Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Gerüstbaumonteur. anerkannter Ausbildungsberuf. tarifvertragliche Einstufung. Ecklohngruppe. Verweisungstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Aus einem Tarifvertrag, der keine Gruppe mit anerkannten Facharbeiterberufen enthält, kann bei Prüfung von Berufsunfähigkeit kein Berufsschutz als Facharbeiter abgeleitet werden.
2. Die Ausgestaltung einer Tarifgruppe als „Ecklohngruppe” besagt nichts über die Wertigkeit der darin aufgeführten Tätigkeiten.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2; SGB VI § 300 Abs. 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 04.06.1992; Aktenzeichen L 3 J 80/91) |
SG Kiel (Entscheidung vom 18.02.1991; Aktenzeichen S 13 J 274/90) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Juni 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU); im Streit ist vornehmlich die Frage, ob er in seinem Beruf als Gerüstbaumonteur Berufsschutz als Facharbeiter genießt.
Der Kläger war nach einer (ungelernten) Tätigkeit als Messesteward von Mai 1965 bis zu einem Arbeitsunfall im Juli 1988 bei einer Gerüstbaufirma beschäftigt, bei der er eine Anlernphase von zwei Jahren durchlief. Er stieg vom Gerüstbauhelfer zum Gerüstbaumonteur auf und wurde zuletzt nach der Berufsgruppe IV des Bundeslohntarifvertrages für das Gerüstbaugewerbe (BLTVG) entlohnt.
Den im Januar 1990 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen BU oder Erwerbsunfähigkeit (EU) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Juli 1990 ab, die hiergegen bei dem Sozialgericht Kiel (SG) erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil vom 18. Februar 1991). Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und des ablehnenden Bescheides, dem Kläger Rente wegen BU vom 1. Februar 1990 an zu zahlen.
Das Urteil des LSG vom 4. Juni 1992 ist auf folgende Erwägungen gestützt: Der „bisherige Beruf” des Klägers (Gerüstbaumonteur) sei von facharbeitergleicher Wertigkeit. Zwar sei hierfür nach dem Rahmentarifvertrag für das Gerüstbaugewerbe vom 11. Mai 1987 (RTVG) und der Gerüstbauer-Ausbildungsverordnung vom 18. Dezember 1990 (BGBl I S 2884) lediglich eine zweijährige Tätigkeit bzw Ausbildung im Gerüstbaugewerbe erforderlich, jedoch hänge die soziale Wertigkeit des bisherigen Berufes nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht von der Ausbildungsdauer allein, sondern insbesondere von der tarifvertraglichen Klassifizierung der jeweiligen Tätigkeitsart ab (BSG Urteil vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 69/90 –). Im RTVG hätten die Tarifvertragsparteien unter Hintanstellung der Ausbildungsdauer eine Berufsgruppe im Grenzbereich zwischen der Anlernebene und der Facharbeiterebene zu Facharbeitern erhoben, indem sie der Berufsgruppe IV für Gerüstbaumonteure den „Ecklohn” zugeordnet hätten. Die facharbeitergleiche Einstufung beruhe auf qualitativen Gesichtspunkten, wie die Berufsgruppenbeschreibung des RTVG verdeutliche. Seinen bisherigen Beruf könne der Kläger infolge seines eingeschränkten Leistungsvermögens nicht mehr ausüben, eine sozial zumutbare Verweisung auf Tätigkeiten der nächstniederen Lohnstufe scheitere an gesundheitlichen Einschränkungen und aus Rechtsgründen. Wegen der geringen Bedeutung der im Gerüstbau erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten für andere Arbeitsbereiche eröffne ihm seine berufliche Qualifikation keine anderweitigen Einsatzmöglichkeiten auf Facharbeiter- oder Anlernebene. Zwar könne er noch als Telefonist nach einer betriebsüblichen Einweisungsphase von bis zu drei Monaten Dauer beschäftigt werden, doch handele es sich dabei um eine sowohl im Bundesangestelltentarif (BAT) – Vergütungsgruppe VIII – als auch im Gehaltsrahmentarifvertrag für den Einzelhandel (Gruppe B 1) den Anlerntätigkeiten gleichgestellte Tätigkeit. Eine Verweisung auf solche Berufe scheide für einen ausgebildeten Arbeitnehmer jedenfalls dann aus, wenn sie – wie die Telefonistentätigkeit – ganz ohne jede Ausbildung oder Einarbeitung von nennenswerter Dauer ausgeübt werden könnten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte die Verletzung des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend. Das LSG habe den Kläger zu Unrecht innerhalb des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas einem Facharbeiter gleichgestellt. Der Beruf des Gerüstbauers sei zwar inzwischen als Ausbildungsberuf iS des § 25 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) staatlich anerkannt, die Ausbildungsdauer betrage aber nur zwei Jahre; der die Zeit davor erfassende Tarifvertrag (TV) über die Berufsbildung im Gerüstbaugewerbe vom 20. August 1985 sehe überhaupt keine Ausbildungsdauer vor. Facharbeiter „a priori” sei der Kläger daher nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG nicht, weil er nicht eine für den Beruf vorgeschriebene mehr als zweijährige Ausbildung durchlaufen habe. Zwar sei danach auch ein Versicherter, der von den Tarifvertragsparteien in eine hinsichtlich ihrer Qualität und der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägte Tarifgruppe eingestuft sei, als Facharbeiter einzuordnen. Eine solche Indizfunktion hätten in der Regel aber nur Tarifverträge, deren Lohngruppen verschiedene Berufe erfaßten, von denen zumindest einer ein „echter” Lehrberuf mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung sei; diese Voraussetzungen erfülle der BLTVG jedoch nicht. Weder ihm noch dem RTVG lasse sich daher entnehmen, daß es sich bei der Berufsgruppe IV (Gerüstbaumonteur) um eine Facharbeitergruppe handele; sie sei vielmehr als die der angelernten Arbeiter der oberen Stufe anzusehen. Daß dieser Gruppe der „Ecklohn” zugeordnet und im Gerüstbaugewerbe eine Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren überhaupt nicht vorgesehen sei, ändere daran nichts. Hätte das LSG den „bisherigen Beruf” des Klägers zutreffend bewertet, so hätte es den von dem berufskundigen Sachverständigen als gesundheitlich zumutbaren Beruf des einfachen Pförtners auch als sozial zumutbare Verweisungstätigkeit ansehen und BU ablehnen müssen. Auch bei Zuerkennung des Facharbeiterberufsschutzes könne der Kläger zumutbar auf die von dem Sachverständigen genannte Tätigkeit des Telefonisten verwiesen werden, weil diese in eine Anlerngruppe eingeordnet und damit nach der Rechtsprechung des BSG auch für Facharbeiter zumutbar sei.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 4. Juni 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Kiel vom 18. Februar 1991 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 4. Juni 1992 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus; Es hänge mit der Eigenart des Gerüstbaugewerbes zusammen, daß der maßgebliche TV keine staatlich anerkannten Ausbildungsberufe erfasse und einer der Berufsgruppen zuordne. Zum Auf- und Abbauen von Gerüsten würden Handwerker oder Facharbeiter anderer Branchen nicht benötigt. Der Gerüstbaumonteur der Berufsgruppe IV des RTVG, die den „Ecklohn” bilde, sei der Facharbeiter. Der qualitative Wert dieses Berufs lasse sich auch aus anderen Tarifverträgen herleiten. So ordne zB der TV für das Maler- und Lackiererhandwerk in Nordrhein-Westfalen Arbeitnehmer, die ausschließlich mit Gerüstbau beschäftigt würden, der Facharbeiterecklohngruppe IV zu und stelle sie also den gelernten Handwerkern gleich. Auf die Tätigkeit des Telefonisten müsse er sich nicht verweisen lassen. Zumutbar sei für einen Facharbeiter nur eine schwierigere Angestelltentätigkeit nach der Vergütungsgruppe BAT VIII, auf die nach Vergütungsgruppe BAT IX b bewerteten einfacheren Angestelltenarbeiten könne er nach der Rechtsprechung des BSG nicht verwiesen werden. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG lasse sich nicht entnehmen, ob es sich bei der Telefonistentätigkeit um eine leichtere oder eine schwerere Angestelltentätigkeit handele. Handele es sich um eine schwierigere Angestelltenarbeit, bestünden Zweifel, ob er geeignet und imstande sei, sich die hierfür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb von drei Monaten anzueignen. Da die Arbeitsweisen des Gerüstbauers und des Telefonisten grundverschieden seien, würden ihm erhebliche Umstellungsfähigkeiten abverlangt, deren Vorhandensein nicht einfach unterstellt werden dürfe.
Die Beteiligten haben sich gem § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Dessen Feststellungen reichen für die Beurteilung, ob es die Beklagte zu Recht unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zur Gewährung von Rente wegen BU verurteilt hat, nicht aus. Es sind ergänzende Feststellungen zur Wertigkeit des „bisherigen Berufs” des Klägers und zu einer zumutbaren Verweisungstätigkeit erforderlich.
Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU richtet sich noch nach § 1246 RVO, denn der Rentenantrag ist bereits im Januar 1986 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (§ 300 Abs. 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI ≫; vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 29).
Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs. 2 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Ausgangspunkt für die Prüfung der BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der „bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). In der Regel ist dies die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, von der auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen ist, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164). Der „bisherige Beruf” des Klägers ist danach der des Gerüstbaumonteurs. Diesen Beruf kann er nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), angesichts seiner gesundheitlichen Leistungseinschränkungen nicht mehr ausüben.
Die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch den Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl. zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist vielmehr allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl. zB Senatsurteile vom 8. Oktober 1992 – 13 RJ 41/91 – SozR 3-2200 § 1246 Nr. 27 und vom 17. Juni 1993 – 13 RJ 33/92 –). Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächstniedrige Gruppe verwiesen werden (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 143 mwN; SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5).
In dieses Schema kann der „bisherige Beruf” des Klägers nicht unmittelbar eingestuft werden. Der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters ist zunächst zuzuordnen, wer einen anerkannten Ausbildungsberuf iS des § 25 BBiG mit mehr als zweijähriger Ausbildung erlernt und bisher ausgeübt hat (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 140; SozR 3-2200 § 1246 Nr. 12). Der Beruf des Gerüstbaumonteurs ist erst durch die am 1. August 1991 in Kraft getretene Verordnung über die Berufsausbildung zum Gerüstbauer vom 18. Dezember 1990 (BGBl I S 2884) als Ausbildungsberuf staatlich anerkannt worden. Die darin vorgeschriebene Ausbildung dauert auch nur zwei Jahre, reicht also zur Begründung einer Facharbeiterqualifikation nicht aus. Demnach kann der Kläger diese Qualifikation auch nicht dadurch erworben haben, daß er, ohne die erforderliche Ausbildung durchlaufen zu haben, einen anerkannten Ausbildungsberuf wettbewerbsfähig ausgeübt hat und entsprechend entlohnt worden ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 168).
Die Wertigkeit des bisherigen Berufs des Klägers ergibt sich auch nicht aus den einschlägigen tarifvertraglichen Regelungen und der Einstufung durch den letzten Arbeitgeber. Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im TV aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann zwar in der Regel davon ausgegangen werden, daß die Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht; die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen nämlich relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in Bezug auf die nach § 1246 Abs. 2 RVO maßgeblichen Merkmale entspricht (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164; Senatsurteil vom 17. Juni 1993 – 13 RJ 23/92 –). Demnach läßt die abstrakte tarifvertragliche Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der dort genannten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist, auch in der Regel den Schluß zu, daß diese Tätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 14), wenn nicht die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 101, 123; SozR 3-2200 § 1246 Nr. 13). Tarifverträge, die keine entsprechend geprägten Lohngruppen enthalten, sind für die Bestimmung der Wertigkeit eines Berufs jedoch nicht in gleicher Weise geeignet (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 21); dies ist bei den hier einschlägigen Tarifverträgen der Fall.
Heranzuziehen sind die Tarifverträge, die im Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung der Ausübung des „bisherigen Berufs” des Klägers im Juli 1988 galten (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 22, 29). Es handelt sich um den RTVG vom 11. Mai 1987 und den BLTVG vom 29. April 1988. Das LSG hat seiner Betrachtung zwar neben dem maßgeblichen BLTVG offenbar den RTVG vom 11. Mai 1987 in der Fassung des Änderungstarifvertrages vom 1. Juni 1990 zugrunde gelegt; dies ist jedoch unschädlich, weil sich die spätere Änderung nicht auf den hier entscheidenden § 5 Nr. 3 (Berufsgruppen) bezieht. Diese Tarifverträge orientieren sich an der qualitativen Wertigkeit der danach zu entlohnenden Tätigkeiten und können daher grundsätzlich für deren Bewertung Bedeutung erlangen (vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 1992 – 13 RJ 41/91 –). Die Lohnregelung richtet sich nach Berufsgruppen, die vom Gerüstbauhelfer (Gruppe VI, 90%) bis zum geprüften Gerüstbau-Kolonnenführer (Gruppe I, 128%) reichen. Der „Ecklohn” (100%) ist dabei der Gruppe IV zugeordnet, der (ausschließlich) der Gerüstbaumonteur angehört. Diese Tarifgruppe ist jedoch nicht erkennbar durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt. Voraussetzung für die Einstufung in diese Gruppe ist ua eine lediglich zweijährige „Tätigkeit” im Gerüstbau, also nicht der Abschluß einer geregelten Ausbildung und schon gar nicht die für einen Facharbeiterberuf erforderliche Ausbildung von mehr als zwei Jahren. Facharbeiter mit einer solchen abgeschlossenen mehr als zweijährigen Ausbildung (zB Handwerker) finden sich in der Tarifgruppe IV nicht. Der Umstand, daß diese Tarifgruppe als „Ecklohngruppe” ausgestaltet ist, besagt nichts über die Qualität der darin aufgeführten Tätigkeiten. Unter „Ecklohn” ist der im TV für eine bestimmte Lohngruppe festgesetzte Normalstundenlohn, nach dem sich die Grundlöhne anderer Lohngruppen mit Hilfe eines tariflich festgelegten Schlüssels errechnen (vgl. Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Hrsg. Dichtl/Issing, 1987, Bd. 1, S 427; Brockhaus Enzyklopädie. 6. Bd, 19. Aufl 1988, S 92; Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 7, 1973, S 397). Die Einrichtung von „Ecklohngruppen” in Tarifverträgen dient damit lediglich zur Vereinfachung der tariflichen Lohnvereinbarungen. Die Tarifvertragsparteien können sich so darauf beschränken, die Vergütung einer repräsentativen bzw mittleren Arbeitnehmergruppe zu vereinbaren. Diese Form der tariflichen Ausgestaltung der Vergütung ist insbesondere bei späteren Tarifverhandlungen, bei denen es allein um die Lohnhöhe geht, vorteilhaft, weil dann nur über diesen Wert Einigung erzielt werden muß. Zwar wird in Tarifverträgen in der Regel als „Ecklohngruppe” die Gruppe der „einfachen Facharbeiter” vereinbart, jedoch wird der „Ecklohn” auch auf andere Weise bei der Tarifvertragsgestaltung eingesetzt. So ist etwa im TV für das Gebäudereinigungshandwerk in Hessen vom 25. Juli 1978 der „Ecklohn” im Tätigkeitsbereich 2 die unterste Tarifgruppe mit dem niedrigsten Stundenlohn, nach der die ungelernte Tätigkeit des Innen- und Unterhaltsreinigers entlohnt wird. Die Einrichtung von „Ecklohngruppen” erfolgt mithin nicht nach der beruflichen Qualität der davon erfaßten Tätigkeit, sondern nach der Geeignetheit der Vergütung einer Arbeitnehmergruppe als Ausgangspunkt für prozentuale Zu- und/oder Abschläge bei den anderen Gruppen. Die tarifvertragliche Eingruppierung der Tätigkeit des Gerüstbaumonteurs in die „Ecklohngruppe” IV spricht also weder für noch gegen deren Facharbeiterqualität.
Legen aber besondere Umstände die Annahme nahe, daß auf Grund der „besonderen Anforderungen” des „bisherigen Berufs” diesem trotz einer Regelausbildung von bis zu zwei Jahren und einer für die Bestimmung der Wertigkeit nach dem Mehrstufenschema unergiebigen tarifvertraglichen Eingruppierung Facharbeiterqualität zukommt, müssen entsprechende Ermittlungen zur Klärung dieser Frage angestellt werden. Ein solcher Umstand ist etwa darin zu sehen, daß die Tätigkeit in Tarifverträgen anderer Gewerbezweige in Facharbeiterlohngruppen eingestuft ist. Dies hat zwar für die Bewertung der Tätigkeit im eigenen Tarifbereich keine unmittelbare Bedeutung, denn der Bewertung der Tarifvertragsparteien ist auch dann der Vorrang bei der Bewertung beruflicher Tätigkeiten einzuräumen, wenn sie Unterscheidungen nach Tätigkeitssparten oder nach Regionen trifft (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 13). Der Umstand, daß andere Tarifvertragsparteien eine solche Bewertung vornehmen, gibt jedoch Veranlassung zu weiteren Prüfungen, ob die Tätigkeit aufgrund qualitativer Merkmale einer Facharbeitertätigkeit gleichwertig ist. Um dies zu ermitteln, ist zunächst eine Anfrage bei den Tarifvertragsparteien des betreffenden Tarifbereichs naheliegend, ob und ggf wieso diese der Tätigkeit mit der Einstufung in die konkrete Tarifgruppe Facharbeiterqualität, also den Wert eines Berufs mit einer Regelausbildung von mehr als zwei Jahren, beigemessen haben. Sachdienlich könnte ua auch eine entsprechende Anfrage bei den Tarifvertragsparteien sein, die die Tätigkeit mit der von Facharbeitern gleichgestellt haben; diese müßte auch klarstellen, ob die Gleichstellung ggf aus qualitativen oder aus qualitätsfremden Gesichtspunkten heraus erfolgt ist. Schließlich ist auch die Anhörung eines berufskundigen Sachverständigen in Betracht zu ziehen. Da das LSG bisher keine entsprechenden Ermittlungen angestellt hat, wird es diese bei der weiteren Behandlung der Sache nachzuholen haben.
Falls die Feststellungen des LSG ergeben, daß der Kläger in die Gruppe des Mehrstufenschemas mit dem Leitberuf des Facharbeiters einzustufen ist, kann er sozial zumutbar nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die zumindest angelernten Tätigkeiten tarifvertraglich gleichgestellt sind (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 17). Bei der Suche nach einer Verweisungstätigkeit ist vorrangig zu versuchen, dem bisherigen Beruf verwandte Tätigkeiten aufzufinden (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 16; Senatsurteil vom 25. August 1993 – 13 RJ 59/92 –, Umdruck S 10); erst wenn dies nicht gelingt, kann das weitere Umfeld auf geeignete Tätigkeiten hin untersucht werden. Mindestens eine danach in Betracht kommende Verweisungstätigkeit ist konkret zu bezeichnen (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 143). Erforderlich ist die Benennung eines typischen Arbeitsplatzes mit der üblichen Berufsbezeichnung (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 98). Es muß dabei im einzelnen festgestellt werden, welche Anforderungen in gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht diese berufliche Tätigkeit stellt und ob der Versicherte diesen Anforderungen nach seinem gesundheitlichen und geistigen Leistungsvermögen sowie seinem beruflichen Können und Wissen gewachsen ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 36, 68, 72, 98; Senatsurteil vom 8. Oktober 1992 – 13/5 RJ 24/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr. 29).
Die vom LSG genannte Tätigkeit eines Telefonisten genügt diesen Anforderungen nicht. Eine in die Vergütungsgruppe VIII BAT eingestufte Tätigkeit ist einem Facharbeiter zwar grundsätzlich sozial zumutbar, weil es sich nach den für diese Vergütungsgruppe aufgestellten Tätigkeitsmerkmalen um Tätigkeiten handelt, die zumindest eine Anlernzeit von mehr als drei Monaten erfordern (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 17). Dies gilt auch für eine Tätigkeit als Telefonist im Bereich der privaten Wirtschaft, die den sonstigen Ausbildungberufen tariflich gleichgestellt ist. Das LSG hat für den Senat auch bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß die Tätigkeit des Telefonisten im öffentlichen Dienst tatsächlich in die Vergütungsgruppe VIII bzw im Einzelhandel in die Anlerngruppe B 1 des entsprechenden Gehaltsrahmentarifvertrags eingestuft wird. Nicht bindend ist jedoch die Feststellung des LSG, daß der Kläger einer solchen Tätigkeit auch nach seinem geistigen Leistungsvermögen gewachsen ist. Insoweit hat der Kläger zu Recht gerügt, daß das Gericht hier nicht geprüft hat, ob er die erforderliche Umstellungsfähigkeit besitzt, obwohl es sich nach den Gesamtumständen dazu hätte gedrängt fühlen müssen und damit gegen seine Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen hat. Je weiter sich die in Aussicht genommene Verweisungstätigkeit nämlich von dem „bisherigen Beruf” entfernt, desto höhere Anforderungen stellt sie an die Umstellungsfähigkeit (vgl. etwa BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 33, 38). Bei einem Versicherten, der während seines gesamten Berufslebens schwere körperliche Arbeit überwiegend im Freien geleistet hat und der sich bereits in mittlerem Lebensalter befindet, kann nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, daß er sich überhaupt auf eine Bürotätigkeit umstellen kann, sondern es sind entsprechende Ermittlungen (zB Durchführung psychologischer Eignungstests, vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 45) anzustellen. Dafür ist es erforderlich, zunächst ein genaues Anforderungsprofil über den Beruf des Telefonisten zu erstellen. Dem ermittelnden Gericht steht in der Frage, wie es sich die Kenntnisse über die betreffenden Berufe beschaffen will, ein weites Ermessen zu (BSGE 30, 192, 205). Es kann Beschreibungen aus der Literatur heranziehen (zB Arbeitsmedizinische Berufskunde, Sonderbeilage der Zeitschrift „Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Präventivmedizin”), Sachverständigengutachten aus früheren Verfahren einführen oder selbst Sachverständige von Innungen, Verbänden oder sonstigen fachkundigen Stellen hören. Das LSG hat seine Kenntnisse über das Anforderungsprofil der von ihm benannten Verweisungstätigkeit und deren tarifliche Einstufung den Ausführungen des von ihm gehörten Sachverständigen K. dem es das aufgrund der (nicht beanstandeten) medizinischen Beweiserhebung ermittelte gesundheitliche Leistungsvermögen und die berufliche Biographie des Klägers vorgegeben hatte, entnommen. Als Grundlage eines Umstellungsgutachtens könnte es jedoch erforderlich sein, die Anforderungen und Belastungen dieses Berufs im einzelnen zu ermitteln, uU auch durch ein Gutachten eines arbeitswissenschaftlichen Instituts, das sich mit solchen Fragen befaßt (zB Universität Stuttgart-Hohenheim. Universität Siegen. Universität/Gesamthochschule Kassel).
Auch wenn der Kläger nach den Feststellungen des LSG in die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters im oberen Bereich einzustufen ist, hat dies Auswirkungen auf die Ermittlung und Benennung einer Verweisungstätigkeit (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 143), denen das LSG Rechnung tragen müßte.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 927581 |
BSGE, 159 |