Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung rechtlichen Gehörs im Vorverfahren. Aufhebung des Widerspruchsbescheids. Sachurteil über Ausgangsbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren gilt auch im Vorverfahren.
2. Der Umstand, daß erst im Vorverfahren eine erforderliche Anhörung des Betroffenen unterblieben ist, führt nur zur Aufhebung des Widerspruchsbescheides, nicht auch des Ausgangsbescheides.
3. Ein Sachurteil über den Ausgangsbescheid kann in diesem Fall erst nach fehlerfreier Wiederholung des Vorverfahrens ergehen; bis dahin sind die Grundsätze zu beachten, die für die Behandlung der Direktklage gegen vorverfahrenspflichtige Verwaltungsakte gelten (vergleiche BSG vom 18.2.1964 - 11/1 RA 90/61 = BSGE 20, 199 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG).
Normenkette
SGB X § 24 Abs. 1, § 42 S. 2; VwGO § 79 Abs. 2 S. 1; SGG § 78; ZPO § 301; VwGO § 79 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob und ggf mit welchen Folgen der Beklagte im Verwaltungsvorverfahren gegen die Anhörungspflicht (§ 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) verstoßen hat.
Bei dem schwerbeschädigten Kläger hatte der beklagte Versorgungsträger mit Bescheid vom 27. April 1989 wie zuvor "1. geringe Restfolgen nach Gelenkrheuma linke Hüfte, 2. mäßige Herzmuskelschädigung" als Schädigungsfolgen iS der Entstehung, ferner ab 1. März 1988 zusätzlich einen "kombinierten Aortenklappenfehler" iS der Verschlimmerung anerkannt und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 80 vH festgesetzt. Im Januar 1992 wurde der Kläger mit einem Aortenklappenersatz versorgt. Darauf hob der Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 27. Oktober 1992 seinen Bescheid vom 27. April 1989 mit Wirkung vom 1. Dezember 1992 teilweise auf und setzte die schädigungsbedingte MdE mit 50 vH fest.
Im Widerspruchsverfahren übersandte der Kläger einen Befundbericht der Radiologischen Abteilung des Klinikums Karlsruhe vom 11. September 1992. Der ärztliche Dienst des Beklagten zog daraufhin von derselben Klinik weitere Befundberichte vom 19. August 1992 und vom 30. März 1993 bei, zu denen er am 27. April und 4. Mai 1993 verwaltungsintern Stellung nahm. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1993 wies der Beklagte den Rechtsbehelf des Klägers zurück, ohne diesem vorher Gelegenheit zu geben, sich zu den im Vorverfahren eingeholten ärztlichen Stellungnahmen und den ihnen zugrundeliegenden Befundberichten zu äußern. Im Widerspruchsbescheid führt er ua aus, daß auch die im Widerspruchsverfahren erhobenen Befunde dem Rechtsbehelf des Klägers nicht zum Erfolg verhelfen könnten, da sie keine für den Kläger günstigeren Erkenntnisse gebracht hätten.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Gerichtsbescheid vom 25. November 1993 Bescheid und Widerspruchsbescheid mit der Begründung aufgehoben, dem Kläger sei im Widerspruchsverfahren kein rechtliches Gehör gewährt worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Entscheidung aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 7. Juni 1994). In den Entscheidungsgründen führte es aus, der Beklagte habe den Kläger zu den im Widerspruchsverfahren erhobenen Befunden nicht nochmals anzuhören brauchen, weil sie keinen neuen Inhalt gehabt hätten. Die angefochtenen Bescheide seien auch zutreffend, weil sich die Schädigungsfolge "kombinierter Aortenklappenfehler" erheblich gebessert habe und deswegen nur noch eine MdE um 50 vH vorliege.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstrebt der Kläger Wiederherstellung des sozialgerichtlichen Gerichtsbescheides. Der Beklagte habe sich im Widerspruchsbescheid auch auf die im Widerspruchsverfahren erhobenen Befunde gestützt. Schon deswegen seien die in diesen Befunden enthaltenen Tatsachen entscheidungserheblich iS des § 24 SGB X gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 7. Juni 1994 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. November 1993 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die vor Erlaß des Ausgangsbescheides vom 27. Oktober 1992 erfolgte Anhörung für ausreichend. Eine neuerliche Anhörung im Widerspruchsverfahren wäre nur dann sinnvoll und notwendig gewesen, wenn die im Vorverfahren erhobenen Befunde einen neuen Inhalt gehabt hätten. Eine vom Ausgangsbescheid abweichende Begründung habe der Widerspruchsbescheid nicht gehabt.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist in bezug auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 24. Mai 1993 erfolgreich. Insoweit war der Gerichtsbescheid des SG wiederherzustellen. Im übrigen - hinsichtlich des Ausgangsbescheides vom 27. Oktober 1992 - ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif.
Der Widerspruchsbescheid leidet an einem unheilbaren Mangel, weil der Beklagte im Widerspruchsverfahren die Vorschrift des § 24 Abs 1 SGB X verletzt hat. Danach ist dem Beteiligten, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Bestimmung gilt auch für das Widerspruchsverfahren (BSG SozR 1300 § 24 Nr 9, insbesondere auf S 19 ff; BSG Urteil vom 25. Oktober 1988 - 12 RK 20/87 -, USK 88139). Die erst im Widerspruchsverfahren verwerteten Befundberichte des Klinikums K. vom 19. August 1992 und vom 30. März 1993 enthielten erhebliche Tatsachen für die - auch noch im Vorverfahren - zu überprüfende Änderung des Bescheides vom 27. April 1989, die auf die Annahme einer wesentlichen, für den Kläger nachteiligen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gestützt war (§ 48 SGB X). Denn die Befundberichte betrafen den Heilungserfolg der im Januar 1992 am Kläger vorgenommenen Aortenklappenoperation. Wären aus ihnen Tatsachen zu folgern gewesen, die den Erfolg dieser Operation oder das angenommene Heilungsstadium in Frage stellten, konnte das den Ausgang des Widerspruchsverfahrens beeinflussen. Der Beklagte ist zwar nach zweimaliger Konsultation seines Ärztlichen Dienstes davon ausgegangen, daß auch die Befundberichte vom 19. August 1992 und 30. März 1993 keine für den Kläger günstigere Beurteilung rechtfertigten als die bereits vorliegenden medizinischen Unterlagen. Gerade aber dazu, ob diese Bewertung der beigezogenen Unterlagen zutraf, wäre der Kläger zu hören gewesen. Denn abgesehen von der hier nicht gegebenen Fallgestaltung, daß bereits bekannte Befundberichte erneut übersandt werden oder die neuen Befundberichte wörtlich mit den bereits bekannten übereinstimmen, können gerade die Meinungen darüber, ob dem Wortlaut nach unterschiedliche Berichte inhaltlich übereinstimmen, auseinandergehen. Die Anhörung des Betroffenen ist dann erforderlich, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Ansicht zum Inhalt der neuen Befundberichte gegenüber der Verwaltung zur Geltung zu bringen. Diese Möglichkeit ist dem Kläger abgeschnitten worden. Da die unterlassene Anhörung im Verwaltungsverfahren einen "absoluten Aufhebungsgrund" darstellt (vgl § 42 Satz 2 SGB X; dazu Schneider-Danwitz in GesamtKomm Anm 46a zu § 42), hat das SG den Widerspruchsbescheid zu Recht aufgehoben. Es kommt nicht darauf an, ob eine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können (Krasney, Kasseler Komm, Rdz 33 zu § 24 SGB X am Ende; BSGE 44, 207, 214).
Das SG war befugt, über den Widerspruchsbescheid eine isolierte Entscheidung - unabhängig vom Schicksal des Ausgangsbescheides - zu treffen. Das folgt aus der Möglichkeit, den Widerspruchsbescheid isoliert anzufechten, soweit er gegenüber dem Ausgangsbescheid eine zusätzliche, selbständige Beschwer enthält. Dies ist zwar ausdrücklich nur für das Verfahren vor den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen (§ 79 Abs 2 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫), gilt aber auch für das sozialgerichtliche Verfahren (Meyer-Ladewig, SGG 5. Aufl, RdNr 3 zu § 95). Die Voraussetzung der zusätzlichen Beschwer ist im Fall der Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift im Widerspruchsverfahren erfüllt, sofern der Widerspruchsbescheid auf dieser Verletzung beruht (§ 79 Abs 2 Satz 2 VwGO), was im Vorverfahren gegen Verwaltungsakte der Sozialbehörden bei Verletzung des rechtlichen Gehörs unwiderleglich vermutet wird (§ 42 Satz 2 SGB X).
Bezüglich des Ausgangsbescheides vom 27. Oktober 1992 hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG zu Recht aufgehoben. Denn dem Ausgangsbescheid war eine ordnungsgemäße Anhörung vorausgegangen. Das SG durfte daher mit der von ihm gegebenen Begründung nicht auch den Ausgangsbescheid aufheben, sondern hätte sich auf die Aufhebung des Widerspruchsbescheides beschränken müssen. Da damit der Rechtsstreit nur teilweise erledigt gewesen wäre, hätte das SG insoweit ein Teilurteil (§ 202 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 301 Zivilprozeßordnung) erlassen müssen. Das weitere Verfahren vor dem SG hätte dann ebenso ablaufen müssen, wie im Fall einer gegen einen vorverfahrenspflichtigen Verwaltungsakt (§ 78 SGG) unmittelbar erhobenen Anfechtungsklage (vgl dazu Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, Rdz 3 zu § 78 SGG; BSGE 20, 199, S 200 ff). Vor dem SG wäre nach Erlaß des Teilurteils über die Aufhebung des Widerspruchsbescheides das Verfahren gegen den Ausgangsbescheid weiterhin anhängig geblieben. Allerdings konnte vorerst kein Schlußurteil ergehen, weil die in § 78 SGG aufgestellte Prozeßvoraussetzung (vorheriges abgeschlossenes Vorverfahren) weggefallen war. Das SG mußte den Beklagten deshalb zunächst zum Erlaß eines neuen Widerspruchsbescheides unter Nachholung der Anhörung des Klägers veranlassen. Dem stand das gleichzeitig anhängige Gerichtsverfahren nicht im Wege (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 39). Das SG konnte nicht ausnahmsweise ohne Vorverfahren über den Ausgangsbescheid entscheiden (vgl dazu Meyer-Ladewig aaO mwN), obwohl Widerspruchsbehörde und Vertretungsbehörde des Beklagten identisch waren (Landesversorgungsamt Baden-Württemberg). Denn bei solchem Vorgehen wäre die Verletzung des rechtlichen Gehörs im Widerspruchsverfahren folgenlos geblieben, was dem Sinn des § 42 Satz 2 SGB X widersprochen hätte. Sobald der neue, formell fehlerfreie Widerspruchsbescheid ergangen und gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden war, hätte das SG beide Bescheide sachlich prüfen müssen.
Da diese Sachbehandlung sowohl in der ersten als auch in der zweiten Tatsacheninstanz unterblieben, der Ausgangsbescheid vom 27. Oktober 1992 aber Gegenstand des Rechtsstreits geblieben ist, muß der Rechtsstreit nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden. Die Wiederholung des Widerspruchsverfahrens während des Revisionsverfahrens ist nicht sinnvoll, weil der Widerspruchsbescheid nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens werden würde (vgl § 171 Abs 2 SGG). Deshalb wird das LSG auf die Wiederholung des Widerspruchsverfahrens hinzuwirken und sodann in der Sache abschließend zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung ist der Endentscheidung vorzubehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 651694 |
Breith. 1997, 464 |
SozSi 1997, 239 |