Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlende Sprachkenntnisse für eine zumutbare Verweisungstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeit kann sich ein Versicherter nicht darauf berufen, daß eine andere Sprache als Deutsch seine Muttersprache ist und er für eine im übrigen zumutbare Verweisungstätigkeit keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache habe (Anschluß und Fortführung von BSG vom 23.4.1980 - 4 RJ 29/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 61).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Sätze 1-2, § 1247 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise Berufsunfähigkeit (EU bzw BU) hat.
Der Kläger leidet an einem "organischen Nervenleiden mit Lähmungserscheinungen im Bereich der rechtsseitigen Gliedmaßen" als Folge einer spinalen Kinderlähmung im frühen Kindesalter. Nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ist ein Grad der Behinderung von 80 vH und eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr mit Bescheid vom 24. März 1987 festgestellt. Der Kläger hat als Schweißer in Jugoslawien bis 1969 und anschließend zunächst auch in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet. Seit August 1972 ist er in einer Motorradfabrik als Maschinenarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Seit August 1988 ist er durchgehend arbeitsunfähig krank.
Ein 1977 gestellter Rentenantrag blieb erfolglos. Seinen erneuten Antrag vom Juni 1985 auf Gewährung der Rente wegen EU lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 28. Oktober 1985). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. September 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil zurückgewiesen (Urteil vom 25. Oktober 1989). Das LSG hat als bisherigen Beruf des Klägers die zuletzt verrichtete Tätigkeit als Maschinenarbeiter zugrunde gelegt. Als Maschinenarbeiter habe er eine Anlerntätigkeit ausgeübt. Er könne mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch als einfacher Pförtner arbeiten. Der Kläger sei nicht an der Ausübung seiner Ausbildung entsprechender geistiger Arbeiten gehindert. Unerheblich sei, ob der Kläger, wie von ihm vorgetragen, die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrsche, um eine Tätigkeit als Pförtner verrichten zu können. Ein ausländischer Versicherter könne sich gegenüber der Verweisung auf eine ihm zumutbare Tätigkeit nicht auf die ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache berufen, sofern der vergleichbare deutsche Versicherte die erforderlichen Sprachkenntnisse typischerweise besitzt. Diese Voraussetzungen lägen vor, denn ein Pförtner müsse Auskünfte an Besucher erteilen, ggf nach Dienstschluß den Telefondienst versehen. Dafür seien Kenntnisse in der deutschen Umgangssprache ausreichend, wie sie der deutsche Versicherte typischerweise besitze. Der Kläger könne auch Fußwege von mehr als 500 Metern bewältigen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Der Kläger rügt die Verletzung materiellen Rechts, nämlich der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 1986 sowie des Bescheides vom 28. Oktober 1985 die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw Berufsunfähigkeit ab 1. Juni 1985 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Versichertenrente wegen EU bzw BU.
Der Kläger war zuletzt als angelernter Arbeiter im Sinne des von der Rechtsprechung entwickelten Berufsgruppenschemas tätig. Er kann noch körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zur Haltungsänderung verrichten und Fußwege von mehr als 500 Metern zurücklegen. Er soll einen Arthrodesenstuhl zur Verfügung gestellt bekommen. Ein solcher Stuhl wird von Arbeitgebern, falls erforderlich, zur Verfügung gestellt. Mit dem verbliebenen Leistungsvermögen kann der Kläger seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Maschinenarbeiter nicht mehr verrichten. Er ist aber von seinen körperlichen und auch geistigen Fähigkeiten her in der Lage, als Pförtner zu arbeiten und ist insbesondere auch nicht wegen der praktischen Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes und der rechten Hand daran gehindert. Diese Feststellungen des LSG sind von keinem der Beteiligten mit zulässigen Revisionsrügen angegriffen worden und deshalb für den Senat bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Die Angriffe des Klägers gegen die danach vom LSG für zumutbar gehaltene Verweisung auf die Tätigkeit eines einfachen Pförtners greifen nicht durch. Der Kläger macht zum einen geltend, bei der Tätigkeit eines einfachen Pförtners handele es sich um einen typischen Schonarbeitsplatz. Soweit er damit geltend machen will, daß das LSG den rechtlichen Begriff des Schonarbeitsplatzes verkannt habe, ist dies unbegründet. Mit dem Begriff des "Schonarbeitsplatzes" werden Tätigkeiten bezeichnet, die zwar im Arbeitsleben vorhanden sind, die zu erlangen ein leistungsgeminderter Arbeitnehmer aber praktisch keine Möglichkeit hat (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 137 und Nr 139).
Als Schonarbeitsplatz, weil er regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes vorhanden bleibe, hat das Bundessozialgericht (BSG) allerdings den Arbeitsplatz eines qualifizierten oder sogenannten "gehobenen" Pförtners angesehen (vgl BSG aaO). Es ist aber nicht zu erkennen, daß das LSG diesen von der Rechtsprechung bisher entwickelten Begriff des "Schonarbeitsplatzes" in einer seiner Fallgruppen (vgl dazu die Darstellung in den oa Urteilen) bei seiner Feststellung, der Arbeitsplatz eines einfachen Pförtners sei kein solcher Schonarbeitsplatz, verkannt hat. Das LSG hat festgestellt, daß zumindest schon bei zahlreichen Behörden Pförtnertätigkeiten nicht solchen leistungsgeminderten Arbeitnehmern vorbehalten sind, die bisher dem Betrieb angehörten. Mit den gegen diese Feststellung erhobenen Einwendungen rügt der Kläger der Sache nach die Beweiswürdigung des LSG. Diese Rüge greift nicht durch, was nicht des näheren begründet zu werden braucht (§ 170 Abs 3 SGG).
Keinen Erfolg kann der Kläger auch mit seinem Einwand haben, er habe keine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache, um als Pförtner erwerbstätig zu sein. Arbeitsplätze als Pförtner seien ihm deshalb verschlossen. Zutreffend hat das LSG diesen Einwand für unerheblich gehalten. Das BSG hat bereits mit Urteil vom 23. April 1980 (4 RJ 29/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 61) entschieden, daß ein ausländischer Versicherter sich nicht auf die ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache berufen kann, sofern der vergleichbare deutsche Versicherte die erforderlichen Sprachkenntnisse besitzt. Es hat diese Entscheidung auch damit begründet, daß sonst dem Versicherungsträger ein von der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfaßtes Risiko aufgebürdet würde (BSG aaO S 186). Der 8. Senat des BSG ist dieser Rechtsprechung mit Urteil vom 18. Dezember 1990 (8/5a RKn 5/87 - zur Veröffentlichung vorgesehen) im Ergebnis gefolgt.
Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an und erstreckt sie auch auf eine Fallgestaltung wie die vorliegende. Ein Versicherter kann allgemein nicht geltend machen, er sei wegen fehlender deutscher Sprachkenntnisse gehindert, eine Berufstätigkeit zu verrichten, wenn er in einer anderen Sprache - üblicherweise seiner Muttersprache- Sprachkenntnisse hat, die die Verrichtung der Tätigkeit in einer Umgebung mit der letztgenannten Sprache als Umgangssprache zuließe. Daß der Kläger die geistigen Fähigkeiten
hat, als Pförtner zu arbeiten, hat das LSG unangegriffen festgestellt. Bereits der 4. Senat hat darauf hingewiesen, daß in der Rentenversicherung versichert ist das Risiko des Erwerbstätigen, aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen des vorhandenen Leistungsvermögens nicht mehr oder nur noch eingeschränkt erwerbstätig sein zu können. Dies ergibt sich sowohl aus § 1246 Abs 2 Satz 1 als auch aus § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO. Beide Vorschriften stellen nur darauf ab, daß der Versicherte wegen gesundheitlicher Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit seine bisherige oder überhaupt eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben kann. Der Kläger kann sich demgegenüber nicht darauf berufen, daß in § 1246 Abs 2 Satz 1 und 2 RVO der Begriff "Fähigkeiten" verwandt wird und damit auch die Fähigkeit eines Versicherten, deutsch zu sprechen, gemeint sei. Vielmehr sind damit einerseits die körperlichen und geistigen Kräfte und andererseits die beruflichen Fähigkeiten des Versicherten gemeint, die zu berücksichtigen sind, wenn er auf eine andere Berufstätigkeit verwiesen wird. Da in § 1247 Abs 2 RVO die "Fähigkeit" eines Versicherten, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, nicht besonders angesprochen wird, sondern lediglich sein Unvermögen wegen eines gesundheitsbedingt herabgesetzten Leistungsvermögens erwerbstätig sein zu können, kann dem Begriff der "Fähigkeit" in § 1246 Abs 2 Satz 1 und 2 RVO nicht die Bedeutung beigemessen werden, die der Kläger ihm beimessen möchte. Sonst wäre in § 1246 RVO etwas versichert - zB das fehlende Vermögen, deutsch zu sprechen -, das weder gesundheitlich bedingt ist noch mit der bisherigen Berufstätigkeit zwangsläufig verbunden ist. In § 1247 RVO wäre dieses Risiko aber nicht versichert. Soweit die Rechtsprechung die tatsächliche Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu erlangen, dem versicherten Risiko der Rentenversicherung hinzugerechnet hat, hat sie dies immer nur getan, wenn die gesundheitlichen Einschränkungen wesentliche Ursache dafür sind, daß eine Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt werden kann. Dies gilt für die Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bei nur noch zeitlich eingeschränktem Leistungsvermögen (vgl BSGE 43, 75 = SozR 2200 § 1246 Nr 75). Nach dieser Rechtsprechung ist Rente dann zu gewähren, wenn der Arbeitsmarkt keine Arbeitsplätze anbietet, die der Versicherte mit dem aus gesundheitlichen - dh versicherten - Gründen zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögen ausfüllen könnte. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung, nach der die eingeschränkte Gehfähigkeit eines Versicherten zum Anspruch auf EU-Rente führen kann (vgl dazu zuletzt BSG SozR 2200 § 1247 Nrn 47 und 56). Soweit ein Versicherter deutsch nicht sprechen kann, aber eine andere Sprache spricht, ist die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu erhalten, indes nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern aus anderen - nicht versicherten - Gründen eingeschränkt.
Von dieser Abgrenzung des versicherten Risikos in der Versicherung wegen EU bzw BU gehen auch die Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft (EG) über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer aus. Der Senat hat dazu bereits entschieden, daß auch ein allein in einem anderen Staat der EG ausgeübter Beruf Berufsschutz in der deutschen Rentenversicherung begründen kann (BSG, SozR 2200, § 1246 Nr 159). Diese Entscheidung erging als Abschluß eines Verfahrens, in welchem der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 7. Juni 1988 - 20/85 (SozR 6050 Anh VI Nr 4) die dem widersprechende Vorschrift im Anhang zur Verordnung (EG) Nr 1408/71 für unwirksam erklärt hatte. Im Ergebnis bedeutet dies, daß ein Versicherter, ohne ein Wort deutsch zu können, Berufsschutz erwerben kann. Andererseits hat das BSG für die Entscheidung, ob ein Versicherter berufs- oder erwerbsunfähig ist, auf die Verhältnisse des deutschen Arbeitsmarktes abgestellt, auch wenn der Versicherte im Ausland lebt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 48 mwN). Wenn aber einerseits nach EG-Recht sogar die berufliche Qualifikation unter Umständen ausschließlich nach einer im Ausland verrichteten Tätigkeit zu beurteilen ist, andererseits aber die Erwerbsfähigkeit immer nach den Verhältnissen des deutschen Arbeitsmarktes zu beurteilen ist, und zwar auch dann, wenn der Versicherte im Ausland wohnt, so kann die Sprachkompetenz in einer bestimmten Sprache - dh, das Vermögen oder das Unvermögen, gerade die deutsche Sprache zu sprechen - rentenrechtlich keine Bedeutung haben. Die Probleme, die dadurch entstehen, daß auf den verschiedenen nationalen Arbeitsmärkten verschiedene Sprachen gesprochen werden, sind damit unerheblich.
Im Gegensatz zur Ansicht des Klägers werden Ausländer dadurch auch nicht benachteiligt. Wenn man das Unvermögen, deutsch sprechen zu können, auch für die Begründung eines Anspruchs auf EU bzw BU ausreichen ließe, so würde im Gegenteil der Arbeitnehmer, der ausreichend deutsch kann, benachteiligt. Denn es ist nicht etwa so - wie es der Kläger darstellt - daß er keine Rente bekommt, obwohl ein deutschsprachiger Versicherter die Rente bekommen würde. Vielmehr beansprucht er eine Rente, obwohl bei einem deutsch sprechenden Versicherten mit vergleichbaren gesundheitlichen Einschränkungen, wie sie beim Kläger vorliegen, die Rentengewährung nicht möglich wäre. Demzufolge können die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse bei der Prüfung der in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht rechtserheblich sein, wenn - wie im Falle des Klägers - trotz dieses Mangels die Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit im Sinne dieser Vorschrift auf dem deutschen Arbeitsmarkt erfolgt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174209 |
BSGE, 288 |