Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendbarkeit des § 131 Abs 5 SGG auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage
Leitsatz (amtlich)
Die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts wegen unzureichender Ermittlungen im Verwaltungsverfahren (§ 131 Abs 5 SGG) ist bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage unzulässig (Vergleiche BVerwG vom 6.7.1998 - 9 C 45/97 = BVerwGE 107, 128).
Normenkette
SGG § 54 Abs. 4, § 131 Abs. 5 Sätze 1-2, § 170 Abs. 4 S. 1; VwGO § 113 Abs. 3; FGO § 100 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der im Jahre 1942 geborene Kläger beantragte über den spanischen Sozialversicherungsträger am 30.12.2002 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Während des Verwaltungsverfahrens gingen bei der Beklagten verschiedene Unterlagen des spanischen Sozialversicherungsträgers in spanischer Sprache und ein ärztliches Gutachten, ebenfalls in spanischer Sprache, ein. Mit Bescheid vom 23.7.2003 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, weil weder eine teilweise noch eine volle Erwerbsminderung und auch keine Berufsunfähigkeit vorliege. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und überreichte die Bescheinigungen des Arztes M. vom 30.10.2003, eines Krankenhauses, eines Sanatoriums und ein ärztliches Gutachten der Dr. C. B. F. vom 13.5.2004. Die Beklagte ließ die Bescheinigung des Arztes M. und vermutlich das Gutachten der Dr. B. F. teilweise übersetzen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.9.2004 wies sie den Widerspruch als unbegründet zurück. Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) Klage erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.
Mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2004 hat das SG nach vorheriger Anhörung der Beteiligten die Bescheide der Beklagten gemäß § 131 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgehoben, um weitere Sachaufklärung von der Beklagten durchführen zu lassen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat mit Urteil vom 11.5.2005 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: § 131 Abs 5 SGG sei auch auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage sowie auf die Verpflichtungsklage anzuwenden. Hierfür sprächen nicht nur Wortlaut und systematische Stellung der Regelung, sondern auch der in der Entstehungsgeschichte verdeutlichte Zweck, einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung entgegenzuwirken, wenn die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden unterlassen werde. Im sozialgerichtlichen Verfahren sei die typische Klage ein Begehren auf Erbringung einer Sozialleistung durch die Leistungsverwaltung. Dem entspreche grundsätzlich die Situation einer Verpflichtungs- bzw Leistungsklage. Würde man für das sozialgerichtliche Verfahren die Anwendbarkeit von § 131 Abs 5 SGG auf Anfechtungsklagen beschränken, würde die Sozialgerichtsbarkeit dieses neu eingeführten und wichtigen Verfahrensinstrumentes für die weit überwiegende Anzahl der Verfahren beraubt. Das SG habe zudem zu Recht entschieden, dass noch weitere erhebliche Ermittlungen erforderlich seien, um den medizinischen Sachverhalt und den beruflichen Werdegang des Klägers sachgerecht und abschließend beurteilen zu können. Hierzu bedürfe es insbesondere der Übersetzung sämtlicher ausländischer Unterlagen ins Deutsche. Die Zurückverweisung in die Verwaltung stelle auch für die Beteiligten keinen relevanten Rechtsnachteil dar.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 131 Abs 5 Satz 1 und des § 103 SGG. § 131 Abs 5 Satz 1 SGG gelte nur für Anfechtungsklagen, nicht jedoch für die hier vorliegende kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Die Vorschrift entspreche dem Wortlaut des § 113 Abs 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), der nach ganz herrschender Meinung, insbesondere der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), auf die Anfechtungsklage beschränkt sei. Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Auslegung dieser Norm für die Regelung des § 131 Abs 5 SGG denselben Wortlaut gewählt und damit auch dessen Auslegung bestätigt. Andernfalls hätte sich eine andere Fassung der Norm aufgedrängt. Zudem sei die Interessenlage bei einer Verpflichtungs- bzw Leistungsklage anders als bei der Anfechtungsklage. Während bei Anwendung des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG auf die Anfechtungsklage dem Begehren des Klägers mit der Aufhebung des ihn belastenden angefochtenen Verwaltungsaktes bei unzulänglich aufgeklärtem Sachverhalt in vollem Umfang entsprochen werde, wirke sich die Aufhebung des Verwaltungsaktes bei einer Verpflichtungsklage oder unechten Leistungsklage wegen der damit verbundenen Verzögerung der Entscheidung über die Verpflichtung der Behörde bzw den Leistungsanspruch meist zu Lasten des Klägers aus. Auch laufe der Anwendungsbereich des § 131 Abs 5 SGG bei restriktiver Auslegung nicht leer, da Anfechtungsklagen zB bei Rentenentziehungen häufig vorkämen. Des Weiteren lägen die Voraussetzungen der Norm im vorliegenden Fall nicht vor. Die noch erforderlichen Ermittlungen seien weder erheblich noch sei die Zurückverweisung ohne Entscheidung in der Sache sachdienlich. Die Vorinstanzen hätten die erforderlichen weiteren Ermittlungen von Amts wegen vornehmen müssen. Daher sei gleichzeitig auch § 103 SGG verletzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11.5.2005 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.11.2004 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Düsseldorf zurückzuverweisen.
Der Kläger hat sich zur Revision der Beklagten nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen. Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide zwecks weiterer Sachaufklärung des Sachverhalts durch die Beklagte ist rechtswidrig.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist § 131 Abs 5 Satz 1 SGG auf die hier erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nicht anwendbar. Die Norm erfasst ausschließlich die reine Anfechtungsklage.
Hierfür spricht zum einen der Wortlaut der Vorschrift. Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, gemäß § 131 Abs 5 Satz 1 SGG den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Norm berechtigt das Gericht damit nur zu einer Kassation, nicht aber auch dazu, die Behörde zu einem Verhalten zu verpflichten oder zu einer Leistung zu verurteilen. Ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage oder eine Verpflichtungsklage erhoben, hat das Gericht indes auch über den Leistungs- bzw Verpflichtungsantrag zu entscheiden. Dies ergibt sich aus § 130 Abs 1 Satz 1 und § 131 Abs 2, Abs 3 SGG. Ausweislich der ersten Norm kann auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden, wenn gemäß § 54 Abs 4 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Das dem Gericht eingeräumte Ermessen ("kann") bedeutet dabei nicht, dass es in seinem Entscheidungsspielraum liegt, über den Leistungsantrag zu befinden. Im gerichtlichen Ermessen steht lediglich, ob zu einer bezifferten Leistung verurteilt oder ein Grundurteil erlassen wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 141 Nr 8 S 11 f; BSGE 61, 217, 218 = SozR 3100 § 19 Nr 18 S 54 mwN; Pawlak in Hennig, SGG, Stand: Mai 2006, § 130 RdNr 41 f) . Hält das Gericht die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten Verwaltungsaktes für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif, so ist gemäß § 131 Abs 2 SGG im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen; bei mangelnder Spruchreife ist iVm Abs 3 im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (vgl Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 131 RdNr 12c; BSGE 3, 180, 191) . Im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage oder einer Verpflichtungsklage ließe § 131 Abs 5 SGG demnach lediglich ein Urteil über einen Teil des Streitgegenstandes zu, weil bei bloßer Kassation des ablehnenden Bescheids der Leistungs- oder Verpflichtungsantrag rechtshängig bleibt.
Eine auf die reine Anfechtungsklage beschränkte Anwendung des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG ergibt sich zum anderen aus Satz 2, der einstweilige Regelungen für den Fall einer Entscheidung iS von Satz 1 vorsieht. Nach Satz 2 kann das Gericht auf Antrag bis zum Erlass eines neuen Verwaltungsakts insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Diese Regelbeispiele haben im Zusammenhang mit einer Verpflichtungs- oder kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage keinen Anwendungsbereich. Ist der Antrag auf eine Leistung oder einen Verwaltungsakt abgelehnt worden, kommt die Erbringung von Leistungen nicht in Betracht, sodass auch eine Regelung ihrer vorläufigen Rückgewährung ins Leere geht. Ebenso wenig besteht Raum oder Anlass für die Leistung von Sicherheiten. Anders verhält es sich bei der reinen Anfechtungsklage. Ist etwa ein Beitragsbescheid oder ein sonstige öffentliche Abgaben anfordernder Verwaltungsakt gemäß § 131 Abs 5 Satz 1 SGG aufgehoben und damit noch nicht abschließend über die Verpflichtung des Klägers entschieden worden, kann sich je nach den Umständen des Einzelfalls die Frage stellen, ob eine einstweilige Rückzahlung der Abgaben unterbleiben soll, wenn diese wegen Entfallens der aufschiebenden Wirkung (§ 86a Abs 2 Nr 1 SGG) bereits entrichtet worden sind (vgl BT-Drucks 11/7030 S 30 zum wortidentischen § 113 Abs 3 Satz 2 VwGO) . Ist eine Bezahlung dagegen noch nicht erfolgt, wäre etwa bei drohender Insolvenz des Betroffenen die Anordnung einer Sicherheitsleistung erwägenswert. Unter Berücksichtigung der in Satz 2 genannten Beispiele ist die Norm dahin zu verstehen, dass der Vollzug eines (belastenden) Verwaltungsakts trotz seiner Aufhebung ermöglicht und damit eine Vollziehbarkeitslücke bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts geschlossen werden soll (vgl auch Meyer-Ladewig aaO, § 131 RdNr 22; Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO Stand: April 2006, § 113 RdNr 53) .
Nicht zu überzeugen vermag dagegen die Auffassung, vorläufige Regelungen nach Satz 2 kämen dann in Betracht, wenn die Behörde dem Leistungsbegehren nur zum Teil stattgegeben habe, der Kläger aber die Voraussetzungen einer höheren Leistung geltend mache, weil ansonsten der Betroffene wegen Aufhebung der Verwaltungsakte nicht einmal das bekomme, was ihm die Beklagte bereits bewilligt habe (so Hauck in Zeihe, SGG Stand: Mai 2006, § 131 RdNr 25b S 9) . Zu dem befürchteten Nachteil kann es nur kommen, wenn der Rechtsuchende die Klage entgegen seinem Rechtsschutzbedürfnis auf den ihn begünstigenden Teil der Verwaltungsentscheidung erstreckt und das Gericht diese entgegen geltendem Prozessrecht in vollem Umfang aufhebt, anstatt die Klage insoweit als unzulässig abzuweisen. Im beschriebenen Fall eines teilweise begünstigenden, teilweise belastenden Verwaltungsakts ist eine Aufhebung bei zutreffender prozessualer Behandlung lediglich in Bezug auf den belastenden Teil denkbar.
Der begrenzte Anwendungsbereich des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG ergibt sich des Weiteren aus der Entstehungsgeschichte der Norm.
§ 131 Abs 5 SGG, der durch Art 8 Nr 1 des Ersten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24.8.2004 (BGBl I 2198) in das SGG eingeführt worden ist, hat denselben Wortlaut wie § 113 Abs 3 VwGO. Dieser wiederum entspricht inhaltlich § 124 Abs 3 des Entwurfs einer Verwaltungsprozessordnung (EVwPO - BT-Drucks 10/3437) , der seinerseits auf § 100 Abs 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung in der damaligen Fassung zurückging (BT-Drucks 11/7030 S 29 zu § 113 VwGO) . § 124 Abs 3 EVwPO, der das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Aufhebung behördlicher Entscheidungen ermächtigte, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, war unzweifelhaft auf Anfechtungsklagen beschränkt. Denn er sollte die Überschrift "Urteil bei Anfechtungsklagen" erhalten, während § 125 EVwPO Bestimmungen zum "Urteil bei Verpflichtungsklagen und anderen Leistungsklagen" treffen sollte und in Abs 2 Satz 2 und 3 folgende Regelungen enthielt: "Das Gericht kann auch dann zur Bescheidung verpflichten, wenn es wegen der Art oder des Umfangs der erforderlichen Ermittlungen oder Berechnungen sachdienlich ist, die Höhe der Leistungen im Verwaltungsverfahren festzusetzen. Satz 2 gilt für die mit einer Anfechtungsklage verbundenen sonstigen Leistungsklagen entsprechend." Auch der Vergleich des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG mit den für die VwPO geplanten Vorschriften macht deutlich, dass die alleinige Ermächtigung zur Aufhebung von Verwaltungsentscheidungen im Falle behördlicher Aufklärungsdefizite nur die Situation der Anfechtungsklage erfassen kann. Dementsprechend gilt auch § 113 Abs 3 VwGO nur für diese Klageart (so überzeugend BVerwGE 107, 128, 130 f mwN; Gerhardt aaO, § 113 RdNr 55 mwN; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl 2005, § 113 Rz 166; aA Schmidt in Eyermann/Fröhler, VwGO, 12. Aufl 2006, § 113 RdNr 40) .
Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 131 Abs 5 Satz 1 SGG auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage lässt sich weder im Wege der Auslegung (so aber Hauck aaO § 131 RdNr 25b S 7 mwN) noch im Wege der Analogie rechtfertigen. Bildet der sprachlich mögliche Wortsinn die Grenze einer zulässigen Auslegung (vgl BGHZ 46, 74, 76; BGH NJW 1988, 2109) , kommt eine erweiternde Auslegung schon deshalb nicht in Betracht, weil der Wortlaut hinsichtlich der normierten Rechtsfolge einer ausschließlich auf die Anfechtungsklage passenden reinen Kassation eindeutig ist. Dieses Ergebnis gilt ebenfalls, soweit man eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung nicht für ausgeschlossen hält, wenn andere Indizien deutlich belegen, dass der Sinn der Vorschrift im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat (vgl BGHZ 152, 121, 127 = NJW 2003, 290, 291; BVerfGE 97, 186, 196; s auch BVerfGE 91, 367, 387) . Deutliche Indizien dafür, dass § 131 Abs 5 Satz 1 SGG auch die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage erfassen will, sind nämlich nicht festzustellen. Systematische Gesichtspunkte und eine Betrachtung der Gesetzesmaterialien in Verbindung mit teleologischen Erwägungen führen vielmehr zu widersprüchlichen Ergebnissen. Mangels eindeutiger Indizien für eine gewollte Erstreckung des § 131 Abs 5 SGG auch auf andere Klagearten als die Anfechtungsklage fehlt es zudem an einer planwidrigen Regelungslücke als Voraussetzung für eine Analogie (dazu: BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN; BGHZ 149, 165, 174; BGH NJW 2003, 1932, 1933; NJW 2005, 2142, 2143; BAG NJW 2003, 2473, 2474 f) ; eine solche liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, dh ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (BFH NJW 2006, 1837; vgl auch BSGE 89, 199, 203 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 96) .
Die systematische Stellung des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG würde die Anwendung der Norm auch auf andere Klagearten als die reine Anfechtungsklage zulassen. Anders als § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO ist die Vorschrift nicht der Anfechtungsklage systematisch zugeordnet. Auch lassen sich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung Hinweise auf einen breiteren Anwendungsbereich der Norm entnehmen, soweit dort ausgeführt wird, dass nach den Beobachtungen der Praxis die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen werde, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die (Sozial-)Gerichte führe (vgl BT-Drucks 15/1508 S 29) . Eine sich zu Lasten der Gerichte auswirkende unterbliebene behördliche Sachverhaltsaufklärung ist insbesondere im Bereich der Verpflichtungs- sowie der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage möglich, da diese Klagearten typisch für das sozialgerichtliche Verfahren sind.
Auf der anderen Seite enthält die oben genannte Begründung jedoch ebenso Anhaltspunkte für eine Absicht des Gesetzgebers, § 131 Abs 5 Satz 1 SGG auf die reine Anfechtungsklage zu beschränken. So wird darauf hingewiesen, dass mit § 131 Abs 5 Satz 1 SGG für das sozialgerichtliche Verfahren eine § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO entsprechende Regelung geschaffen werden sollte (vgl BT-Drucks 15/1508 S 29) . Im Zeitpunkt des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz durch die Bundesregierung vom 2.9.2003 hatte jedoch das BVerwG bereits in gefestigter Rechtsprechung entschieden, dass § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO nur auf die reine Anfechtungsklage anwendbar ist (BVerwGE 107, 128, 130 f mwN; BVerwG Buchholz 402.25 § 34 AsylVfG Nr 4; BVerwG vom 14.6.1999 - 7 B 332/98) . Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Rechtsprechung der Bundesregierung und dem Gesetzgeber unbekannt gewesen ist, lässt sich die erklärte Absicht, für das sozialgerichtliche Verfahren eine dem § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO entsprechende Regelung schaffen zu wollen, nur im Sinne eines auf die reine Anfechtungsklage beschränkten Geltungsbereichs des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG verstehen.
Dies ergibt sich des Weiteren unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Erwägungen zum Entwurf des § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO. Danach ist bei Anwendung des § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO zu beachten, dass es den Interessen der Rechtsuchenden, aber auch dem Rechtsfrieden oft mehr dient, wenn das Gericht eine abschließende Streitentscheidung trifft. Nur wenn nach Lage der Dinge zweifelsfrei Ermittlungen vorzunehmen sind, welche die Behörde nach ihrer personellen und sachlichen Ausstattung besser durchführen kann als das Gericht, und wenn es unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen, werde nach Satz 1 vorzugehen sein (BT-Drucks 11/7030 S 30) . Der vom Gesetzgeber selbst herausgestellte Ausnahmecharakter der Norm bestätigt die Beschränkung auf die Anfechtungsklage. Dies gilt um so mehr, als das Bedürfnis der Betroffenen nach einer abschließenden und verbindlichen gerichtlichen Beurteilung des Rechtsstreits bei einer Verpflichtungs- sowie kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage wesentlich stärker ist, als bei einer reinen Anfechtungsklage. Nur bei dieser wird dem Begehren des Klägers mit der Aufhebung eines ihn belastenden, seine Rechte verletzenden Verwaltungsakts auf der Grundlage eines nur teilweise aufgeklärten Sachverhalts in vollem Umfang stattgegeben, sodass insofern kein entscheidungsbedürftiger Reststreitstoff verbleibt. Beantragt der Kläger dagegen die Verpflichtung der Behörde zum Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts oder einer Leistung, erringt er mit der bloßen Aufhebung des ablehnenden Bescheides nur einen Teilerfolg, der ihm regelmäßig keine Verbesserung seiner materiell-rechtlichen Position bringt. Die Aufhebung eines Ablehnungsbescheides wegen unzureichender Sachverhaltsaufklärung besagt allein nichts über die mögliche Begründetheit des geltend gemachten Anspruchs. Die gerichtliche Entscheidung hätte für den Kläger nur die Wiederholung des behördlichen Verfahrens zur Folge (vgl zum Ganzen nochmals BVerwGE 107, 128, 130) .
Der Senat vermag dem LSG schließlich nicht darin zuzustimmen, dass bei diesem Ergebnis die Sozialgerichtsbarkeit eines wichtigen Verfahrensinstruments für die weit überwiegende Anzahl der Verfahren beraubt wird.
§ 131 Abs 5 Satz 1 SGG ist unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte als Nachbildung von § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO bzw letztlich § 124 Abs 3 EVwPO eine Ausnahmevorschrift, die nur in besonders gelagerten Fällen Anwendung finden soll (vgl BT-Drucks 11/7030 S 29 und BT-Drucks 10/3437 S 133 zu § 124 VwPO) . Deshalb sind die Tatbestandsvoraussetzungen eng auszulegen, wie bereits das BVerwG ausdrücklich entschieden hat (BVerwGE 117, 200, 207; vgl zu § 100 Abs 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung: BFHE 177, 217; BFH/NV 2001, 178, 179) . Nur dann, wenn die Behörde nach ihrer personellen und sachlichen Ausstattung eine Sachverhaltsermittlung besser durchführen kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen, soll die Vorschrift nach den Vorstellungen des Gesetzgebers heranzuziehen sein (BT-Drucks 11/7030 S 30) . Hieran ist zu messen, ob die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art oder Umfang erheblich sowie die Aufhebung der Verwaltungsakte sachdienlich ist (vgl BVerwGE 117, 200, 207 f; teilweise aA Hauck aaO, § 131 RdNr 31) . Angesichts dieser strengen Voraussetzungen dürfte die Entlastung der Justiz durch § 131 Abs 5 Satz 1 SGG fraglich sein (vgl hierzu auch Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO Stand: April 2006, § 113 RdNr 56 mit Fußnote 269) , selbst wenn sein Geltungsbereich auf Verpflichtungs- und Leistungsklagen erstreckt würde.
Soll eine Zurückverweisung in die Verwaltung wegen mangelhafter Sachaufklärung auch im Fall der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage sowie der Verpflichtungsklage möglich sein, wäre es Aufgabe des Gesetzgebers, das SGG um eine Regelung zu ergänzen, die eine Zurückverweisung in die Verwaltung bzw entsprechend § 131 Abs 3 SGG ihre Verpflichtung zur Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zulässt. Um den Sozialgerichten ein effizientes Instrument zur Entlastung und Beschleunigung der Verfahren zur Verfügung zu stellen sowie eine unerwünschte Verlagerung der zunächst den Behörden obliegenden Amtsermittlung (§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) in das Gerichtsverfahren zu verhindern, müsste die Anwendung einer solchen Regelung zudem von weniger strengen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, als § 131 Abs 5 Satz 1 SGG sie normiert und sie sich aus § 113 Abs 3 Satz 1 VwGO im Lichte der Rechtsprechung des BVerwG sowie unter Berücksichtigung der Gesetzesmotive ergeben. Das zeigt gerade der vorliegende Fall, in dem ein erhebliches Ermittlungsdefizit bzw die Sachdienlichkeit der Aufhebung zweifelhaft erscheint, obwohl die Beklagte praktisch keine Ermittlungen durchgeführt hat. Denn die Tatbestandsmerkmale der Norm sind im Anschluss an die Gesetzesbegründung zu § 113 Abs 3 VwGO (BT-Drucks 11/7030 S 30) und an die bisherige Rechtsprechung (vgl BVerwGE 117, 200, 207 f; BFH/NV 2001, 178, 179; s auch BFHE 177, 217; BFHE 182, 300) abseits von wirtschaftlichen Überlegungen nur dann als erfüllt anzusehen, wenn die Behörde nach personeller und sachlicher Ausstattung die für erheblich und erforderlich gehaltenen Ermittlungen besser bzw rascher durchführen kann als das Gericht. Das wäre jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die Beklagte über keine anderen Aufklärungsmittel verfügte als das Gericht - wenn sie beispielsweise die aus Spanien stammenden medizinischen Unterlagen über den Kläger ebenso wie das Gericht durch einen externen Übersetzungsdienst übersetzen lassen müsste oder wenn sie zur Klärung des Berufsschutzes des Klägers ebenso wie das Gericht auf Arbeitgeberauskünfte oder berufskundliche Gutachten angewiesen wäre. Da hierfür eine gewisse Vermutung spricht, obwohl das angefochtene Urteil keine diesbezüglichen Feststellungen trifft, dürfte die Aufhebung des die Rente ablehnenden Verwaltungsakts nach den von der bisherigen Rechtsprechung aufgezeigten Kriterien "auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten" (vgl BT-Drucks 15/1508 S 29 zu § 131 SGG) unabhängig von der Klageart kaum zu rechtfertigen sein.
Ist § 131 Abs 5 Satz 1 SGG in seiner derzeitigen Fassung nicht auf die hier erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage anwendbar, obliegt es den Tatsachengerichten, gemäß § 103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und die Spruchreife der Sache herbeizuführen.
Die demnach notwendige Zurückverweisung erfolgt an das LSG und nicht - wie von der Beklagten angeregt - an das SG. Eine Zurückverweisung vom BSG an das SG ist im Gesetz nur für den Fall der Sprungrevision vorgesehen (vgl § 170 Abs 4 Satz 1 SGG) . Das BSG hat darüber hinaus eine Zurückverweisung an das SG für möglich erachtet, wenn das Revisionsgericht zugleich die Kompetenz des LSG zur Zurückverweisung an das SG (§ 159 Abs 1 SGG) wahrnimmt (vgl BSGE 51, 223, 226 = SozR 1500 § 78 Nr 18 S 31; SozR 1500 § 136 Nr 6 S 7; zustimmend wohl auch BSGE 82, 150, 157 = SozR 3-1500 § 60 Nr 4 S 19) . Ob der erkennende Senat sich dieser Rechtsprechung anschließt, bedarf hier keiner Entscheidung. Zu einer solchen weitergehenden Zurückverweisung besteht im vorliegenden Fall schon deswegen kein Anlass, weil sie die Erledigung des Prozesses weiter verzögern würde.
Eine Zurückverweisung an das SG empfiehlt sich auch nicht etwa deshalb, weil der Leistungsantrag des Klägers beim SG rechtshängig geblieben wäre. Zwar hat das SG im Tenor seines Urteils lediglich die angefochtenen Bescheide aufgehoben, ohne über den Leistungsantrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu entscheiden. Gleichwohl ist der Leistungsantrag nicht mehr in der ersten Instanz rechtshängig. Das SG hat nämlich in den Entscheidungsgründen den Rechtsstreit an die Beklagte zur weiteren Aufklärung des bisherigen Berufs des Klägers und seines Gesundheitszustands zurückverwiesen. Damit hat es auch über den Leistungsantrag befunden (zur Heranziehung der Urteilsgründe bei der Ermittlung des Inhalts einer Entscheidung vgl BSG SozR 3-1500 § 141 Nr 8 S 11; BSGE 9, 17 = SozR Nr 4 zu § 141 SGG; BSGE 6, 97, 98) . Durch die in § 131 Abs 5 Satz 1 SGG zwar nicht vorgesehene, gleichwohl jedoch vom SG ausgeurteilte Verpflichtung der Beklagten ist der Rechtsstreit - vergleichbar einer Zurückverweisung nach §§ 159 Abs 1, 170 Abs 2 Satz 2 SGG - in der ersten Instanz vollständig erledigt worden.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung durch das LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1779864 |
BSGE 2008, 198 |