Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 24.05.1993; Aktenzeichen L 7 Ar 13/92)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Mai 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeldes (Alg) vom 8. Juni bis 14. November 1989.

Er war als Werkschutzfachkraft bei der Firma W. -N. GmbH (W.-N.) beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis lag der Arbeitsvertrag vom 1. Juli 1980 zugrunde, in dem auf den Manteltarifvertrag (MTV) für die Betriebe des Bewachungsgewerbes im Lande Schleswig-Holstein vom 27. April 1987 verwiesen wird. Die Arbeitgeberin stellte den Kläger ab 1. Dezember 1988 von der Arbeit frei. In einem Vergleich vom 27. Oktober 1989 einigten sich der Kläger und die Arbeitgeberin auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 7. Juni 1989 (sowie auf eine Abfindung in Höhe von 20.000,00 DM). Zum 15. November 1989 nahm der Kläger ein neues Beschäftigungsverhältnis auf.

Bereits am 3. April 1989 hatte sich der Kläger arbeitslos gemeldet und die Zahlung von Alg beantragt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) waren auf der Lohnsteuerkarte 1989 die Steuerklasse III und zwei Kinderfreibeträge eingetragen. Im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung waren die monatlichen Lohnzahlungen bis Ende Januar 1989 abgerechnet. Nach der Arbeitsbescheinigung der Arbeitgeberin vom 10. November 1989 (nebst Erläuterungen vom 6. Dezember 1989 und 20. Februar 1990) soll folgendes Arbeitsentgelt abgerechnet worden sein:

im November 1988 ein Bruttoentgelt von 3.463,77 DM in 222,75 Std im Dezember 1988 ein Bruttoentgelt von 3.507,63 DM in 216,95 Std im Januar 1989 ein Bruttoentgelt von 3.507,63 DM in 216,95 Std insgesamt 10.479,03 DM in 656,65 Std

Das Entgelt für die Zeit der Freistellung (Dezember 1988, Januar 1989) hatte die Arbeitgeberin aus dem durchschnittlichen Stundenlohn der Monate September bis November 1988 errechnet. Diesen Stundenlohn von 15,958 (10.479,03 DM: 656,65 Stunden) multiplizierte die Beklagte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 54 Stunden, die sie aus dem Durchschnitt der Monate September 1988 (229,5 Stunden), Oktober 1988 (252,5 Stunden) und November 1988 (222,75 Stunden) errechnete (704,75 Stunden: 13 = 54,21 Stunden = gerundet 54 Stunden). Aufgrund eines gerundeten Bemessungsentgeltes von 860,00 DM (15,958 DM × 54 = 861,84 DM) und unter Anwendung der einschlägigen Leistungstabelle bewilligte sie dem Kläger (unter Berücksichtigung der Abfindung und der neuen Beschäftigung) Alg für die Zeit vom 8. Juni bis 14. November 1989, und zwar in Höhe von wöchentlich 395,40 DM (Bescheid vom 24. Januar 1990).

Mit seinem Widerspruch beanstandete der Kläger die Leistungsberechnung und machte ua geltend, daß er 65,75 Stunden wöchentlich gearbeitet habe. Den Widerspruch, mit dem der Kläger sich lediglich gegen die Höhe des Alg wandte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 8. März 1990). Im Klageverfahren trug der Kläger vor, er habe Separatwachdienst geleistet. Hierfür habe der MTV lediglich eine Höchstgrenze von 72 Stunden festgelegt. Die wöchentliche Arbeitszeit bestimme sich nach § 112 Abs 4 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Von Februar 1988 bis Januar 1989 sei er im Monatsdurchschnitt 245,47 Stunden tätig gewesen, also wöchentlich 56,69 Stunden.

Klage und zugelassene Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 27. November 1991 und des LSG vom 24. Mai 1993). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte habe den durchschnittlichen Stundenlohn zutreffend mit 15,958 DM festgestellt. Auch die Ermittlung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit sei nicht zu beanstanden. Da der MTV nur eine Obergrenze festgelegt habe, sei die individuell geregelte Arbeitszeit die tariflich regelmäßige. Nach dem Arbeitsvertrag habe die Arbeitgeberin einseitig die Zahl der Arbeitsstunden bestimmen können. Ob diese Vereinbarung arbeitsrechtlich wirksam sei, könne offenbleiben. Sei sie wirksam, seien die geleisteten Arbeitsstunden die vereinbarten. Sei sie unwirksam, seien die faktisch geleisteten als vereinbart anzusehen. Wegen der Besonderheiten im vorliegenden Fall könne nicht auf die im Bemessungszeitraum geleisteten Arbeitsstunden abgestellt werden. Bei Arbeitsfreistellungen bestehe die Gefahr, daß die Arbeitszeit willkürlich festgelegt werde. Ein Abstellen allein auf den November 1988 entspreche nicht dem gesetzgeberischen Willen. Um jedoch auf einen möglichst nahen, aber nicht übermäßig langen Zeitraum abstellen zu können, sei der zeitnächste Dreimonatszeitraum zu beachten, also in Übereinstimmung mit der Beklagten die Monate September bis November 1988.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 112 Abs 4 Nr 3 AFG. Die arbeitsvertragliche Klausel, nach der die Arbeitgeberin einseitig die Zahl der zu leistenden Arbeitsstunden bestimmen könne, sei wegen Umgehung des gesetzlichen Kündigungsschutzes unwirksam. Die dadurch bestehende Vertragslücke sei in der Weise zu schließen, daß ein repräsentativer Durchschnitt der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit im Wege schlüssigen Verhaltens als vereinbart anzusehen sei. Dieser Durchschnitt sei bei erheblichen Schwankungen entsprechend der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zur Lohnfortzahlung unter Zugrundelegung eines Referenzzeitraumes von einem Jahr zu ermitteln.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1990 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, höheres Alg unter Berücksichtigung einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 56,69 Stunden zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie macht geltend, der MTV sehe für den vom Kläger geleisteten Separatwachdienst keine konkrete regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit vor. Ob die vom Kläger innerhalb der Obergrenze von 72 Stunden geleistete Arbeitszeit tarifliche Arbeitszeit iS des § 112 Abs 3 AFG sei oder nicht, könne offenbleiben. Im letzteren Fall führe § 112 Abs 4 Nr 3 AFG zum gleichen Ergebnis. Arbeitgeberin und Kläger hätten keine konkrete regelmäßige Arbeitszeit vereinbart. Indes sei dies für die Bemessung unerheblich. Maßgebend bleibe der Durchschnitt der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im Bemessungszeitraum. Dieser Durchschnitt sei allein aus den im November 1988 geleisteten 222,75 Stunden zu ermitteln und betrage 51,4 Stunden (222,75 × 3: 13). Eine Einbeziehung der Monate Dezember 1988 und Januar 1989 scheide aus, weil in dieser Zeit kein Beschäftigungsverhältnis bestanden habe. Berücksichtige man aber auch die aus diesen beiden Monaten resultierenden Durchschnittsstunden, ergäben sich als Zeitfaktor 53,13 Stunden (51,4 Stunden für November 1988 und je 54 Stunden für Dezember 1988 und Januar 1989). Zugunsten des Klägers seien 54 Stunden berücksichtigt worden, so daß er nicht beschwert sei. Eine andere Berechnung, insbesondere nach einem Jahreszeitraum, finde im Gesetz keine Stütze.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 24. Januar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1990, soweit die Beklagte darin die Gewährung von höherem Alg für die Zeit vom 8. Juni bis 14. November 1989 abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage.

In der Sache bestimmt sich die Höhe des dem Kläger zustehenden Alg nach § 111 AFG (idF des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20. Dezember 1988 – BGBl I 2477), § 112 AFG (idF des Gesetzes zur Änderung des AFG und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand vom 20. Dezember 1988 – BGBl I 2343) und § 113 AFG (idF des Gesetzes zur Steuerentlastung und Familienförderung vom 16. August 1980 – BGBl I 1381).

Nach § 111 AFG beträgt das Alg für Arbeitslose, die mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 4 und 5 des Einkommensteuergesetzes haben, 68 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts (Abs 1 Nr 1). Der konkrete Leistungssatz wird jeweils für ein Kalenderjahr vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung durch Rechtsverordnung (AFG-Leistungsverordnung) bestimmt (Abs 2 Satz 1), wobei zwischen verschiedenen Leistungsgruppen unterschieden wird (Abs 2 Satz 2 Nr 1); die Eingruppierung ist davon abhängig, welche Lohnsteuerklasse zu Beginn des Kalenderjahres eingetragen war, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 113 Abs 1 Satz 1 AFG). Spätere Änderungen in der eingetragenen Lohnsteuerklasse sind allerdings nach Maßgabe des § 113 AFG zu berücksichtigen.

Bemessungskriterien sind die Steuerklasse – vorliegend III –, aus der gemäß § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 1 Buchst c AFG die Leistungsgruppe C resultiert, der Familienstatus, der – wie hier – günstigstenfalls eine Nettolohnersatzquote von 68 vH zur Folge hat, wozu im Grunde tatsächliche Feststellungen des LSG fehlen, und das Bemessungsentgelt. Höheres Alg kann dem Kläger deshalb nur zustehen, wenn die Beklagte das Bemessungsentgelt zu niedrig berechnet hat.

Das Bemessungsentgelt ist nach § 112 AFG das Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose – bei Nichtberücksichtigung bestimmter Zuschläge und Zuwendungen – im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Woche erzielt hat (Abs 1). Der Bemessungszeitraum umfaßt die beim Ausscheiden des Arbeitnehmers abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten drei Monate der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen der Arbeitslose Arbeitsentgelt erzielt hat (Abs 2 Satz 1). Enthalten diese Lohnabrechnungszeiträume weniger als 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt, so verlängert sich der Bemessungszeitraum um weitere Lohnabrechnungszeiträume, bis 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt erreicht sind (Abs 2 Satz 3). Für die Berechnung des in der Woche durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelts wird dann das im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Arbeitsstunde erzielte Arbeitsentgelt mit der Zahl der Arbeitsstunden vervielfacht, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt (Abs 3 Satz 1). Arbeitsentgelt, das nach Monaten bemessen ist, gilt als in der Zahl von Arbeitsstunden erzielt, die sich ergibt, wenn die Zahl der vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden mit 13 vervielfacht und durch drei geteilt wird (Abs 3 Satz 2).

Die Feststellungen des LSG lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu, ob dem Alg ein höheres Bemessungsentgelt als 860,00 DM zugrunde zu legen ist. Das LSG hat lediglich festgestellt, daß im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung (3. April 1989) die Lohnabrechnungszeiträume bis Ende Januar 1989 abgerechnet waren. Damit allein läßt sich nicht beurteilen, wann der Kläger ausgeschieden ist, welche Lohnabrechnungszeiträume zu dem damit relevanten Zeitpunkt abgerechnet waren und ob der Lohn auch tatsächlich zugeflossen war, und zwar vor Ausscheiden oder iS einer zusätzlichen nachträglichen Vertragserfüllung (vgl hierzu im einzelnen BSG, Urteil vom 28. Juni 1995 – 7 RAr 102/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Damit lassen sich auch Lohn- und Zeitfaktor nicht feststellen. Beide Faktoren bestimmen sich ausschließlich nach den tatsächlichen Verhältnissen im Bemessungszeitraum. Für den vom Kläger angenommenen Referenzzeitraum von einem Jahr bietet das Gesetz keine Anhaltspunkte. Ein Abweichen von den Regelungen in § 112 Abs 2 und 3 AFG wäre bei Lohnschwankungen allenfalls unter den Voraussetzungen des § 112 Abs 7 AFG denkbar.

Bei dieser Sachlage, die eine Vielzahl von Konstellationen möglich erscheinen läßt, ist es nicht geboten (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG), rechtliche Lösungswege für alle in Betracht kommenden Varianten aufzuzeigen. Dies gilt um so mehr, als dem Kläger nach Aktenlage kein höheres Alg zustehen kann. Sein Klagebegehren als richtig unterstellt, führt allenfalls zu einem Bemessungsentgelt von gerundet 900,00 DM (15,96 DM × 56,69 Stunden = 904,77 DM). Dies entspricht einem wöchentlichen Alg von 411,60 DM. Dem steht nach den Verwaltungsakten für den hier umstrittenen Zeitraum (8. Juni bis 14. November 1989) – umgerechnet -eine wöchentliche Sozialhilfe von 491,40 DM gegenüber (70,20 DM × 7). Demzufolge würde der Alg-Anspruch in Höhe des Erstattungsanspruchs des Sozialamts (§ 104 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren ≪SGB X≫ iVm § 140 Bundessozialhilfegesetz) als erfüllt gelten (§ 107 SGB X). Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß der Kläger nach Aktenlage ab 8. November 1989 wieder in einem Beschäftigungsverhältnis stand, so daß für den Restzeitraum bis zum 14. November 1989 ohnehin kein höherer Anspruch bestehen dürfte.

Das LSG wird die notwendigen Feststellungen zu treffen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174552

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