrfach mit seiner Waffe, einer Gaspistole. Ein Schuß traf den Kläger an der linken Hand. Durch die Schußverletzung erlitt der Kläger verschiedene Handfunktionsstörungen, die im Ermittlungsverfahren des Beklagten von Unfallchirurgen für die Zeit nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit am 13. Mai 1988 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH eingeschätzt wurden.
Der Beklagte lehnte Unfallentschädigung ab, weil der Kampf mit dem Einbrecher vorrangig dem Schutz und der Sicherheit des eigenen Unternehmens gedient habe (Bescheid vom 23. März 1989).
Demgegenüber hat das Sozialgericht (SG) Kiel den Beklagten verurteilt, den Unfall des Klägers vom 9. Februar 1988 als Arbeitsunfall zu entschädigen (Urteil vom 9. Oktober 1989): Der Versicherungsschutz des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht dadurch entfallen, daß der Kläger etwa bei seinem Kampf betriebliche Interessen wahrgenommen habe. Zum einen habe der Kläger aufgrund der plötzlichen Konfrontation mit dem Täter zum Zwecke der Notwehr gehandelt und nicht aus der Überlegung heraus, die in der Apotheke aufbewahrten Betäubungsmittel zu schützen, zum anderen mit dem Ziel, den Einbrecher "unschädlich" zu machen und der Polizei zu übergeben. Im übrigen könne hier entgegen der Meinung des Beklagten nicht der Gedanke der Subsidiarität des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO Platz greifen. Denn es fehle ein anderweitiger konkreter Versicherungsschutz des auch nicht freiwillig einer Berufsgenossenschaft beigetretenen Klägers, hinter dem der vom Beklagten zu gewährende Versicherungsschutz zurücktreten könnte.
Mit der - vom SG zugelassenen und mit Zustimmung des Klägers eingelegten - Sprungrevision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO. Als selbständiger Apotheker hätte sich der Kläger freiwillig bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege versichern können. Deshalb stehe er aus der Sicht des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO einer versicherten Person gleich. Da der Kläger während seines Nachtdienstes eine Tätigkeit nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO verrichtet habe, trete der Schutz der Straftäterverfolgung zurück. Deshalb sei der Klageanspruch unbegründet. Im übrigen sei der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu entnehmen, daß jedenfalls dann, wenn die Betriebsbezogenheit der unfallbringenden Handlung vorrangig sei, der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO entfalle.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Der Kläger hat am 9. Februar 1988 einen Arbeitsunfall erlitten, den der Beklagte zu entschädigen hat (§ 548 Abs 1, § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO). Das hat das SG zu Recht entschieden.
Entgegen der Meinung des Beklagten stand der Kläger bei dem unfallbringenden Kampf mit dem Täter unter dem Schutz des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO. Danach sind Personen in der Unfallversicherung versichert, die sich bei Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer rechtswidrigen, den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichenden Tat verdächtig ist, oder zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen.
Alle diese Tatbestandsvoraussetzungen hat der Kläger erfüllt. Nach dem gegen den Täter am 10. Februar 1988 erlassenen Haftbefehl war dieser des versuchten schweren Raubes dringend verdächtigt (§§ 250 Abs 1 Nr 1, 249, 22, 23, 53 Strafgesetzbuch -StGB-). Indem der Kläger die Polizei alarmierte und den Täter solange nicht entkommen ließ, bis die Polizei eintraf und ihn festnahm, war er bei der Festnahme des Täters beteiligt. Das gelang ihm nur durch den Kampf mit dem Täter, bei dem er verletzt wurde. Der Beklagte bestreitet das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen auch nicht. Er vertritt nur die Meinung, der Klageanspruch sei ausgeschlossen, weil der Kläger als Unternehmer der Apotheke betriebsbezogen zur Sicherung des Warenbestandes gehandelt und es versäumt habe, sich freiwillig zu versichern. Dieser Auffassung vermag der Senat dem Beklagten nicht zu folgen.
§ 539 Abs 1 Nr 9 RVO gilt gleichermaßen für alle Personen, seien sie im Erwerbsleben abhängig beschäftigt oder selbständig als Unternehmer tätig. Mit dieser Vorschrift gewährt das Gesetz in allen drei Fallgruppen "öffentliche Unfallfürsorge", wie man früher die entsprechende soziale Entschädigung nannte, in der rechtlichen Form der gesetzlichen Unfallversicherung für jedermann, der sich bei einer der bezeichneten versicherten Tätigkeit einen Schaden zugezogen hat. Versichert werden diese Tätigkeiten, weil sie "dem öffentlichen Wohl gewidmet" sind und der Staat mit diesem Gesetz den Zweck verfolgt, Personen, die dabei zu Schaden kommen, letztlich nicht ohne Entschädigung zu belassen (s zur Entstehungsgeschichte: § 553a RVO idF des Dritten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung -3. UVÄndG- vom 20. Dezember 1928 - RGBl I 405 - und die Begründung zum Entwurf des 3. UVÄndG, AN 1928, 49 Nr 2 "Lebensretter"; § 553a Nr 3 RVO idF des Fünften Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung - 5. UVÄndG- vom 17. Februar 1939 - RGBl I 267 - und die Begründung dazu in AN 1939, 98 zu Art 1 Nr 5; in den späteren Neufassungen dieser Vorschrift: § 537 Nr 5 Buchstabe c RVO idF des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung -6. UVÄndG- vom 9. März 1942 - RGBl I 107 -, § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes -UVNG- vom 30. April 1963 - BGBl I 241 - und § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO idF des Einführungsgesetzes zum StGB vom 2. März 1974 - BGBl I 469 - wurde der bisherige Gesetzeszweck unverändert beibehalten, s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 474a I mwN).
Dem Gesetzeszweck und dem inhaltlichen Charakter der gesetzlichen Regelung als "Unfallfürsorge" entspricht es, daß der Unfallversicherungsschutz des § 539 Abs 1 Nr 9 RVO nur hilfsweise in Betracht kommt, wenn die unfallbringende Tätigkeit nicht schon im Rahmen des § 539 Abs 1 Nr 1 oder der §§ 543, 545 RVO geschützt ist. Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, daß schon vor Inkrafttreten des § 553a RVO idF des 3. UVÄndG ein Unfall beim Lebensretten die Entschädigungspflicht eines Unfallversicherungsträgers begründen konnte, wenn ein innerer Zusammenhang mit einem versicherten Betrieb oder einer versicherten Tätigkeit bestanden habe. Daran sei durch den neugeschaffenen § 553a RVO nichts geändert worden. Diese Vorschrift habe vielmehr nur die Bedeutung, über den bisherigen Rechtszustand hinausgehend beim Lebensretten auch dann Versicherungsschutz zu gewähren, wenn die unfallbringende Tätigkeit nicht im inneren Zusammenhang mit einem versicherten Betrieb oder einer versicherten Tätigkeit stehe (EuM 30, 323, 325; sa EuM 35, 170, 171). Das gleiche galt für § 553a Nr 3 RVO idF des 5. UVÄndG. Der Gesetzgeber stellte darin auch die Verfolgung oder Festnahme des Täters bestimmter strafbarer Handlungen und die Hilfeleistung zum Schutze des Angegriffenen unter Unfallversicherungsschutz, weil auch diese Tätigkeiten in gleicher Weise wie das Lebensretten dem öffentlichen Wohle gewidmet seien (s die Begründung zum 5. UVÄndG aaO). Dementsprechend hat der Senat auch zu § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO nF entschieden, daß diese Vorschrift nur subsidiär gelte, also nur dann, wenn nicht schon ein Unfallversicherungsschutz nach anderen Vorschriften bestehe (Urteil vom 31. März 1976 - 2 RU 287/73 - in USK 7629 und BKK 1976 216; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Rdn 65; Gitter in SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, § 539 RVO Anm 33; Bereiter-Hahn/Schieke/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 539 Rdn 19). Der Kläger stand aber nicht nach anderen Vorschriften unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob - was das SG übrigens bindend verneint hat (§§ 163, 161 Abs 4 SGG) - seine unfallbringende Handlung auch wesentlich dazu bestimmt war, den betrieblichen Interessen seines Unternehmens zu dienen.
Der Meinung des Beklagten, Unternehmer, die nicht schon pflichtversichert seien, müßten sich für ihre dem öffentlichen Wohl iS des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchstabe c RVO gewidmeten Tätigkeiten den Unfallversicherungsschutz durch eine freiwillige Unfallversicherung erkaufen, fehlt jeder Anhaltspunkt im Gesetz, wie das SG ebenfalls zutreffend entschieden hat.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen