Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 25.09.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. September 1990 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 18. Dezember 1986 bis zum 9. April 1987 höheres Krankengeld unter Berücksichtigung einer Urlaubsabgeltung zu zahlen hat. Die beklagte Ersatzkasse hat bei dessen Berechnung die Arbeitsentgelte aus den Monaten September bis November 1986 zugrunde gelegt und es abgelehnt, unter Einbeziehung der bei der Berechnung des Konkursausfallgeldes (Kaug) für November 1986 berücksichtigten Urlaubsabgeltung für 12 Tage ein höheres Krankengeld zu zahlen (Bescheid vom 21. Juli 1988; Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1989). Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat mit Urteil vom 16. Januar 1990 die genannten Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung des Krankengeldes die Urlaubsabgeltung zu berücksichtigen. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. September 1990 durch ein am selben Tag verkündetes Urteil das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Das Urteil ist beiden Beteiligten am 20. September 1991 zugestellt worden.

Der Kläger hat die Revision eingelegt und eine Verletzung der §§ 182 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gerügt.

Er beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. September 1990 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Januar 1990 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen war. Denn das Urteil des LSG ist iS des § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 SGG), nicht mit Gründen versehen.

Nach § 551 Nr 7 ZPO ist eine Entscheidung, die nicht mit Gründen versehen ist, stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen; es liegt dann ein unbedingter oder absoluter Revisionsgrund vor. Dem Fehlen von Gründen werden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgestellt, weil dann nicht mehr gewährleistet ist, daß die schriftliche Begründung mit hinreichender Sicherheit das Beratungsergebnis wiedergibt (vgl BSGE 53, 186, 188 mwN). Eine verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils ist anzunehmen, wenn zwischen der (verkündeten) Entscheidung und ihrer Verlautbarung bzw Zustellung etwa ein Jahr liegt (BSGE 51, 122, 124 f = SozR 1750 § 551 Nr 9; Urteile des 13. Senats des BSG vom 6. März 1991 – 13/5 RJ 67/90 und 62/90 –). Im vorliegenden Verfahren lagen zwischen der Verkündung des Urteils am 25. September 1990 und seiner Zustellung an die Beteiligten am 20. September 1991 etwa 12 Monate. Auch in diesem Fall, in dem die Jahresfrist um 5 Tage unterschritten wird, sind die Gründe nicht mehr hinzunehmen, und zwar auch dann nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – keine Beweiswürdigung erforderlich war (vgl BSGE 51, 122, 124 = SozR 1750 § 551 Nr 9 zu einem Fall, in dem die Jahresfrist bei einem der Beteiligten um einen Tag unterschritten war). Ein solcher Verfahrensmangel ist bei einer zulässigen Revision von Amts wegen zu beachten (BSGE 51, 122, 125 = SozR 1750 § 551 Nr 9; BSGE 53, 186, 188 = SozR aaO Nr 10; SozR aaO Nr 12) und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung.

Mit seiner Entscheidung weicht der erkennende Senat nicht von der bisherigen Rechtsprechung des BSG oder anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes ab. Sowohl der 7. Senat (BSGE 53, 186, 188 = SozR 1750 § 511 Nr 10) als auch der 10. Senat (SozR 1750 § 511 Nr 12; vgl auch aaO Nr 8) und auch der 12. Senat des BSG (Urteil vom 19. Dezember 1991 – 12 RK 46/91 –) nehmen auf das Urteil des BSG in BSGE 51, 122, 124 Bezug, in dem als Grenze der Verzögerung „etwa ein Jahr” angegeben ist. Auch diese Senate gehen nicht von einer starren Jahresfrist in dem Sinne aus, daß eine Zustellung wenige Tage vor Ablauf eines Jahres noch hinzunehmen wäre (so auch BFH, Urteil vom 9. Mai 1989 – VII R 5/89BFH/NV 1990, 243). Ob bei kürzeren Verzögerungszeiten im Einzelfall geprüft werden muß, inwieweit besondere Umstände dafür sprechen, daß die Entscheidungsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und Beratung nicht mehr zuverlässig wiedergeben (vgl BSGE 33, 161; BSG USK 7353; BSG SozSich 1984, 27 f), kann hier offenbleiben. Der Senat neigt jedenfalls zu der Annahme, daß schon bei wesentlich kürzeren Verzögerungszeiten – ohne entsprechende Einschränkungen – ein Verstoß gegen § 551 Nr 7 ZPO vorliegt. Dafür spricht nicht nur der den §§ 516, 552 ZPO zu entnehmende Rechtsgedanke, daß das Erinnerungsvermögen der am Urteil beteiligten Richter allenfalls 5 Monate reicht; vor allem wird auch der Rechtsschutz gegen ein solches Urteil erschwert, weil die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung auch in der Erinnerung der Beteiligten verblassen. Die Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes tendiert in die gleiche Richtung. So ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) § 551 Nr 7 ZPO verletzt, wenn die Urteilsgründe 5 Monate nach Verkündung noch nicht vorliegen (BGH, Urteile vom 8. Juli 1986, NJW 1986, 2958; vom 29. Oktober 1986, NJW 1987, 2446; vom 24. Oktober 1990, NJW 1991, 1547). Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) nimmt in seiner neueren Rechtsprechung an, daß einem Urteil die Gründe fehlen, wenn es nicht binnen 5 Monaten nach Verkündung vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle übergeben worden ist (Urteil vom 3. August 1990, BVerwGE 85, 273; Urteil vom 5. Oktober 1990, NJW 1991, 313; Beschluß vom 22. Februar 1991 – BVerwG 4 CB 6.91 –). Die Frage ist dem Großen Senat des BVerwG vorgelegt worden (Beschluß vom 23. Mai 1991, DVBl 1991, 883 f), der inzwischen den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes angerufen hat. Im Hinblick auf diese Rechtsentwicklung wird auch das BSG seine Rechtsprechung zu überprüfen haben, ob künftig ein Urteil ausnahmslos als ohne Gründe iS von § 551 Nr 7 ZPO erst dann anzusehen ist, wenn die Verzögerung zwischen Verkündung und Zustellung bei etwa einem Jahr liegt. Im vorliegenden Fall war eine Anrufung des Großen Senats des BSG jedoch nicht geboten, weil der Senat mit seiner Annahme, § 551 Nr 7 ZPO sei verletzt, nicht von anderen Entscheidungen dieses Gerichts abweicht.

Über die Erstattung außergerichtlicher Kosten für das Revisionsverfahren hat das LSG in seiner abschließenden Entscheidung zu befinden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173377

NZA 1993, 240

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