Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Summierung gewöhnlicher Leistungseinschränkungen mit besonderer Addierungs- und Verstärkungswirkung
Leitsatz (amtlich)
Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt auch dann vor, wenn mehrere auf den ersten Blick gewöhnliche Leistungseinschränkungen aufgrund einer besonderen Addierungs- und Verstärkungswirkung ernste Zweifel an der Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begründen.
Orientierungssatz
1. Die zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze (vgl insbesondere BSG vom 19.12.1996 - GS 2/95 = BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 1.1.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden.
2. Es ist weiterhin von dem Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes auch für leichte Tätigkeiten auszugehen.
3. Es reicht für die Annahme einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" nicht aus, dass das Gericht eine Vielzahl von qualitativen Leistungseinschränkungen auflistet. In einem Summierungsfall mit ungewöhnlichen Auswirkungen müssen die über das Erfordernis der leichten Arbeit hinausgehenden Einschränkungen benannt und die gerade aus ihrer Kombination folgenden ungewöhnlichen Auswirkungen hergeleitet werden.
4. Denn es bleibt auch bei einer Mehrzahl von qualitativen Leistungseinschränkungen Aufgabe des Tatsachengerichts, diese in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt abzuklären und zu bewerten (vgl BSG vom 19.10.2011 - B 13 R 135/11 B = juris RdNr 22 unter ausdrücklichem Hinweis auch auf BSG vom 14.12.1998 - B 5 RJ 184/98 B = SozR 3-2600 § 43 Nr 19 S 67f = juris RdNr 9).
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 2-3; SGG §§ 103, 116, 118; ZPO §§ 397, 402, 411
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Juli 2018 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.10.2014 bis 31.12.2019.
Der 1964 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war als Maschinenführer sowie als Wachmann beschäftigt und zuletzt mit einer Autovermietung selbständig tätig. Aufgrund eines Versicherungsfalls vom 17.11.2007 (Herzinfarkt) bewilligte ihm die Beklagte Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.9.2009 bis zum 31.3.2012. Eine Weitergewährung der Rente über März 2012 hinaus lehnte sie ab (Bescheid vom 24.2.2012; Widerspruchsbescheid vom 9.5.2012).
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.9.2014 abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das LSG weitere medizinische Sachverständigengutachten eingeholt sowie berufskundliche Unterlagen aus anderen Verfahren ua zu Charakteristika und Veränderungen des Arbeitsmarktes (Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen Dr. Z.) in den Rechtsstreit eingeführt.
Mit Urteil vom 12.7.2018 hat das LSG die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1.10.2014 bis zum 31.12.2019 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger nach den medizinischen Sachverständigengutachten zwar noch über ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verfüge. Gleichwohl sei er voll erwerbsgemindert, weil aufgrund der seit dem 4.3.2014 zusätzlich bestehenden Notwendigkeit, überwiegend im Sitzen zu arbeiten, eine Summierung von qualitativen Leistungseinschränkungen vorliege und ihm keine geeignete Verweisungstätigkeit benannt werden könne. Anders als vom BSG gefordert komme es zur Feststellung einer solchen Summierung vorliegend nicht darauf an, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten noch körperliche Verrichtungen wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw erlaube. Selbst wenn diese Verrichtungen isoliert noch durchgeführt werden könnten, seien sie in der Regel verbunden mit ständigem Stehen, Zwangshaltungen oder anderen Anforderungen, die nicht denen einer leichten Tätigkeit entsprächen. Deshalb sei ihre Ausführung auch dem Kläger nicht mehr möglich. Zudem habe sich der Arbeitsmarkt seit dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) erheblich verändert. Geringer qualifizierte (einfache) Tätigkeiten, die mit den genannten Verrichtungen verbunden seien und gleichzeitig der Definition einer leichten Arbeit entsprächen, gebe es am Arbeitsmarkt kaum noch. Eine Verpflichtung der Beklagten, eine geeignete Verweisungstätigkeit zu benennen, bestehe bereits dann, wenn - wie beim Kläger - eine Summierung von nur "gewöhnlichen" Leistungseinschränkungen vorliege. Insoweit schließe sich der (LSG-)Senat dem Urteil des 13. Senats des BSG vom 19.8.1997 (13 RJ 55/96 - juris RdNr 27) an und nicht dem Urteil des 5. Senats vom 9.5.2012 (B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 29). Wenn jemand so viele gewöhnliche Einschränkungen habe, dass alle auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Tätigkeiten nicht mehr verrichtet werden könnten, liege das gleiche Ergebnis vor, wie wenn jemand aufgrund einer oder mehrerer ungewöhnlicher oder spezifischer Leistungseinschränkungen keiner Arbeit mehr gerecht werden könne. Auch in diesem Fall beruhe die Unfähigkeit, durch Arbeit Erwerb zu erzielen, nicht auf der Schwankungen unterworfenen jeweiligen Lage des Arbeitsmarktes, und auch nicht darauf, dass für noch vollschichtig einsetzbare ältere arbeitslose Versicherte bei vernünftiger Betrachtung auf dem Arbeitsmarkt seit längerer Zeit kaum Vermittlungschancen bestünden, sondern auf dem praktisch gänzlichen Fehlen entsprechender Arbeitsplätze in der Berufswelt.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 43 Abs 2 Nr 1 und § 43 Abs 3 SGB VI sowie einen Verfahrensmangel. Das LSG habe nicht festgestellt, welchen Beruf der Kläger (mit welchem gesundheitlichen Anforderungsprofil) zuletzt ausgeübt habe. Außerdem weiche es bewusst von der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16, RdNr 36; Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 25 ff) ab, wonach zunächst zu prüfen sei, ob das Restleistungsvermögen typische Verrichtungen ungelernter Tätigkeiten erlaube, wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Die Aussage, dass sich der Arbeitsmarkt für Hilfstätigkeiten gewandelt habe, werde nur mit allgemeinen Ausführungen begründet. Dem in der mündlichen Verhandlung wiederholten Beweisantrag, die medizinischen Sachverständigen Dr. D. und Dr. W. zu befragen, ob aus ärztlicher Sicht ernste Zweifel daran bestünden, dass der Kläger die genannten Verrichtungen noch ausüben könne, sei das LSG ohne hinreichende Begründung nicht nachgekommen. Das LSG weiche auch insoweit von der Rechtsprechung des BSG ab, als es die Summierung gewöhnlicher Leistungseinschränkungen für ausreichend halte. Die Beobachtung des Arbeitsmarktes sei Aufgabe der Arbeitsverwaltung; die Rentenversicherung solle nur in Ausnahmefällen verpflichtet werden, Verweisungstätigkeiten zu benennen. Die Auffassung des LSG würde dieses Regel-Ausnahmeprinzip aufweichen.
|
Die Beklagte beantragt, |
|
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Juli 2018 aufzuheben und die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. September 2014 zurückzuweisen. |
|
Der Kläger beantragt, |
|
die Revision zurückzuweisen. |
Er hält die Urteilsbegründung des LSG für zutreffend.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung am 16.5.2019 arbeitsmarktpolitische, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Unterlagen sowie statistische Daten betreffend das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für "Einfacharbeit" auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in den Rechtsstreit eingeführt, zu denen sich die Beteiligten geäußert haben. Auf deren Stellungnahmen hin hat er als weitere Erkenntnisgrundlagen den Beteiligten die Grundauswertung der Erwerbstätigenbefragung 2018 des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) übersandt sowie auf die Auswertung der Erwerbstätigenbefragung 2012 differenziert nach Anforderungsniveau (enthalten im Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit vom 4.12.2014 - BT-Drucks 18/3474 - S 150 - Abb C 14 ff) hingewiesen. In der mündlichen Verhandlung am 11.12.2019 sind ergänzende Unterlagen übergeben worden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG aufgrund der allein von der Beklagten eingelegten Revision nur insoweit, als die Beklagte darin zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.10.2014 bis 31.12.2019 verurteilt worden ist. Demgegenüber ist das Berufungsurteil rechtskräftig, soweit das LSG den vom Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) geltend gemachten weitergehenden Anspruch auf eine unbefristete Rente bereits ab April 2012 zurückgewiesen hat. In diesem Umfang sind der Bescheid der Beklagten vom 24.2.2012 sowie deren Widerspruchsbescheid vom 9.5.2012 bestandskräftig.
Unter Zugrundelegung der rechtlichen Maßstäbe zur Feststellung und Bewertung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen (dazu A) leidet das berufungsgerichtliche Verfahren an einem Mangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (dazu B). Bei seiner Wertung, dass aufgrund der Vielzahl der festgestellten Leistungseinschränkungen des Klägers eine Summierungswirkung eingetreten sei, hat das Berufungsgericht die rechtlichen Maßstäbe verkannt (dazu C).
A) Rechtlicher Maßstab für einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ist § 43 Abs 2 SGB VI idF des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.4.2007 (BGBl I 554). Danach haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs 2 Satz 1 Nr 2 und 3 SGB VI) bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Abs 2 Satz 1 Nr 1). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Abs 2 Satz 2). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs 3).
Das zeitliche (quantitative) Leistungsvermögen eines Versicherten, körperlich und geistig leichte Tätigkeiten noch mindestens sechs Stunden verrichten zu können, schließt die Annahme einer "vollen Erwerbsminderung" gemäß § 43 Abs 3 Halbsatz 1 SGB VI noch nicht aus. Vielmehr kommt es entscheidend auch darauf an, ob der Kläger noch "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig" sein kann. Die Auslegung hierzu knüpft an die Grundsätze an, die das BSG zur Erwerbsunfähigkeit nach alter Rechtslage herausgearbeitet hat (hierzu I). Diese sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 1.1.2001 geltenden Recht anzuwenden (hierzu II). Es ist insbesondere weiterhin von dem Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes auch für leichte Tätigkeiten auszugehen (hierzu III). Auf die Benennung einer geeigneten Verweisungstätigkeit kommt es nur im Ausnahmefall einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung bzw einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen an (hierzu IV).
I. Nach den früher geltenden §§ 1246 und 1247 RVO (= §§ 23 und 24 AVG) knüpfte der Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an ein Herabsinken der Fähigkeit des Versicherten an, auf dem Arbeitsmarkt ein Einkommen zu erzielen. Die RVO differenzierte zwischen Renten wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit: Während der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO (§ 23 Abs 2 Satz 2 AVG) ua davon abhängig war, ob dem Versicherten eine ihm nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen noch mögliche Berufstätigkeit unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden konnte, setzte der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs 2 RVO (§ 24 Abs 2 AVG) voraus, dass der Versicherte eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben konnte. Diese Struktur wurde in den ab 1.1.1992 geltenden §§ 43 und 44 SGB VI aF zunächst inhaltlich unverändert übernommen. Das Leistungsvermögen und dessen Umsetzungsfähigkeit wurden dabei grundsätzlich an den individuellen Verhältnissen des Versicherten und den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes gemessen (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 33 ff).
Die Ablehnung einer Rente setzte bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit und bei einer untervollschichtigen Erwerbsfähigkeit regelmäßig die konkrete Benennung zumindest einer Tätigkeit (Verweisungstätigkeit) voraus, die die den Rentenfall begründende Minderung der Erwerbsfähigkeit ausschloss, weil der Versicherte diese Tätigkeit noch ausüben konnte. Als Verweisungstätigkeit zu benennen war insoweit eine Berufstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 33). Die Angabe einzelner Arbeitsvorgänge oder Tätigkeitsmerkmale war hingegen nicht ausreichend (BSG Urteil vom 25.8.1993 - 13 RJ 59/92 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 34 - juris RdNr 22; BSG Urteil vom 27.3.2007 - B 13 R 63/06 R - juris RdNr 30). Andererseits war aber auch nicht die Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes erforderlich (BSG Urteil vom 30.11.1982 - 4 RJ 1/82 - SozR 2200 § 1246 Nr 104 - juris RdNr 11). Die zu benennende Tätigkeit musste auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich in ausreichendem Umfang vorkommen, dh es mussten grundsätzlich mehr als 300 Stellen (besetzt oder offen) vorhanden sein (BSG Urteil vom 14.5.1996 - 4 RA 60/94 - BSGE 78, 207 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 - juris RdNr 79).
|
Abweichend davon war die Benennung einer Verweisungstätigkeit jedoch nicht erforderlich, wenn der Versicherte - auch mit qualitativen Einschränkungen - noch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage war und auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (im Sinne ungelernter Tätigkeiten) verwiesen werden durfte (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 34). Auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durften bei der Prüfung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich alle Versicherten, bei der Prüfung der Rente wegen Berufsunfähigkeit hingegen nur ungelernte Arbeiter bzw sog Angelernte unteren Ranges (BSG Urteil vom 11.5.1999 - B 13 RJ 71/97 R - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 - juris RdNr 17). In diesen Fällen war regelmäßig davon auszugehen, dass es für Vollzeittätigkeiten (anders als für nur noch zur Teilzeitarbeit fähige Versicherte - vgl hierzu Beschlüsse des Großen Senats vom 11.12.1969 - GS 4/69 - BSGE 30, 167 = SozR Nr 79 zu § 1246 RVO und GS 2/68 - BSGE 30, 192 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO) Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gab und der Arbeitsmarkt offen war, sodass eine Prüfung im Einzelfall regelmäßig nicht vorgenommen zu werden brauchte. Relevant konnte im Fall eines vollschichtigen Leistungsvermögens allenfalls der Gesichtspunkt der sog praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes werden, insoweit waren die von der Rechtsprechung entwickelten sog Seltenheits- oder Katalogfälle von Bedeutung (vgl BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 38 mwN). Dazu zählen die Fälle, in denen der Versicherte zwar an sich noch eine Vollzeittätigkeit ausüben kann, |
|
1. aber nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen (hierzu gehören insbesondere der rechtliche Rahmen von Arbeitsverhältnissen und tatsächliche Übungen zB zu Dauer, Pausen und Verteilung der Arbeitszeit, vgl bereits BSG Urteil vom 30.10.1959 - 7 RAr 2/58 - BSGE 11, 16 - juris RdNr 22 ff), |
|
2. aber sein Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (Wegefähigkeit), relevant eingeschränkt ist (vgl zB BSG Urteil vom 17.12.1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 - juris RdNr 16 ff). |
Weitere Katalogfälle betreffen die Einsetzbarkeit von Versicherten nur |
|
3. in einem Teilbereich des Tätigkeitsfeldes, |
|
4. auf Schonarbeitsplätzen, |
|
5. auf Arbeitsplätzen, die an Berufsfremde nicht vergeben werden, |
|
6. in Aufstiegspositionen, |
|
7. auf Arbeitsplätzen, die in ganz geringer Zahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommen. |
Der Große Senat hat es in seiner Entscheidung vom 19.12.1996 abgelehnt, diesen Verschlossenheitskatalog insbesondere für ältere Arbeitnehmer um Arbeitsplätze zu erweitern, auf denen ungelernte körperlich leichte Tätigkeiten zu erbringen sind (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 39 ff, 43). Er hat keinen Grund gesehen, von dem Grundsatz der pauschalen Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt abzusehen und generell bei (älteren) Versicherten, die zu solchen Arbeiten nur mit Einschränkungen in der Lage sind, einen konkreten Vergleich der Leistungsfähigkeit mit dem Anforderungsprofil einer bestimmten Verweisungstätigkeit zu fordern. Denn es war - so der Große Senat - in diesen Fällen regelmäßig davon auszugehen, dass das Restleistungsvermögen dem Versicherten noch körperliche Verrichtungen erlaubte, wie sie in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw). Dem lag ua die Überlegung zugrunde, dass sich die nicht oder nur ganz wenig qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ("Hilfsarbeiten") einerseits einer knappen Benennung, die aussagekräftig Art und Anforderungen der Tätigkeiten beschreiben würde, entzogen, das Arbeitsfeld andererseits aber so heterogen war, dass mit einem Restleistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten jedenfalls noch von ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten ausgegangen werden konnte (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 34).
Die Argumentation des Großen Senats beruht wesentlich auch auf der Aufgabenteilung und Risikoabgrenzung zwischen Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sollen nur das Risiko abdecken, das "wegen Krankheit oder Behinderung" eingetreten ist, nicht dagegen das Risiko einer Reduzierung der Erwerbsmöglichkeiten oder der Arbeitslosigkeit, wodurch auch immer die letztgenannten Risiken eingetreten sind (vgl BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 42).
Dabei hat der Große Senat auch auf den Zweck der in Reaktion auf den Vorlagebeschluss erfolgten Gesetzesänderung durch das 2. SGB VI-Änderungsgesetz (2. SGB VI-ÄndG) vom 2.5.1996 (BGBl I 659) abgestellt. Darin wurde § 43 Abs 2 bzw § 44 Abs 2 Satz 2 SGB VI aF insoweit geändert, als berufsunfähig bzw erwerbsunfähig nicht ist, wer eine (zumutbare) Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; ergänzt wurde dies jeweils um den Halbsatz "dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen". Diese Gesetzesänderung sollte - unabhängig von der grundsätzlich erforderlichen Neuordnung des Rechts der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - bereits vorab "einer Ausweitung der konkreten Betrachtungsweise auf leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte entgegenwirken" (vgl Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vom 6.2.1996, BT-Drucks 13/3697 S 3, zu II). Hierzu wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich näher ausgeführt, dass der bestehende Status quo bis zu einer Neuordnung der Rechtslage aufrechtzuerhalten sei. Denn eine Änderung der Rechtsprechung würde im Ergebnis in vielen Fällen zu einem entsprechenden Anspruch auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führen, der nach bisheriger Rechtsanwendung nicht bestehe. Unter dem Druck der Arbeitsmarktlage würden vor allem ältere erwerbsgeminderte Arbeitnehmer verstärkt in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausweichen, wodurch ein Unterlaufen der vom Gesetzgeber mit der Rentenreform 1992 verfolgten Ziele zu befürchten wäre. Gleichzeitig würde dies bei weiterem Sinken des Rentenzugangsalters erhebliche Mehrkosten für die Rentenversicherung zur Folge haben. Es sei Zielsetzung der Gesetzesänderung, konkrete Ermittlungen auf dem Arbeitsmarkt, welche Verweisungstätigkeiten mit wie vielen Arbeitsplätzen es im Einzelfall gebe, auch künftig entbehrlich zu machen (BT-Drucks 13/3697 S 4, zu Art 1 Nr 2 - § 43 Abs 2).
Der Große Senat hat sich deshalb daran gehindert gesehen, den og Katalog zu erweitern. Zwar schließe die Anweisung in § 44 Abs 2 Satz 2 SGB VI, die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen, nicht aus, Personen für erwerbsunfähig zu halten, die aus gesundheitlichen Gründen unter den üblichen Bedingungen nicht arbeiten könnten oder nur für Tätigkeiten in Betracht kämen, die ihrer Art nach selten vorkämen. Denn dies beruhe nicht auf der Schwankungen unterworfenen Lage des Arbeitsmarktes, sondern auf dem praktisch gänzlichen Fehlen entsprechender Arbeitsplätze (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 40). Bei der Auslegung des Begriffs der "jeweiligen Arbeitsmarktlage" sei aber auch das erklärte Ziel der Änderungen durch das 2. SGB VI-ÄndG zu beachten, jede weitere Rechtsfortbildung in Richtung einer "Arbeitsmarktrente" durch die Rechtsprechung zu verhindern. Das Arbeitsmarktrisiko, das vom Bundeshaushalt bzw von den Sozialhilfeträgern getragen werde, habe nicht auf die Rentenversicherungsträger verlagert werden sollen. Das schließe es aus, einen Versicherten, der noch vollschichtig arbeiten könne, deshalb als erwerbsunfähig anzusehen, weil neben den gesundheitlichen Einschränkungen Risikofaktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit, vorgerücktes Alter oder mangelhafte Ausbildung die Vermittlungschancen zusätzlich erschwerten (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 41). Es bleibe daher bei dem Grundsatz, dass für Versicherte, die zu körperlich leichten Arbeiten nur mit Einschränkungen in der Lage seien, generell kein konkreter Vergleich der Leistungsfähigkeit mit dem Anforderungsprofil einer bestimmten Verweisungstätigkeit zu fordern sei. Es genüge, dass es zu einem derartigen Vergleich komme, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Eine vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe sichere, dass es in solchen Fällen zu einer konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit komme (BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 48).
II. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 1.1.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden; dies kommt in § 43 SGB VI nF mit den Formulierungen "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" "erwerbstätig" sein zu können und der Beibehaltung der erstmals im 2. SGB VI-ÄndG eingefügten Klausel, wonach für vollschichtig einsetzbare Versicherte die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 Halbsatz 2 SGB VI) zum Ausdruck (vgl bereits Senatsurteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16 - juris RdNr 19 mwN; BSG Urteil vom 5.10.2005 - B 5 RJ 6/05 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 5 - juris RdNr 18, aA Apidopoulos, SGb 2006, 720 ff: der neue Wortlaut erlaube nur mehr die Anwendung des Verschlossenheitskatalogs).
Durch die Reform des Erwerbsminderungsrechts hat sich gegenüber der früheren Rechtslage keine grundlegende Änderung ergeben. Mit dem (nicht in Kraft getretenen) Rentenreformgesetz 1999 vom 16.12.1997 (BGBl I 2998) wollte der Gesetzgeber ursprünglich eine grundlegende Reform der Erwerbsminderungsrenten mit Wirkung vom 1.1.2000 vornehmen. Der Gesetzgeber sah eine "sachgerechte Zuordnung des Arbeitsmarktrisikos zwischen Rentenversicherung und Bundesanstalt für Arbeit" darin, dass der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit kurzfristig entfallen sollte und in dem verbleibenden zweistufigen System der vollen und teilweisen Erwerbsminderungsrenten auf die sog konkrete Betrachtungsweise jeweils durch die Einfügung der Worte "dabei ist die konkrete Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen" ganz verzichtet werde. Damit solle "zur sog abstrakten Betrachtungsweise" zurückgekehrt werden, wie sie bis zu den Beschlüssen des Großen Senats des BSG in den Jahren 1969 und 1976 als sachgerecht angesehen worden sei. Nach dieser abstrakten Betrachtungsweise komme es bei der Feststellung, ob ein Versicherter in rechtlich relevanter Weise in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei, nur auf seinen Gesundheitszustand und nicht auch - wie bei der sog konkreten Betrachtungsweise - auf die jeweilige Situation auf dem Arbeitsmarkt an. Habe ein Versicherter nicht die Möglichkeit, die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit tatsächlich einzusetzen, zB wegen Fehlens eines (Teilzeit-)Arbeitsplatzes, so sei dafür nicht die Rentenversicherung, sondern - allenfalls - die Arbeitslosenversicherung zuständig (BT-Drucks 13/8011 S 49). Damit wollte der damalige Gesetzgeber allerdings nicht von den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wie sie in der Entscheidung des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 ) dargestellt wurden, abweichen. Denn mit der - bereits damals enthaltenen - Gesetzesformulierung "unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes" sollte sichergestellt werden, dass "für die Feststellung des Leistungsvermögens solche Tätigkeiten, für die es für den zu beurteilenden Versicherten einen Arbeitsmarkt schlechthin nicht gibt (Beschluss vom 19. Dezember 1996, AZ GS 1/95), nicht in Betracht zu ziehen sind" (BT-Drucks 13/8011 S 54 zu Nr 17).
Wegen des Regierungswechsels von der "christlich-liberalen" zur "rot-grünen" Bundesregierung 1998 trat die Reform so nicht in Kraft. Vielmehr wurde das RRG 1999 durch Art 1 § 1 des Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19.12.1998 (BGBl I 3843) zunächst bis zum 31.12.2000 außer Kraft gesetzt. Stattdessen trat mit Wirkung vom 1.1.2001 das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) in Kraft und gab § 43 SGB VI im Wesentlichen seine heutige Fassung. Der Gesetzgeber sah in § 240 SGB VI eine Übergangsvorschrift für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit vor. Er hielt an dem vom RRG 1999 vorgezeichneten zweistufigen System der Erwerbsminderungsrenten inklusive der Grenze von sechs Stunden fest, behielt allerdings die "konkrete Betrachtungsweise" für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei (gegenüber dem RRG Streichung des 2. Halbsatzes in § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI, wonach auch bei teilweiser Erwerbsminderung die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist). Wegen des von der Rentenversicherung übernommenen Arbeitsmarktrisikos bei den Renten wegen voller Erwerbsminderung, bei denen der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist (Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes), wurde mit § 224 SGB VI eine Regelung zum Finanzausgleich mittels der teilweisen Erstattung der Aufwendungen der Rentenversicherungsträger durch die Bundesagentur für Arbeit eingeführt. Ansonsten hielt der Gesetzgeber an der in § 43 Abs 1 und 2 SGB VI verwendeten Formulierung der üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mit derselben auf den Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) Bezug nehmenden Begründung wie im RRG 1999 fest. Insgesamt ging es auch dem Gesetzgeber des RRErwerbG wesentlich darum, eine sachgerechte Zuordnung der von den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung zu tragenden Risiken zu regeln. Dies findet seinen Ausdruck in der Entwurfsbegründung, wenn es dort heißt: "Das gegliederte System der sozialen Sicherung, das in Deutschland besteht, behält seine Berechtigung (jedoch) nur, wenn die Risiken systemgerecht zugeordnet werden" (BT-Drucks 14/4230 S 23 zu A.1.).
Aus dieser Gesetzesentwicklung ergibt sich, dass die am Gesetzeszweck ansetzenden Argumente des Großen Senats nicht überholt sind. Vielmehr hat der Gesetzgeber ersichtlich selbst die Grundsätze des Beschlusses vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) in seinen Willen aufgenommen und damit erkennbar festschreiben wollen.
III. Der Senat geht weiterhin von dem Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes aus. Er hält daran fest, dass Versicherte, die nur noch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten - ggf unter weiteren gesundheitlichen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten können, regelmäßig in der Lage sind, "erwerbstätig zu sein".
Arbeitsplätze, auf denen ungelernte körperlich leichte Tätigkeiten zu erbringen sind, sind nicht generell "unüblich"; insoweit gilt weiter, dass der Katalog zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht um eine solche Fallgruppe erweitert werden kann. Vom praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Anforderungen verknüpft sind, kann derzeit nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen. In der Wissenschaft bestehen insoweit widersprüchliche Prognosen über die Entwicklungsverläufe (Ittermann/Niehaus, Industrie 4.0 und Wandel von Industriearbeit revisited, S 33 ff, in Hirsch-Kreinsen/Ittermann/Niehaus ≪Hrsg≫, Digitalisierung industrieller Arbeit, 2015). Ein außergewöhnlicher Rückgang von Einfacharbeit wegen technischer Substitution ist jedenfalls noch nicht zu verzeichnen. Diskutiert werden unterschiedliche (zT gegenläufige) Auswirkungen der Automatisierung auf verschiedene Qualifikationsbereiche und Branchen, ohne dass derzeit signifikante Einbrüche vorliegen (Weißbuch Arbeiten 4.0, BMAS ≪Hrsg≫, 2016, S 51, 52). Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit werden 2018 von ca 32,8 Mio sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistische-Analysen/Interaktive-Visualisierung/Berufe-auf-einen-Blick/Berufe-auf-einen-Blick-Anwendung-Nav.html, Suchbegriff: Gesamt, abgerufen am 11.12.2019) ca 5,2 Mio Beschäftigte dem Anforderungsniveau des Helfers zugeordnet, das typischerweise einfache, wenig komplexe Routinetätigkeiten umfasst (ebenda Suchbegriff: Helfer). Eine Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung vom November 2019 zeigt sogar, dass zwischen 2013 und 2018 die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten insgesamt um 11 % stieg, während die Zahl der Helfer im gleichen Zeitraum um 26,4 % zulegte (Kaufmann/Schwengler/Wiethölter, IAB-Forum vom 6.11.2019). Branchen mit einem aktuell vergleichsweise hohen Anteil an geringqualifizierten Beschäftigten sind das Gastgewerbe, Reinigungsgewerbe, Verkehr/Lagerei und Produktion (Schöpper-Grabe/Vahlhaus, IW-Kurzberichte: Anforderungen an Helferjobs, IW-Kurzberichte 83.2017); typische Tätigkeitsprofile in diesen Bereichen umfassen etwa das Zuarbeiten zur Speisenproduktion, die Reinigung von Räumen, das Kommissionieren sowie den Warenein- und -ausgang, die Verpackung, Versand(vorbereitung), das Transportieren, Verladen und Verräumen, die Qualitätssicherung und -kontrolle, die Maschinenbedienung, -bestückung und -überwachung sowie die Warensortierung. Zugleich lassen 2017/2018 durchgeführte allgemeine Erhebungen über die Arbeitsbedingungen (Lück/Hünefeld/Brenscheidt/Bödefeld/Hünefeld/BAuA, in BAuA ≪Hrsg≫, Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018, Vergleich zur Grundauswertung 2006 und 2012, 2. Aufl 2019, S 25 ff) erkennen, dass die durchschnittlichen Belastungen der Erwerbstätigen durch Arbeitsbedingungen wie zB häufiges Stehen, schweres Heben und Tragen, Zwangshaltungen oder Termindruck im Vergleich zu Befragungen 2012 und 2006 gleichbleibend bzw eher rückläufig sind.
IV. Ausnahmen von dem Regelfall der Vermutung eines offenen Arbeitsmarktes bei noch bestehendem vollschichtigen Leistungsvermögen sind - abgesehen von den Konstellationen der in der früheren Rechtsprechung entwickelten Katalogfälle Nr 1 und 2 (s oben zu A.1) - regelmäßig nur dann anzunehmen, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. Der Senat geht hierbei von folgenden Grundsätzen aus:
1. Eine Einsatzfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ist weiterhin dann nicht gegeben, wenn einer der in der früheren Rechtsprechung des BSG anerkannten sog Katalogfälle (s oben zu A.1) des verschlossenen Arbeitsmarktes vorliegt (vgl BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16, RdNr 29; BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 17). Die hierzu ergangene Rechtsprechung ist auf die Rechtslage nach der gesetzlichen Neuformulierung übertragbar (vgl auch Dünn/Vogel, DRV 2012, 147, 153). Liegen die Umstände der früheren Katalogfälle Nr 1 (insbesondere ungewöhnlicher Pausenbedarf) und 2 (Einschränkung der Wegefähigkeit) vor, sind ohne Prüfung einer Verweisungstätigkeit regelmäßig die Voraussetzungen einer vollen Erwerbsminderung gegeben. Hingegen setzen die in den Katalogfällen 3 bis 7 zusammengefassten Umstände die Benennung einer Verweisungstätigkeit voraus. Hierfür ist vorab zu prüfen, ob im Falle eines auf leichte Tätigkeiten beschränkten Leistungsvermögens eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung gegeben ist. Erst ein solcher Ausnahmefall begründet die Notwendigkeit der Benennung einer Verweisungstätigkeit, weil ernste Zweifel daran bestehen, dass der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar ist (vgl BSG Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 - juris RdNr 48).
2. Ob eine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" oder eine "schwere spezifische Leistungsbehinderung" vorliegt, ist immer eine Frage des Einzelfalls und obliegt der Würdigung des Tatsachengerichts. Denn die qualitativen Leistungseinschränkungen sind in jedem Einzelfall nach Schweregrad, Anzahl und Wechselwirkungen unterschiedlich stark ausgeprägt und deren Kombinationsmöglichkeiten sind unüberschaubar. Den Tatrichtern kommt bei ihrer Würdigung des Gesamtbildes der Verhältnisse ein Wertungsspielraum zu, dessen Ergebnis nur eingeschränkt überprüft werden kann, weil es keine nach logischen Maßstäben einzig richtige Entscheidung gibt (ausführlich BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 - juris RdNr 29). Die bisherigen Entscheidungen des BSG sind vor diesem Hintergrund als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Gegebenheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung tragen (BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 - juris RdNr 29). Der Wertungsakt ist allerdings daraufhin überprüfbar, ob er auf einer ausreichenden und rechtlich verwertbaren Tatsachengrundlage beruht und ob die Wertungsmaßstäbe erkannt und angewandt wurden.
3. Die Wertungsmaßstäbe richten sich an dem Zweck der Summierungsrechtsprechung aus, wonach bei ernsten Zweifeln an der Verwertbarkeit des verbliebenen Leistungsvermögens auf dem Arbeitsmarkt ein individueller Abgleich mit einer Verweisungstätigkeit erfolgen soll. Dabei darf es sich jedoch nicht um subjektive Zweifel handeln, sondern diese müssen - ggf auf der Grundlage medizinischer und/oder berufskundlicher Aufklärung nach richterlichem Ermittlungsermessen (vgl BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 26) - durch eine hinreichend nachvollziehbare Begründung objektiviert werden. Die Wertung erfordert - je nach Einzelfall - eine unterschiedlich intensive Auseinandersetzung mit dem Leistungsvermögen des Versicherten und den Bedingungen des Arbeitsmarktes.
4. Einer geringeren Prüfungsintensität bedarf es in den Fällen, bei denen das verbliebene positive Leistungsvermögen die relativ "schnelle" Zuordnung von Arbeitsfeldern, die nur mit körperlich leichten Belastungen einhergehen (zB Sortier- und Montiertätigkeiten, Boten- und Bürodienste) - oder ggf sogar die (hilfsweise und überobligatorische) Benennung einer geeigneten Verweisungstätigkeit - erlaubt und damit Zweifel an der Einsetzbarkeit von Versicherten beseitigt werden. Insoweit ist zunächst darauf abzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten typische Verrichtungen wie zB Bedienen von Maschinen oder das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen ermöglicht. Dieser Kern an typischen körperlichen Verrichtungen ist nicht überholt. Die Aufzählung der Arbeitsfelder und Verrichtungen ist nicht abschließend; sie kann erweitert werden (zB "einfache Büro- oder Montagetätigkeiten", BSG Urteil vom 24.2.1999 - B 5 RJ 30/98 R - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 - juris RdNr 10; zur weiteren Ausdifferenzierung typischer Bürotätigkeiten zB Freudenberg - jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 RdNr 161). Im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung von Prozessen können zB auch Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen in Betracht gezogen werden (vgl zu entsprechen Berufsstrukturen bei Ungelernten: Braun/Bremser/Schöngen/Weller, BIBB-Report Januar 2012, Heft 17, S 1, 5). Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Art der Leistungseinschränkungen ist in Fällen eines noch ausreichenden positiven Leistungsvermögens regelmäßig nicht erforderlich.
5. Je weniger solche geeigneten Arbeitsfelder und Verrichtungen für den Versicherten in Betracht kommen werden können, desto eingehender ist das Vorliegen eines Ausnahmefalls zu prüfen und das Ergebnis zu begründen. Die Prüfungsintensität ist umso höher, je mehr die qualitativen Leistungseinschränkungen geeignet erscheinen, typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren. Dabei sind die beiden Fragen nach der Einsetzbarkeit des Versicherten in geeigneten Arbeitsfeldern auf dem Arbeitsmarkt und nach der Bewertung seiner Leistungseinschränkungen als "ungewöhnlich" (Prüfungsschritt 1 und 2 nach BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 = SozR 4-2600 § 43 Nr 16, RdNr 35 sowie vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 24, 25) nicht klar voneinander abgrenzbar. Denn die "Ungewöhnlichkeit" der Leistungseinschränkungen beurteilt sich gerade danach, wie stark die Möglichkeit eingeschränkt ist, erwerbstätig zu sein. Es ist daher erforderlich, die im Einzelfall vorliegenden Einschränkungen nach Art und Schwere in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten.
6. In diesem Sinne ist die "schwere spezifische Leistungsbehinderung" eine schwerwiegende Behinderung, die bereits alleine ein weites Feld an Einsatzmöglichkeiten versperrt (vgl BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 28 mwN). Als solche wurden zB die Einarmigkeit oder besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz angesehen (vgl BSG Urteil vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18 RdNr 28 mit weiteren Beispielen).
7. Im Sinne eines Ähnlichkeitsvergleichs muss die "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" in ihrer Wirkung der schweren spezifischen Leistungsbehinderung gleich kommen. Dabei sind folgende abstrakte Fallgestaltungen denkbar:
a) Es liegen (mindestens) zwei Leistungseinschränkungen vor, die ihrer Art bzw Schwere nach (zB Wechselrhythmus in 20 bis 30 Minuten mit einigen Minuten dauerndem Wechsel; keine schnellen Arm- und Handbewegungen vgl zB BSG Urteil vom 28.8.1991 - 13/5 RJ 47/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 RdNr 20) jeweils für sich genommen schon eine erhebliche Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen.
b) Es liegen mehrere Leistungseinschränkungen vor, die sich aufgrund ihres Zusammentreffens insgesamt "ungewöhnlich" auswirken, sodass die Chance, einen Arbeitsplatz ausfüllen zu können, ebenso stark reduziert erscheint wie bei Buchst a (vgl BSG Urteil vom 19.8.1997 - 13 RJ 21/95 - juris RdNr 22). Dabei genügt es für die Annahme eines Summierungsfalles nicht, auf die schiere Anzahl der von den Gutachtern genannten qualitativen Einschränkungen zu verweisen; eine Analyse, durch welche konkreten Einschränkungen das Feld der Einsatzmöglichkeiten nicht nur hinsichtlich einzelner Verrichtungen, sondern umfassender reduziert wird, bleibt unerlässlich. In den Blick zu nehmen ist insoweit eine besondere Addierungs- und Verstärkungswirkung mehrerer verschiedener, nur auf den ersten Blick "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen. Die Benennung, Bewertung und Begründung der zur Summierung führenden Wirkung ist tatrichterliche Aufgabe.
8. Die Einschränkung der Einsatzmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt muss dabei grundsätzlich über diejenige hinaus gehen, die sich bereits durch die Beschränkung auf körperlich leichte Tätigkeiten ergibt (stRspr, zB BSG Urteil vom 14.7.1999 - B 13 RJ 65/97 R - juris RdNr 33, vgl auch Loytved, NZS 1999, 276, 278). Nach der für die sozialmedizinische Begutachtung in der Praxis verwendeten Klassifizierung der Arbeitsschwere nach REFA sind unter körperlich leichten Tätigkeiten solche zu verstehen wie das Handhaben leichter Werkstücke und Handwerkszeuge, Tragen von weniger als 10 kg, Bedienen leichtgehender Steuerhebel und Kontroller oder ähnlicher mechanisch wirkender Einrichtungen und lang andauerndes Stehen oder ständiges Umhergehen (bei Dauerbelastung). Bis zu 5 % der Arbeitszeit (oder zweimal pro Stunde) können mit mittelschweren Arbeitsanteilen belastet sein. Belastende Körperhaltungen (Zwangshaltungen, Haltearbeit) erhöhen die Arbeitsschwere um eine Stufe (vgl DRV, Sozialmedizinische Begutachtung für die Gesetzliche Rentenversicherung, 7. Aufl 2011, S 48). Daher wird zB der Ausschluss von Heben und Tragen von schweren Lasten und von Zwangshaltungen von der Beschränkung auf leichte Arbeit ohnehin schon erfasst.
9. Als Anhaltspunkte für die Relevanz der Leistungseinschränkungen in Bezug auf die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt können weitere Quellen zB die jeweils aktuellen Auswertungen der BIBB/BAuaA-Erwerbstätigenbefragungen herangezogen werden, aus denen sich - differenziert nach Anforderungsniveau (zuletzt enthalten im Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit vom 4.12.2014 - BT-Drucks 18/3474 - S 150 - Abb C 14 ff) - ergibt, welche Arbeitsanforderungen (zB Arbeit im Stehen, Arbeit mit Händen) besonders häufig gestellt werden und daher von erheblicher Bedeutung sind.
10. Liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor, hat der Rentenversicherungsträger eine geeignete Verweisungstätigkeit konkret zu benennen. Es ist dann das körperliche, geistige und kognitive Leistungsvermögen mit dem beruflichen Anforderungsprofil zu vergleichen. Hierbei ist auch zu fragen, ob die/der Versicherte die fachlichen Qualifikationen hat bzw ob sie/er sie in drei Monaten erlernen kann. Nicht verwiesen werden darf auf Tätigkeiten, die die Voraussetzungen der Katalogfälle Nr 3 bis 7 erfüllen. Kann der Versicherte die Verweisungstätigkeit nicht ausüben, ist er auch dann (voll) erwerbsgemindert, wenn sein zeitliches Leistungsvermögen uneingeschränkt ist.
|
B) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt hier ein Verfahrensmangel vor. Die Feststellungen des Berufungsgerichts sind verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Der Rechtsstreit ist zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das LSG zurückzuverweisen, weil das angefochtene Urteil die §§ 103, 116, 118 SGG iVm §§ 397, 402 und 411 ZPO verletzt und auch hierauf beruhen kann. Die Verfahrensrüge der Beklagten ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat es das LSG unterlassen, dem von ihr im Berufungsverfahren gestellten und im angefochtenen Urteil wiedergegebenen Beweisantrag nachzugehen. Dieser hatte den Inhalt, die Sachverständigen Dr. D. und Dr. W. ergänzend zu befragen, ob der Kläger noch folgende Tätigkeiten ausüben kann: |
- Zureichen, Abnehmen, Transportieren von Teilen bis 5 kg ohne Hilfsmittel, |
- Reinigungsarbeiten von Kleinteilen per Hand ohne Hilfsmittel, |
- Kleben, Bekleben, Sortieren, Zusammensetzen und Verpacken von Kleinteilen. |
Unabhängig von dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei einem erläuterungsbedürftigen schriftlichen Sachverständigengutachten nach §§ 118 SGG, 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuordnen, steht jedem Beteiligten nach § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zu, einem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (vgl ua BSG Beschluss vom 16.6.2016 - B 13 R 119/14 B - juris RdNr 12; Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1500 § 116 Nr 1 - juris RdNr 20; BVerfG Kammerbeschluss vom 24.8.2015 - 2 BvR 2915/14 - juris RdNr 17). Stellen die Beteiligten entsprechende Beweisanträge, wie zB Gutachter ergänzend zu hören, liegt in der Übergehung dieses Antrags regelmäßig ein wesentlicher Verfahrensmangel. Denn in diesen Fällen will ein Beteiligter auch sein Fragerecht als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör ausüben (vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1500 § 116 Nr 1 - juris RdNr 20).
Die Beklagte hat ihren Antrag rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung im Schriftsatz vom 1.6.2018 gestellt und das Begehren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten (vgl BSG Beschluss vom 15.9.2015 - B 13 R 201/15 B - juris RdNr 7; BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 V 2/99 R - SozR 3-1750 § 411 Nr 1 - juris RdNr 20). Zudem waren die schriftlich gestellten Fragen sachdienlich iS von § 116 Satz 2 SGG. Dies ist hier nach der vorzunehmenden objektiven Betrachtung der Fall (vgl BSG Beschluss vom 13.2.2019 - B 6 KA 14/18 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 15.9.2015 - B 13 R 201/15 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 SB 47/10 B - juris RdNr 4; BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1750 § 411 Nr 1 - juris RdNr 20; BSG vom 27.6.1984 - 9b RU 48/83 - juris RdNr 9). Denn sie hielten sich im Rahmen des Beweisthemas und waren nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet (vgl BSG Beschluss vom 10.10.2018 - B 13 R 265/17 B - juris RdNr 9).
Soweit das LSG den Beweisantrag in einem ersten Argumentationsstrang für nicht entscheidungserheblich ansieht, weil es nicht auf die Ausführbarkeit der im Beweisantrag genannten Verrichtungen ankäme, verkennt es die rechtlichen Maßstäbe (s oben B IV 4 und 5).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist eine solche Prüfung auch weiterhin vorzunehmen. Soweit das LSG im Rahmen seiner selbständigen Hilfserwägung selbst auf die Erheblichkeit der genannten Verrichtungen abstellt, tragen seine Überlegungen auch hierzu nicht. Denn entgegen der Auffassung des LSG ist der Sachverhalt aufgrund der vorliegenden Gutachten noch nicht ausreichend aufgeklärt. Die Sachverständigen haben die ergänzenden Fragen weder ausdrücklich noch sinngemäß beantwortet. So wird etwa die Frage der Beklagten, ob das Zureichen, Abnehmen und Transportieren von Teilen bis 5 kg medizinisch für den Kläger noch ausübbar ist, gerade nicht mit der Aussage des LSG beantwortet, dass bei Zureichen, Abnehmen, Transportieren die Hebe- und Tragefähigkeit nicht erheblich eingeschränkt sein dürfe, was beim Kläger der Fall sei; denn insofern hat das LSG aus den Gutachten nur die Unzumutbarkeit von Heben und Tragen von schweren und mittelschweren Lasten bzw Lasten über 5 kg festgestellt. Soweit das LSG die Möglichkeit des Klägers zum Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen wegen des Ausschlusses von "einseitiger Körperhaltung" verneint, ist schon nicht nachvollziehbar, auf welche Sachkunde das Berufungsgericht seine Annahme gründen will, dass diese Verrichtungen stets in einseitiger Körperhaltung vorgenommen werden. Darüber hinaus hätte es näherer Aufklärung dazu bedurft, was der Sachverständige unter Einseitigkeit versteht, weil das LSG bereits an anderer Stelle Zweifel am sozialmedizinischen Begriffsverständnis des orthopädischen Sachverständigen Dr. W. hatte. Es ist dessen Aussage, der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten, nicht gefolgt, weil der von ihm vorgenommene Ausschluss von Zwangshaltungen gegen die Ausübbarkeit mittelschwerer Arbeit spreche. Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil des LSG auch beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass es bei weiterer Befragung der Sachverständigen zu einer anderen, besseren Bewertung des Restleistungsvermögens des Klägers gekommen wäre.
Das LSG wird bei der Nachholung der Beweisaufnahme davon auszugehen haben, dass die unter A. IV 4) benannten Verrichtungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für Versicherte mit einem auf leichte körperliche Tätigkeiten beschränkten Leistungsvermögen in noch ausreichendem Maß zur Verfügung stehen (vgl A. III). Dieser (temporären) Vermutung widerspräche es, wenn das LSG bei seiner Einzelfallwürdigung zugrunde legen würde, dass typische Verrichtungen wie zB das Zureichen, Reinigen und Sortieren regelmäßig mit Trageleistungen und Zwangshaltungen verbunden seien, die mittelschwere Arbeiten kennzeichnen. Auch ein allgemeiner Erfahrungssatz, wonach das Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen regelmäßig in einseitiger Körperhaltung erfolgt, ist für den Senat nicht ersichtlich. Will das LSG von einer solchen Annahme ausgehen, so bedarf es einer besonderen Sachkunde, die das LSG belegen müsste; insofern ist es notwendig, die Quelle für diese spezielle Erfahrung oder Sachkunde anzugeben. Anderenfalls läge ein Verstoß gegen die Grenzen freier Beweiswürdigung vor (vgl BSG Beschluss vom 13.9.2005 - B 2 U 365/04 B - juris RdNr 8 f; BSG Urteil vom 1.3.1984 - 4 RJ 43/83 - SozR 2200 § 1246 Nr 117 - juris RdNr 12 mwN; BSG Urteil vom 11.11.2004 - B 9 SB 1/03 R - juris RdNr 17 f; BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 - juris RdNr 62, 63). Die vom LSG in seinem Urteil zitierten allgemeinen Äußerungen des berufskundlichen Sachverständigen Dr. Z. tragen diesen Schluss nicht.
Wenn das LSG bestimmte berufskundliche Bedingungen der Verrichtungen voraussetzt, so hat es im Zweifelsfall auch den medizinischen Sachverständigen zu der Vereinbarkeit mit den von ihm angegebenen qualitativen Leistungseinschränkungen zu befragen, zumal wenn die verwendeten Begriffe nicht eindeutig bestimmbar sind oder eine Kombination mehrerer Einschränkungen betroffen sein kann. Denn die qualitativen Leistungseinschränkungen können nicht getrennt von den dahinterstehenden individuellen gesundheitlichen Einschränkungen betrachtet werden.
C) Eine Zurückverweisung nach § 170 Abs 2 Satz 1 SGG hat aber auch deshalb zu erfolgen, weil das LSG die Maßstäbe für die Annahme einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" (dazu A. IV) verkannt hat. Nach der erforderlichen Beweiserhebung im wiedereröffneten Berufungsverfahren hat es diese seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Es reicht für die Annahme einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" nicht aus, dass das LSG eine Vielzahl von qualitativen Leistungseinschränkungen auflistet. In einem Summierungsfall mit ungewöhnlichen Auswirkungen (dazu A. IV 7b) müssen - wie ausgeführt - die über das Erfordernis der leichten Arbeit hinausgehenden Einschränkungen benannt und die gerade aus ihrer Kombination folgenden ungewöhnlichen Auswirkungen hergeleitet werden. Denn es bleibt auch bei einer Mehrzahl von qualitativen Leistungseinschränkungen Aufgabe des Tatsachengerichts, diese in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt abzuklären und zu bewerten (vgl bereits BSG Beschluss vom 19.10.2011 - B 13 R 135/11 B - juris RdNr 22 unter ausdrücklichem Hinweis auch auf den Beschluss des 5. Senats des BSG vom 14.12.1998 - B 5 RJ 184/98 B - SozR 3-2600 § 43 Nr 19 S 67 f - juris RdNr 9).
Die Feststellung des LSG, dass eine Summierung ausschließlich gewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, ist für die Auslösung des Gebots zur Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht ausreichend. Es hat sich bei seiner Bewertung schon nicht damit auseinandergesetzt, welche Leistungseinschränkungen des Klägers das Feld der körperlich leichten Verrichtungen zusätzlich einschränken (wie hier zB der Ausschluss von überwiegend stehenden und gehenden Tätigkeiten) oder nicht (hier zB Arbeiten mit ständigen oder überwiegenden Zwangshaltungen wie Bücken, Überkopfarbeiten, Knien, Kriechen, Hocken und der Ausschluss von Arbeiten mit erhöhten oder besonderen Anforderungen an die Belastbarkeit). Wenn das LSG einen Versicherungsfall am 4.3.2014 annimmt, weil ab diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit bestehe, dass der Kläger überwiegend im Sitzen arbeite, folgt allein aus dieser Notwendigkeit nach den og Maßstäben noch keine ungewöhnliche Leistungseinschränkung. Zwar kann der Auswertung der Erwerbstätigenbefragung der BIBB/BAuA von 2012 nach Anforderungsniveau (BT-Drucks 18/3474 vom 4.12.2014, S 150) entnommen werden, dass 82 % der Helfer- und Anlerntätigkeiten häufiges Stehen erfordern; gravierende Veränderungen dieser Zahl aus 2012 haben sich gegenüber 2018 nicht ergeben (vgl Lück/Hünefeld/Brenscheidt/Bödefeld/Hünefeld/BAuA, in BAuA ≪Hrsg≫, Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018, Vergleich zur Grundauswertung 2006 und 2012, 2. Aufl 2019). Dies zeigt zwar einerseits, dass mit dem Ausschluss von stehenden Tätigkeiten eine für den Arbeitsmarkt grundsätzlich relevante Leistungseinschränkung des Klägers vorliegt. Andererseits folgt aus der Statistik im Umkehrschluss, dass 18 % der genannten Tätigkeiten nur manchmal, selten oder nie im Stehen ausgeübt werden. Angesichts der großen Gesamtzahl von Helfertätigkeiten (5,2 Mio, s oben) verbleibt es daher bei der Vermutung, dass noch ein ausreichend relevanter Arbeitsmarkt für den Kläger vorhanden ist. Allein wegen der Beschränkung auf sitzende Tätigkeiten kann daher noch nicht von einer ungewöhnlichen Auswirkung auf die Einsetzbarkeit am Arbeitsmarkt ausgegangen werden. Eine solche Auswirkung könnte sich zwar grundsätzlich in Verbindung mit weiteren ausgeschlossenen Arbeitsbedingungen ergeben (dazu A. IV. 7. b). Eine besondere Addierungs- und Verstärkungswirkung wird vom LSG aber nicht hinreichend begründet und festgestellt. Hierfür reicht es im Übrigen auch nicht aus, dass sich die einzelnen Prozentwerte der für den Kläger jeweils ausgeschlossenen Arbeitsanforderungen aus der BIBB/BAuA-Auswertung rein rechnerisch auf über 100 % aufaddieren lassen, da davon auszugehen ist, dass insoweit erhebliche Überschneidungen bestehen.
Die Summierungsvoraussetzungen können nicht deshalb dahinstehen, weil das LSG festgestellt hat, dass für den Kläger kein geeigneter Verweisungsberuf benannt werden kann. Denn dadurch würde der Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes unterlaufen und in sein Gegenteil verkehrt.
Auf den Einwand der Beklagten, das LSG habe nicht in einem ersten Prüfungsschritt festgestellt, dass der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben könne, kommt es nicht an. Unabhängig davon ist ein solcher "erster Prüfungsschritt" auch nicht geboten. Soweit sich die Beklagte auf den Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) bezieht, lag diesem ein Fall zugrunde (vgl Vorlagebeschluss vom 23.11.1994 - 13 RJ 71/93 - juris), in dem zunächst die Berufsunfähigkeit der Klägerin geprüft worden war. Ausgangspunkt jeder Beurteilung der Berufsunfähigkeit war der "bisherige Beruf" (stRspr, vgl BSG Beschluss vom 23.11.1994 - 13 RJ 19/93 - juris RdNr 31). Der bisherige Beruf war zwar auch für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht ohne Bedeutung (so ausdrücklich BSG Beschluss vom 23.11.1994 - 13 RJ 19/93 - juris RdNr 31). Denn konnte ein Versicherter seinen bisherigen Beruf noch ohne wesentliche Einschränkungen ausüben, so stand gleichzeitig fest, dass der Versicherungsfall der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht eingetreten war. Dies gilt im Grundsatz auch für das geltende Recht. Daraus folgt jedoch nicht, dass Ausgangspunkt jeder Prüfung der Erwerbsminderung die Feststellung des bisherigen Berufs sein muss. Denn die Erwerbsminderung bezieht sich seit 1.1.2001 gerade nicht auf den bisherigen Beruf, sondern auf das quantitative Leistungsvermögen und die "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" (§ 43 Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 2 SGB VI). Wegen der Geburt des Klägers am 2.1.1964 - also nach dem Stichtag des § 240 Abs 1 Nr 1 SGB VI (2.1.1961) - kommt eine Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit von vorneherein nicht in Betracht. Daher muss auch nicht denklogisch vorweg geprüft werden, welcher von ggf mehreren ausgeübten Berufen des Klägers der bisherige war (vgl dazu ua BSG Urteil vom 26.4.2005 - B 5 RJ 27/04 R - juris RdNr 16).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 13692243 |
BSGE 2020, 274 |