Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.11.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. November 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenleistungen nach ihrem am 22. April 1908 geborenen und am 9. Februar 1984 durch Freitod verstorbenen Ehemann K … T ….
Karl Tillmann war bis Juni 1963 – zuletzt als Reviersteiger – im rheinisch-westfälischen Steinkohlebergbau beschäftigt. Er hatte wegen der durch eine – als Berufskrankheit anerkannte – Quarzstaublungenerkrankung bedingten Gesundheitsstörungen Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von zunächst 30 vH und zuletzt von 40 vH erhalten. Seinen Erhöhungsantrag hatte die Beklagte im August 1982 abgelehnt.
Vom 4. bis 12. Mai 1982 und vom 22. bis 29. April 1983 war K … T … wegen einer Herz- und Koronarinsuffizienz, eines Zustandes nach Herzhinterwandinfarkt und einer Emphysembronchitis stationär behandelt worden. Wegen einer Herz- und Koronarinsuffizienz, sowie wegen einer arteriellen Verschlußkrankheit, der Emphysembronchitis und einer Silikose war K … T … am 9. Januar 1984 erneut in stationäre Behandlung aufgenommen worden. Noch am Abend des Aufnahmetages ist er durch Freitod aus dem Leben geschieden.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 29. Oktober 1985 die Gewährung der von der Klägerin beantragten Hinterbliebenenleistungen mit der Begründung ab, die Berufskrankheit des Ehemannes der Klägerin sei nicht der alleinige Beweggrund für seinen Entschluß zur Selbsttötung gewesen.
Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat die Beklagte mit Urteil vom 16. Dezember 1986 verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren, da dieser die Entscheidung zur Selbsttötung wegen der durch die Silikose bedingten Atemnot gefaßt habe; es hat die Berufung zugelassen, soweit sie nicht kraft Gesetzes zulässig ist. Das Landessozialgericht (LSG) hat hingegen die Klage abgewiesen: Der Ehemann der Klägerin habe den Entschluß zur Selbsttötung zwar nicht in Schädigungsabsicht gefaßt. Seine Entschließung zur Selbsttötung beruhe auch nicht auf einer infolge der durch die Berufskrankheit wesentlich bedingten Ausschließung der freien Willensbestimmung, die nach dem Beweisergebnis nicht wesentlich beeinträchtigt gewesen sei. Der Ehemann der Klägerin habe sich zur Selbsttötung aber deshalb entschieden, weil er sich wegen der Verstärkung seiner Atemnot einem zunehmenden Leidensdruck mit der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit und Ausweglosigkeit ausgesetzt gesehen habe. In einem solchen Fall sei die Selbsttötung aber nur dann rechtlich wesentlich, wenn der durch die Atemnot ausgelöste Leidensdruck allein auf die Folgen der Berufskrankheit zurückzuführen sei. Das sei nicht der Fall, weil die Atemnot lediglich zu 40 vH durch die Berufskrankheit verursacht worden sei. Die Folgen der Silikose seien mithin objektiv nicht der alleinige Beweggrund für den Entschluß zur Selbsttötung gewesen. Der Umstand, daß der Ehemann der Klägerin selbst die Atemnot offenbar allein auf die Silikose zurückgeführt habe, sei nicht rechtserheblich.
Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom erkennenden Senat zugelassene – Revision, mit der die Klägerin die fehlerhafte Abgrenzung der Kausalität durch das LSG geltend macht. Entscheidungserheblich sei allein, daß aus der Sicht des Ehemannes der Klägerin die Folgen der Berufskrankheit eine wesentliche Bedingung für den Freitod gewesen seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. November 1988 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 16. Dezember 1986 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. Insbesondere habe das LSG weder den Ursachenbegriff verkannt noch eine unzutreffende Würdigung des Falles vorgenommen.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Berufung der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet.
Das LSG hat festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin den Freitod nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden oder erkennbar beeinträchtigenden Geisteszustand und auch nicht absichtlich, sondern wegen der Ausweglosigkeit seiner körperlichen Situation – insbesondere der bei ihm bestehenden Atemnot gesucht hatte. Es konnte deshalb bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des 5a-Senats des Bundessozialgerichts -BSG- (Urteil vom 24. November 1982 – 5a RKnU 3/82 –, BSGE 54, 184, 185) den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Berufskrankheit und dem Freitod des Ehemannes der Klägerin nur dann bejahen, wenn der durch die Atemnot ausgelöste Leidensdruck die alleinige Folge der Silikose war und der Entschluß zur Selbsttötung allein darauf beruhte. Diesem rechtlichen Ansatz folgt der erkennende Senat jedoch nicht. Er gibt als der jetzt – wie zuvor der 5a-Senat für die Entscheidung in Angelegenheiten der Unfallversicherung für den Bergbau zuständige Senat die abweichende Rechtsansicht des 5a-Senats (aaO) auf.
Der 5a-Senat hat für den vom LSG festgestellten Sachverhalt einen rechtserheblichen Kausalzusammenhang zwischen den Folgen der Berufskrankheit und dem Entschluß zur Selbsttötung nur dann als durch die Berufskrankheit wesentlich verursacht angesehen, wenn die Folgen der anerkannten Berufskrankheit der alleinige Beweggrund für die Selbsttötung gewesen sind. Für diese seine Rechtsansicht war leitend, daß Hinterbliebene nach § 553 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) keinen Anspruch haben, wenn der Versicherte den Arbeitsunfall absichtlich herbeigeführt hat. Diese nach dem Wortlaut sich auf die haftungsbegründende Kausalität beziehende Vorschrift findet nach dem Urteil des 2. Senats vom 18. Dezember 1962 (BSGE 18, 163) auch auf die – hier allein maßgebliche – haftungsausfüllende Kausalität Anwendung. Wegen der freiwilligen und nicht durch eine wesentliche Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung erfolgten Herbeiführung des Todes hat der 5a-Senat in Abkehr von der im Unfallrecht herrschenden Kausaltheorie der wesentlichen Bedingung oder der wesentlich mitwirkenden Ursache (BSGE 1, 254, 256; h Rspr) die kausale Verknüpfung zwischen dem Tod und den Folgen der Berufskrankheit enger abgegrenzt.
Der erkennende Senat sieht jedoch keinen Anlaß, von der Anwendung des Kausalitätsbegriffs der wesentlichen Bedingung in den Fällen der Selbsttötung wegen der Folgen von anerkannten Gesundheitsstörungen, die zwar nicht die freie Willensbestimmung beeinträchtigen, jedoch gleichwohl den Entschluß zur Selbsttötung wesentlich mitbedingt haben, abzugehen. Die Ursächlichkeit einer Berufskrankheit für den – durch Selbsttötung eingetretenen – Tod des Versicherten ist vielmehr auch dann zu bejahen, wenn deren Folgen die Entschließung zur Selbsttötung wesentlich mitbedingt haben; es ist nicht erforderlich, daß sie die alleinige Ursache für diesen Entschluß gewesen sind. Auch bei einer solchen wesentlichen Mitverursachung ist die Willensbestimmung des Versicherten, der aus dem Leben scheiden will, durch die Folgen der Berufskrankheit entscheidend geprägt. Dies schließt die Annahme einer absichtlichen Todesverursachung iS des § 553 RVO aus.
Von dieser Abgrenzung sind – soweit aus dem vom LSG festgestellten Sachverhalt ersichtlich ist – möglicherweise zwar die vom SG gehörten Sachverständigen teilweise ausgegangen. Das LSG hat diese Gutachten jedoch nicht unter dem rechtlichen Ansatz der wesentlichen Mitbedingtheit der Folgen der Berufskrankheit an der Entschließung zur Selbsttötung, sondern nur unter dem Gesichtspunkt gewürdigt, ob der durch die Berufskrankheit bedingte Leidensdruck Alleinursache für den Entschluß zur Selbsttötung war. Diese Feststellung wird das LSG nachzuholen haben.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG ferner zu prüfen haben, ob an der weiteren Begründung festzuhalten ist, es sei unbeachtlich, inwieweit der Versicherte die Atemnot „offenbar” allein auf die Silikose zurückgeführt habe. Im Hinblick auf den auch hier maßgeblichen Ursachenbegriff ist die im Urteil des 2. Senats des BSG vom 18. Dezember 1962 (aa0) dargelegte Inhaltsbestimmung der Wesentlichkeit einer Bedingung entsprechend zu erweitern. Demgemäß ist bei der Frage, ob die Berufskrankheit kausal für die Selbsttötung im Sinne einer wesentlichen Mitbedingung war, nicht nur – wie der 2. Senat (aaO) entschieden hat und auch nur zu entscheiden hatte –, auf die Reaktionsweise eines „normalen” Verletzten oder Berufskranken abzustellen, sondern darauf, wie der Betroffene individuell auf die Folgen der Berufskrankheit reagiert hat. Bei der Kausalitätsfrage ist zu prüfen, welche Auswirkungen das Krankheitsgeschehen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenheit im körperlich-seelischen Bereich gehabt hat (BSGE 58, 230, 232 mwN). Unerheblich ist dabei, daß es sich in dem vom 2. Senat (aaO) entschiedenen Fall um Umstände handelte, die die freie Willensbestimmung des Verletzten betrafen, während hier keine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung vorlag, der Verletzte aber gleichwohl – jedenfalls nach den vom LSG getroffenen Feststellungen – allein wegen der Folge seiner teilweise silikotisch bedingten Atemnot den Tod gesucht hat. Zwar können falsche Vorstellungen über die Auswirkungen einer Berufskrankheit im Einzelfall nicht rechtserheblich sein, etwa wenn sie objektiv nicht nachvollziehbar sind. Das ist jedoch eine Frage des Einzelfalles und bedarf deshalb der konkreten Prüfung und Feststellung. Die subjektiven Vorstellungen sind aber nicht, wie das LSG meint, in jedem Falle bedeutungslos für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage.
Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten im Beschwerde- und Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1174683 |
BSGE, 156 |