Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 01.10.1993) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Oktober 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die rentensteigernde Anerkennung der Zeit vom 1. November 1956 bis 12. Mai 1989 als Ersatzzeit, weil sie durch feindliche Maßnahmen gehindert gewesen sei, nach Deutschland auszureisen.
Die Klägerin ist 1920 in Omsk/Sibirien in der ehemaligen UdSSR geboren. Von 1936 bis 1958 lebte sie in verschiedenen Gemeinden (Kara-Su, Samarkand, Kokand) im Gebiet von Taschkent innerhalb der ehemaligen Usbekischen Sowjetrepublik. Bei Kriegsausbruch wohnte sie in Kara-Su. Dort wurde sie von 1941 bis Ende 1955 unter Kommandanturaufsicht gestellt. Eine Zwangsumsiedlung erfolgte nicht. Von 1958 bis zu ihrer Aussiedlung im Mai 1989 lebte sie in der Gemeinde Garassu, Gebiet Alma-Ata in der Kasachischen Sowjetrepublik und bezog seit Juni 1988 eine Altersrente. Seit Mai 1989 befindet sie sich in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist im Besitz eines Vertriebenenausweises A. Darin wird die Zeit von August 1941 bis Dezember 1955 als Internierungszeit aufgeführt. Die Klägerin bezieht Altersruhegeld seit dem 12. Mai 1989 (Bescheid vom 17. Oktober 1989; Neuberechnung durch Bescheid vom 3. November 1991). Die Zeit der Internierung ist als Ersatzzeit anerkannt worden.
Mit Schreiben vom 17. Juli 1992 begehrte die Klägerin eine Neufeststellung ihrer Rente. Ihr müsse über die Internierung hinaus die Zeit bis zur Ausreise als Ersatzzeit anerkannt werden. Die Beklagte lehnte das ab (Bescheid vom 5. August 1992, Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1992).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. April 1993). Die Klägerin sei lediglich von dem allgemeinen Ausreiseverbot in der ehemaligen UdSSR betroffen gewesen. Sie sei nicht aus ihrem Heimatgebiet gerissen und entwurzelt worden. Eine Zwangsumsiedlung habe nicht stattgefunden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 1. Oktober 1993) und unter Bezugnahme auf das Urteil des SG ausgeführt, die Klägerin sei nicht durch gegen Deutsche gerichtete feindliche Maßnahmen betroffen worden, sondern lediglich durch das allgemeine Ausreiseverbot.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1251 Abs 1 Nr 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie sei durch feindliche Maßnahmen „festgehalten” worden. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei anerkannt, daß auch Deutsche, die nur vom allgemeinen Ausreiseverbot betroffen gewesen seien, deshalb als „festgehalten” angesehen werden müßten, weil sie durch Zerschlagung der deutschen Siedlungsgebiete kulturell entwurzelt und darauf angewiesen gewesen seien, nach Deutschland auszureisen. Seit dem bilateralen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion hätten Deutsche das Recht zur Auswanderung gehabt. Wenn dennoch das allgemeine Ausreiseverbot auf sie angewendet worden sei, so sei dies eine feindliche Maßnahme gewesen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Oktober 1993 und des Sozialgerichts Koblenz vom 19. April 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. August 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1992 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 17. Oktober 1989 zu verurteilen, die Zeit vom 1. November 1956 bis 12. Mai 1989 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, soweit für diesen Zeitraum keine Zeiten nach §§ 15, 16 Fremdrentengesetz (FRG) angerechnet worden seien.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Gemäß § 44 Abs 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, bei dessen Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Klägerin sind weitere Ersatzzeiten nicht anzuerkennen.
Auf den vorliegenden Fall ist noch das Recht der RVO anzuwenden. Es geht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, bei dem die Frage zu prüfen ist, ob altes Recht richtig angewandt wurde. Aus dieser Vorschrift folgt der Anspruch, rechtlich so gestellt zu werden, als hätte die Behörde von vornherein richtig entschieden. Der Neubescheid hat die Sach- und Rechtslage bei Erlaß des früheren Verwaltungsaktes zu berücksichtigen (vgl Kasseler Komm-Niesel § 300 SGB VI RdNr 15; Kasseler Komm-Steinwedel § 44 SGB X RdNr 35).
Die Voraussetzungen des § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO liegen nicht vor. Das LSG hat – unter Verweisung auf die Feststellungen des SG – in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß die Klägerin lediglich von dem in der ehemaligen UdSSR allgemein geltenden Ausreiseverbot betroffen und nicht aus ihrem Heimatgebiet verbracht oder zwangsweise umgesiedelt worden war. Diese Feststellungen sind, da gegen sie keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen vorgebracht wurden, für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend. In der Rechtsprechung des BSG ist aber schon seit längerem anerkannt, daß dann, wenn auf im Ausland wohnende Volksdeutsche lediglich ein für die Bewohner allgemein geltendes Ausreiseverbot angewandt wurde, eine feindliche Maßnahme iS der als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden Vorschriften der § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO, § 28 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 51 Abs 1 Nr 3 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) nicht vorliegt (s BSG SozR 2200 § 1251 Nrn 52, 58, 126).
Tatsachen, die den Schluß rechtfertigten, die Klägerin sei als Deutsche in besonderem Maße vom allgemeinen Ausreiseverbot betroffen worden, das Verhalten der sowjetischen Behörden ihr gegenüber also doch „feindlich” iS des § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO gewesen, sind nicht festgestellt. Zwar hat der Senat anerkannt, daß Deutsche, die aus einem deutschen Siedlungsgebiet herausgerissen und später daran gehindert wurden, in ein deutschsprachiges Gebiet zurückzukehren, in dieser Zeit, in der sie nicht wieder in eine deutschsprachige Umgebung zurückkehren konnten, „festgehalten” waren. Denn diese Deutschen waren aufgrund der Maßnahmen der sowjetischen Behörden in besonderer Weise darauf angewiesen, nach Deutschland, in ihre sprachliche Heimat, überzusiedeln (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 126). Eine solche Lage ist aber zugunsten der Klägerin nicht festgestellt worden. Die Klägerin lebte vielmehr schon, als die gegen Deutsche gerichteten Maßnahmen begannen, in russischsprachiger Umgebung, sei es freiwillig oder aufgrund von Maßnahmen, die nicht allein gegen Deutsche, sondern auch gegen andere Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion aus kommunistisch-ideologischen Gründen ergriffen worden waren. Als die Verfolgung der Deutschen an Intensität nachließ, bestand allerdings kein geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet mehr. Nur soweit ein Deutscher aus einem solchen deutschen Siedlungsgebiet durch gegen Deutsche gerichtete Maßnahmen herausgerissen worden war und nunmehr gehindert wurde, sich wieder mit anderen Deutschen in einem solchen Gebiet zusammenzufinden, hat der Senat eine „feindliche Maßnahme” bejaht. Das gleiche gilt jedoch nicht im Falle dessen, der bereits vor Beginn der gegen Deutsche gerichteten Verfolgung ohnehin schon in russischsprachiger Umgebung gelebt hatte. Auch wenn er dorthin verschlagen worden sein sollte – wie es vielleicht auch bei der Klägerin war –, hatte er doch nur das allgemeine Schicksal der Bevölkerung in der Sowjetunion geteilt, von den bereits vor Kriegsausbruch bestehenden politischen Wirren ergriffen worden zu sein. Er war indessen insoweit nicht das Opfer einer gegen Deutsche gerichteten Verfolgung.
Auch die Argumentation der Klägerin in der Revisionsinstanz, sie sei deshalb besonders vom Ausreiseverbot betroffen gewesen, weil sie aufgrund eines bilateralen Abkommens zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 das Recht zur Ausreise gehabt habe, ergibt nichts anderes. Ein echtes Recht auf Ausreise für die Volksdeutschen in der Sowjetunion, die sowjetische Bürger waren, hatte die Bundesrepublik Deutschland zu dieser Zeit nicht erreichen können.
„Die Bemühungen der Bundesregierung führten zu einer Verbesserung der Rechtslage und zur Linderung der dringendsten Not der Deutschen. Am 17. September 1955 erfolgte die Amnestie der Sowjetbürger, die während des Krieges 1941 – 1945 mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, und am 13. Dezember 1955 wurden die Sondersiedlungen aufgelöst. Damit fielen auch die Aufenthaltsbeschränkungen und die regelmäßige Registrierung bei den Kommandanturen weg. Ferner erhielten die Deutschen ab 1956 wieder Pässe ausgehändigt. Ein weiterer, ganz wesentlicher Erfolg der Bemühungen war das Repatriierungsabkommen vom 4. April 1958, worin sich beide Seiten zum ‚Prinzip der Zusammenführung der infolge des letzten Krieges auseinandergerissenen Familien’ bekannten. Man kam ferner überein, die Zusammenarbeit der beiderseitigen Rotkreuzgesellschaften verstärkt fortzusetzen” (Joseph Schnurr, Die Aussiedler aus dem sowjetischen Bereich, in: Forschungen der AWR – Association for the
study of the world refugee problem – Deutsche Sektion, Die Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland 1985, S 62).
Die Zusammenarbeit der Deutschen sowjetischer Staatsangehörigkeit mit der deutschen Armee im zweiten Weltkrieg war willkürlich für alle Deutschen behauptet worden. Durch das „Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 17. September 1955 über die Sondersiedlungen für Deutsche” wurde den Deutschen wegen der auch dann noch behaupteten „Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht während des Großen Vaterländischen Krieges” Amnestie gewährt. Erst das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 29. August 1964 sprach die Sowjetdeutschen von der Anschuldigung frei, „den faschistischen Landräubern aktive Hilfe und Vorschub geleistet zu haben” und erklärte, daß „diese wahllos erhobenen Anschuldigungen unbegründet und ein Ausdruck der Willkür unter den Bedingungen des Personenkults Stalins waren” (Alfred Bohmann, Sowjetische Nationalitätenpolitik und deutsches Volkstum in der UdSSR, in: Menschenrechte, Volksgruppen, Regionalismus, Festgabe für Prof. Dr. Th. Veiter, hrsg von Franz Hieronymus Riedl, 1982). Selbst unterstellt, die sowjetischen Behörden hätten die Ausreise gerade der Deutschen, darunter der Klägerin, sabotiert – was etwa auch durch schlichte administrative, sehr einschränkende Handhabung der Ausreiseerlaubnis und entsprechenden Paßerteilung hätte geschehen können –, wäre das nur dann eine „feindliche Maßnahme” iS des § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO gewesen, wenn dieses Verhalten gegen Rechte der Deutschen sowjetischer Staatsangehörigkeit verstoßen hätte (also nicht nur ein allgemeines Ausreiseverbot dargestellt hätte) und über die in der Sowjetunion allgemein beklagte Willkür und den Mangel an Rechtsstaatlichkeit, dem alle unterlagen, hinausgegangen wäre. Das kann zwar so gewesen sein. Im Falle der Klägerin ist dazu aber nichts festgestellt oder auch nur vorgetragen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174198 |
SozSi 1997, 74 |