Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Der Ehemann der Klägerin arbeitete seit Jahresbeginn 1930 bis Oktober 1964 bei der Fa. S. und der Fa. M , wobei er mit Asbest in Berührung kam. Anschließend war er als Kalkulator im Technischen Büro der Fa. M und später im Technischen Büro einer anderen Firma tätig. Seit dem 1. Februar 1978 bezog er Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Im August 1993 wurde beim Ehemann der Klägerin ein Pleuramesotheliom festgestellt. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 5. Januar 1994 eine Berufskrankheit nach Nr. 4105 (durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Pericards) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) an und bewilligte Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. ab 6. August 1993. Bei der Rentenberechnung legte die Beklagte ausgehend von dem 5. August 1993 als Beginn der Erkrankung als Jahresarbeitsverdienst (JAV) den Mindest-JAV von 26.712,- DM (60% der Bezugsgröße für das Jahr 1993 in Höhe von 44.520,- DM) zugrunde.
Der Ehemann der Klägerin legte Widerspruch ein und machte geltend, bei der Berechnung des JAV hätte § 572 Reichsversicherungsordnung (RVO) Anwendung finden müssen mit der Folge, daß insoweit als Zeitpunkt der Berufskrankheit der letzte Tag vor Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit im Jahre 1964 maßgeblich sei.
Während des Widerspruchsverfahrens verstarb der Ehemann der Klägerin. Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 15. Februar 1994 Witwenrente, die sie ebenfalls nach einem JAV von 26.712,- DM berechnete. Auch die Klägerin legte Widerspruch ein, mit dem sie gleichfalls die Nichtanwendung des § 572 RVO rügte.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 24. März 1994 wies die Beklagte beide Widersprüche zurück und nahm zur Begründung ihrer Entscheidung auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Februar 1993 (2 RU 22/92 = SozR 3-2200 § 572 Nr. 1) Bezug. Der Ehemann der Klägerin hätte die abstrakt gefährdende Tätigkeit nicht im Zusammenhang mit der Berufskrankheit aufgegeben.
Die Klage, mit der sich die Klägerin sowohl als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes als auch als Hinterbliebenenrentenberechtigte gegen die Berechnung des JAV gewandt hat, ist ebenso wie ihre Berufung ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts SG vom 23. Juni 1994 und des Landessozialgerichts LSG vom 7. März 1995).
Die Vorinstanzen sind unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BSG vom 25. Februar 1993 (a.a.O.) davon ausgegangen, daß der JAV sowohl für die Verletztenrente als auch für die Hinterbliebenenrente nicht nach § 572 RVO zu berechnen sei, da der Ehemann der Klägerin die gefährdende Tätigkeit nicht in einem irgendwie gearteten Zusammenhang mit der Gefährdung aufgegeben habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, bei der Anwendung des § 572 RVO komme es allein darauf an, zu welchem Zeitpunkt die zuletzt schädigenden Einwirkungen stattgefunden hätten, die ihrer Art nach geeignet seien, die Berufskrankheit zu verursachen. Es sei zu bedenken, daß der Vorentwurf zu § 85 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) dem BSG bei Verkündung des Urteils vom 25. Februar 1993 noch nicht vorgelegen habe.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. März 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23. Juni 1994 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Januar 1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1994 sowie des Bescheides vom 15. Februar 1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1994 zu verurteilen, ihr unter Anwendung des § 572 RVO eine höhere Verletztenrente und eine Witwenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann J W zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dem Urteil des BSG vom 25. Februar 1993 sei weiterhin zu folgen. Die im Schrifttum teilweise geäußerte Kritik gegen diese Entscheidung könne nicht überzeugen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. Februar 1993 (BSG SozR 3-2200 § 572 Nr. 1) entschieden, eine Berechnung des JAV nach § 572 RVO setzte voraus, daß die abstrakt gefährdende Tätigkeit zumindest im Zusammenhang mit der Berufskrankheit aufgegeben wurde. Die nach der Systematik der gesetzlichen Unfallversicherung ausgerichtete Entscheidung des Senats vom 25. Februar 1993 hat im Schrifttum Zustimmung (KassKomm-Ricke § 572 RVO Rdnr. 2; Peters BG 1995, 38; Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung § 572 RVO Rdnr. 2) und Kritik erfahren (Koch in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd II, Unfallversicherungsrecht, 1996, § 35 Rdnrn. 56 bis 59; Pöhl/Kozian Kompaß 1994, 293 und 1995, 16). Grundsätzlich ist eine Rechtsprechung des BSG aus Gründen der Rechtssicherheit nicht schon deshalb aufzugeben, weil weiterhin nicht nur gute Gründe für sie, sondern wie bisher auch solche gegen sie sprechen (BSGE 40, 292, 296; BSG Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 69/82 -).
Der Senat hat jedoch bei der Überprüfung seiner Entscheidung vom 25. Februar 1993 (a.a.O.) auch Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) zu beachten. Die Rechtsauffassung des Senats wurde vor Verkündung der angeführten Entscheidung von zahlreichen Unfallversicherungsträgern nicht geteilt (Koch a.a.O. Rdnr. 57; Peters a.a.O.: "fast ausnahmslos" nicht). Somit wurde bis zur angeführten Senatsentscheidung § 572 RVO jedenfalls überwiegend auch dann angewendet, wenn die abstrakt gefährdende Tätigkeit nicht im Zusammenhang mit der Berufskrankheit aufgegeben wurde.
Auch nach Verkündung des Urteils des Senats hat der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften mit Schreiben vom 11. August 1995 (HV-INFO 1995, 2155) im Hinblick auf den ersten Entwurf zum SGB VII mitgeteilt, in der Literatur würden unterschiedliche Auffassungen vertreten, ob bei der Anwendung des § 572 RVO es allein darauf ankomme, zu welchem Zeitpunkt zuletzt schädigende Einwirkungen stattgefunden hätten, die ihrer Art nach geeignet seien, eine Berufskrankheit zu verursachen, oder daß die Anwendung des § 572 RVO nach dem Wortsinn und Bedeutungszusammenhang voraussetze, daß die gefährdende Tätigkeit im Zusammenhang mit der entsprechenden Berufskrankheiten-Ziffer aufgegeben worden sein müsse. Der zuständige Verwaltungsausschuß "Berufskrankheiten" und sein Arbeitskreis hätten sich mit dieser Rechtsfrage ausführlich befaßt und im Sinne einer einheitlichen Rechtsanwendung empfohlen, auf eine Ursachenforschung und kausale Verknüpfung bei der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit in Abkehr von der Rechtsprechung des BSG zu verzichten. Dabei sei auch die vorgesehene gesetzliche Regelung im SGB VII zum JAV bei Berufskrankheiten (§ 85 des Referentenentwurfs) berücksichtigt worden.
Die am 1. Januar 1997 für Versicherungsfälle nach diesem Zeitpunkt in Kraft tretende, § 572 RVO entsprechende Regelung in § 84 SGB VII bestimmt in Übereinstimmung mit den Vorentwürfen in Satz 2: "Dies gilt ohne Rücksicht darauf, aus welchen Gründen die schädigende versicherte Tätigkeit aufgegeben worden ist". In der Amtlichen Begründung zu dieser Vorschrift ist ausgeführt: "Die Vorschrift über den Jahresarbeitsverdienst bei Berufskrankheiten entspricht dem geltenden Recht (§ 572 RVO). Die Günstigkeitsregelung wird nicht davon abhängig gemacht, daß die Tätigkeit wegen der gesundheitlichen Gefährdung aufgegeben worden ist" (BT-Drucks. 13/2204 S. 95). Im Hinblick auf die damals für die Gesetzesauslegung maßgebende, aber nicht zitierte Entscheidung des BSG war diese Rechtsauffassung zwar unzutreffend. Der Gesetzgeber hat diese Auffassung der Begründung jedoch übernommen und nach allem schon aufgrund dieser Rechtsauffassung auch eine Rückwirkung der neuen Regelung auf Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1997 nicht in Erwägung ziehen müssen. Ihm obliegt auch eine authentische Gesetzesinterpretation. Beim Festhalten an der dem Urteil des Senats vom 25. Februar 1993 zugrundeliegenden Rechtsauffassung würde somit bei einer Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit unabhängig von der drohenden oder eingetretenen Berufskrankheit im wesentlichen nur ein kleiner Kreis von Erkrankten nicht den Vorteil der Berechnung des JAV nach § 572 RVO erhalten. Nach der vor und auch nach der Entscheidung des Senats von zumindest dem größten Teil der Verwaltungspraxis geübten Rentenberechnung würde dagegen der nach § 572 RVO und ab 1. Januar 1997 der nach § 84 SGB VII berechnete JAV auch dann zugrunde gelegt, wenn die Tätigkeit nicht wegen der gesundheitlichen Gefährdung aufgegeben wurde. Diese ungleiche Behandlung wäre nicht vertretbar, so daß der Senat seine der Entscheidung vom 25. Februar 1993 zugrundeliegende Rechtsauffassung aufgibt, wie er in seinem Schreiben vom 25. Juli 1996 an die Beteiligten schon zur Diskussion gestellt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Breith. 1997, 686 |
SozSi 1997, 358 |