Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt Witwenbeihilfe. Ihr Ehemann, W. … S. …, ist im Oktober 1986 im Alter von 67 Jahren an schädigungsunabhängigen Leiden gestorben. Er bezog Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH wegen Hirnverletzungsfolgen. Im September 1980 schied er mit 61 Jahren aus seiner Beschäftigung als Betriebselektriker aus, nachdem er über ein Jahr lang arbeitsunfähig gewesen war. Er erhielt ab Juni 1980 (Antragsmonat) Alterruhegeld aus der Rentenversicherung wegen Schwerbehinderung. Der Beklagte lehnte außer einer Witwenrente aufgrund eines Rechtsanspruches (Bescheid vom 10. Februar 1987) eine Witwenbeihilfe ab, weil die Hinterbliebenenversorgung der Klägerin ohne die Schädigungsfolgen nicht höher wäre (Bescheid vom 20. Februar 1987). Das Sozialgericht (SG) hat die gegen beide Bescheide gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 14. April 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin die zuletzt mit der Berufung allein noch geltend gemachte Witwenbeihilfe ab 1. November 1986 zu gewähren (Urteil vom 10. Oktober 1991). Aufgrund der Ermittlungen im Gerichtsverfahren sieht das Gericht zwar eine Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung um mindestens 15 vH auch dann nicht konkret als gegeben an, wenn davon ausgegangen wird, daß der Ehemann wegen seiner Schädigungsfolgen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei (§ 48 Abs 1 Satz 1 BVG). Aber die Hinterbliebenenversorgung gelte nach § 48 Abs 1 Satz 2 BVG durch einen mindestens fünfjährigen Anspruch auf Berufsschadensausgleich als hinreichend beeinträchtigt. Der Ehemann hätte während des Ruhestandes einen Berufsschadensausgleich beanspruchen können; denn er sei als Schwerbeschädigter wegen der Schädigungsfolgen nach Vollendung des 60. Lebensjahres vorzeitig Altersrentner geworden und habe dadurch einen schädigungsbedingten Einkommensverlust erlitten, und zwar als Unterschied zwischen dem tatsächlichen Altersruhegeld und dem Durchschnittseinkommen, das er als Arbeiter der Leistungsgruppe 1 in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie bei Weiterarbeiten erzielt hätte. In einem solchen Fall sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht konkret zu prüfen, ob die Schädigungsfolgen mindestens gleichwertig den Übertritt in den Ruhestand mit verursacht hätten. Der Verwaltung hätte sich aufgrund der Beschädigten-Verwaltungsakte und der veröffentlichten Einkommenstabellen aufdrängen müssen, daß das Einkommen des Ehemannes mindestens fünf Jahre lang schädigungsbedingt gemindert gewesen sei.
Der Beklagte beanstandet mit der – vom LSG zugelassenen – Revision die Ausdehnung der Beweiserleichterung, die einen schädigungsbedingten Einkommensverlust ohne weitere Prüfung annehmen läßt, auf die Witwenbeihilfe, falls der Verstorbene keinen Berufsschadensausgleich beantragt hat. In diesem Fall seien die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Berufsschadensausgleich nicht für die Dauer von mindestens fünf Jahren klar erkennbar gewesen. Der Beschädigte sei nach den Aktenunterlagen, insbesondere vertrauensärztlichen Gutachten, entscheidend wegen schädigungsunabhängiger Erkrankungen Altersrentner geworden. Dies hätte allenfalls noch weiter aufgeklärt werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
unter Änderung des Berufungsurteils die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat zwar die allgemeine Voraussetzung für die Witwenbeihilfe, eine erhebliche Minderung der Hinterbliebenenversorgung der Klägerin durch eine schädigungsbedingte Erwerbsbeeinträchtigung des Ehemannes, verneint (§ 48 Abs 1 Satz 1 BVG hier idF vom 22. Januar 1982 – BGBl I 21 – / 23. Juni 1986 – BGBl I 915 –). Das ist nicht mehr streitig.
Aber das Berufungsgericht hat mit Recht diese Voraussetzung deshalb nach § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG aF (jetzt Satz 6) als erfüllt angesehen, weil der Beschädigte wenigstens fünf Jahre lang Anspruch auf Berufsschadensausgleich hatte (§ 30 Abs 3 und 4 BVG vom 22. Juni 1976 – BGBl I 1633 – / 10. August 1978 – BGBl I 1217 –). Ein solcher Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich ist ohne eine Gewährung dieser Leistung auch dann als gegeben anzusehen, wenn beim Beschädigten die gesetzliche Voraussetzungen für einen Berufsschadensausgleich nach dem Inhalt der über ihn geführten Versorgungsakten auf den ersten Blick für jeden Kundigen klar erkennbar während wenigstens fünf Jahren bestanden und wenn sich dies der Verwaltung aufdrängen mußte (BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16; SozR 3-3100 § 48 Nr 1; Urteile des Senats vom 26. November 1991 – 9a RV 19/90 – zur Veröffentlichung bestimmt – und vom 29. Januar 1992 – 9a RV 5/90 und 5/91 – zuletzt Urteil vom 20. Mai 1992 – 9a RV 24/91 –). So war es in diesem Fall.
Für eine Entscheidung über einen schädigungsbedingten Einkommensverlust ist nicht zu Lebzeiten geklärt worden, ob sich die Schädigungsfolgen beim Ehemann der Klägerin unmittelbar vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wesentlich verschlimmert hatten und deshalb zur Beendigung der Berufsarbeit zwangen (§ 62 Abs 1 BVG aF, § 48 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren). Gleichwohl ist hier – wie nach neuer Rechtsprechung des Senats in der Regel -deshalb das Ausscheiden wegen Schädigungsfolgen iS des BVG anzunehmen, weil der Ehemann nach Vollendung des 60. Lebensjahres auf Grund der nach dem BVG anerkannten Schwerbeschädigung vorzeitig Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1248 Abs 1 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) erhalten hat. Mit Hilfe der Schwerbeschädigung ist glaubhaft gemacht, daß er ohne diese Auswirkung des Versorgungsleidens weiterhin erwerbstätig geblieben wäre (im Anschluß an § 8 Abs 2 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 5 BVG vom 18. Januar 1977 – BGBl I 162 – / jetzt § 8 Abs 1 Satz 3 Berufsschadensausgleichsverordnung: BSG SozR 3100 § 30 Nr 78; SozR 3642 § 8 Nr 7; SozR 3-3100 § 30 Nr 2; SozR 3-3642 § 8 Nr 1). Nach Rentenversicherungsrecht wird in solchen Fällen nicht geprüft, ob die Behinderungen, hier die Schädigungsfolgen, tatsächlich zum Aufgeben der Erwerbstätigkeit zwangen. Das wirkt sich als Verwaltungsvereinfachung und Beweiserleichterung für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich aus.
Kann die Verwaltung den nach § 8 BSchAV erforderlichen Gegenbeweis nicht führen, genügt dies nicht nur zur Begründung eines tatsächlich geltend gemachten Anspruchs auf BSchA, sondern ist im allgemeinen auch eine ausreichende Grundlage für die Rechtsvermutung einer schädigungsbedingten Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung nach § 48 Abs 1 BVG. Grundsätzlich ist eine Rechtsvermutung nur auf eine gesicherte Grundlage zu stützen; diese muß in der Regel feststehen, wenn sie die Vermutung rechtfertigen soll (Schnorr, Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Wien 1988, S 276 f; Leipold, Beweislastregelung und gesetzliche Vermutungen insbesondere bei Verweisungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, 1966, bes S 100, 102 f; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl 1986, S 712 f). Eine solche Vermutungsgrundlage war hier gegeben. Der Berufsschadensausgleich hätte dem Ehemann der Klägerin, falls er ihn beantragt hätte, aufgrund der Rechtslage, die nach der zitierten neuen Rechtsprechung des BSG für schwerbeschädigte Frührentner besteht, gewährt werden müssen. Wenn auch diese Rechtsprechung zu § 30 Abs 3 ff BVG noch nicht zu der Zeit entwickelt worden war, als der Ehemann aus dem Erwerbsleben ausschied, so muß doch sein Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 BVG nach der Rechtslage beurteilt werden, wie sie sich jetzt darstellt (zu nachteiligen Veränderungen: Urteil des Senats vom 26. November 1991 – 9a RV 19/90 –; zur Beurteilung der Unrichtigkeit eines rechtsverbindlichen Verwaltungsaktes: BSGE 57, 209, 210, 211 = SozR 1300 § 44 Nr 13). Die allein noch zwischen den Beteiligten umstrittene Voraussetzung eines Anspruchs auf Berufsschadensausgleich ist wegen der Gewährung des vorgezogenen Altersruhegeldes und der durch sie begründeten Vermutung eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes in der erforderlichen Weise klar und eindeutig genug erkennbar aus der Beschädigten-Verwaltungsakte zu entnehmen.
Der Gesetzgeber mag zwar 1975 bei der Einführung der Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 BVG davon ausgegangen sein, daß sie nur auf die Gewährung von Berufsschadensausgleich für mindestens fünf Jahre zu stützen sei (RdSchr des BMA vom 8. Juli 1976, BVBl 1976 S 98 Nr 52). Er hat aber auf die spätere Rechtsentwicklung, die ihn hätte veranlassen können, die Vermutungsgrundlage für die Annahme einer schädigungsbedingten Minderung der Hinterbliebenenversorgung einzuschränken, nicht entsprechend reagiert. Damals gab es das vorgezogene Altersruhegeld für Schwerbehinderte ab Vollendung des 60. Lebensjahres noch nicht; diese Vergünstigung wurde erst 1978 geschaffen, während sie vorher die Vollendung des 62. Lebensjahres voraussetzte (§ 1248 Abs 1 RVO idF des RRG vom 16. Oktober 1972 – BGBl I 1905 – und idF des Fünften Rentenversicherungsänderungsgesetzes vom 6. November 1978 – BGBl I 1710 –). Auch die dargestellte Rechtsprechung des Senats, nach der ein klar erkennbarer, noch nicht zuerkannter Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 BVG genügt, hat den Gesetzgeber nicht zur Änderung der betreffenden Vorschrift veranlaßt. Angesichts dessen hat die Rechtsprechung auch die Vermutungsvorschrift nicht einschränkend anzuwenden.
Das gilt vor allem deshalb, weil aus der Vorschrift des § 48 Abs 1 BVG ohnedies nicht entnommen werden kann, daß die zur Verwaltungserleichterung geschaffenen Tatbestände – neben dem Anspruch auf BSchA für fünf Jahre ein Anspruch auf Pflegezulage wegen nicht nur vorübergehender Hilflosigkeit oder auf die Rente eines Erwerbsunfähigen – einen realen Bezug zu der in Satz 1 geforderten prozentualen Minderung der Hinterbliebenenversorgung haben. Das ist besonders offensichtlich, wenn man berücksichtigt, daß die beiden letztgenannten Tatbestände nur im Zeitpunkt des Todes erfüllt sein müssen, der jedenfalls nicht selten nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben liegt; dann ist stets ausgeschlossen, daß diese Tatbestände noch irgendeinen Einfluß auf die Hinterbliebenenversorgung haben konnten.
Es ist dem Beklagten durchaus zuzugeben, daß in Fällen wie dem des Ehemannes der Klägerin der Beschädigte vielfach tatsächlich nicht mit Gewißheit wegen Schädigungsfolgen als wesentlicher Bedingung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und jedenfalls keinen Einkommensverlust in dem Umfang erlitten hat, daß dieser sich in rechtserheblichem Ausmaß mindernd auf die Hinterbliebenenversorgung ausgewirkt hätte. Der unwiderleglichen Vermutung kann jedoch nicht mit Einwänden aus dem tatsächlichen Geschehensablauf, auch nicht mit Erfahrungswerten aus typischen Geschehensabläufen begegnet werden. Der Gesetzgeber hat allgemein als Grundlagen für die Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 BVG Tatbestände gewählt, die nicht in jedem Fall mit Sicherheit die Hinterbliebenenversorgung in rechtserheblichem Umfang gemindert haben. Das trifft vor allem für den Bezug der Erwerbsunfähigkeitsrente und den Bezug einer Pflegezulage zu, dh für die einzigen Tatbestände, die ursprünglich zu einer Witwenbeihilfe führten (§ 48 Abs 1 Satz 1 und 2 BVG idF des Vierten Anpassungsgesetzes KOV vom 24. Juli 1972 – BGBl I 1284 –; vgl Bekanntmachung der Neufassung vom 16. Juni 1975 – BGBl I 1365 –). Die Gewährung von Berufsschadensausgleich wurde lediglich als Grundlage für die Vermutung einer erheblichen Schädigung der Witwe von der Verwaltung anerkannt, die zur Gewährung einer Beihilfe als Kannleistung führen konnte (§ 48 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 2 BVG und VV Nrn 3, 4 und 6 Satz 2 idF vom 26. Juni 1969 – Bundesanzeiger Nr 119 vom 4. Juli 1969 – Beilage zum BVBl 7/1969 / 25. Juli 1975 – Bundesanzeiger Nr 83 vom 6. Mai 1975 = BVBl 1975, 61). Solche Ungewißheiten sind mit einer Rechtsvermutung vereinbar. Der Gesetzgeber darf sogar Fiktionen auf Grund des Gegenteils einer erforderlichen Tatsache festlegen.
Die grundsätzliche Vermutung schädigungsbedingter Einkommensminderung gilt allerdings nicht, falls rechtsverbindlich feststeht, daß der Schwerbeschädigte wegen einer schädigungsunabhängigen Ursache vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist (RdSchr des BMA vom 31. Oktober 1991 – BABl 1992 Heft 2 S 109 –; Urteil des Senats vom 20. Mai 1992 – 9a RV 24/91 –). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Ein Verbleiben im Arbeitsleben ohne die Schädigungsfolgen ist zB nicht glaubhaft, wenn Schwerbeschädigte nach Vollendung des 60. Lebensjahres deshalb gar nicht frei entscheiden konnte, ob er weiter arbeiten will, weil er durch schädigungsunabhängige Verhältnisse gezwungen war, seine Erwerbstätigkeit aufzugeben. Dafür genügt aber nicht eine längere Arbeitsunfähigkeit, wenn – wie hier – deren schädigungsunabhängige Ursache nicht förmlich festgestellt war. Der allein maßgebende Inhalt der Beschädigten-Versorgungsakte iVm der Schwerbehindertenakte läßt auch nicht erkennen, daß aus sonstigen Gründen andere Behinderungen als die Schädigungsfolgen (Hirnverletzung) für sich allein die Inanspruchnahme des Altersruhegeldes ermöglicht hätten; sie waren nicht mit einem entsprechenden Grad der Behinderung anerkannt (vgl Urteil des Senats vom selben Tag in der Sache 9a RV 8/92). Andere geeignete Erkenntnismittel für einen Gegenbeweis in Form von Leistungsbescheiden sind ebenfalls nicht verfügbar. Ob als geeignete Erkenntnisgrundlage ausnahmsweise überhaupt eine nachträgliche Begutachtung in Betracht käme, die sich allein auf den Inhalt der Beschädigten-Versorgungsakte stützte, kann hier dahingestellt bleiben. Eine derartige Begutachtung nach dem Tod würde in diesem Fall daran scheitern, daß die Hirnverletzungsfolgen sich von Gesundheitsstörungen, die nicht durch sie ursächlich beeinflußt worden sein dürften, nicht ohne neurologisch-psychiatrische und psychologische Untersuchung des Beschädigten abgrenzen ließen. Damit scheidet die zugunsten des Leistungsträgers grundsätzlich offene Möglichkeit aus, die Vermutung schädigungsbedingten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben zu entkräften.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175108 |
BSGE, 68 |