Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung – Übergangsleistung – Beendigung des Arbeitsverhältnisses – betrieblicher Grund – Kündigung – Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Versicherter, für den die Gefahr besteht, daß eine Berufskrankheit entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, gibt die gefährdende Tätigkeit nicht auf, wenn er sich nach einer betriebsbedingten Kündigung arbeitslos meldet und Arbeitslosengeld bezieht.
2. Die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit kann jedoch darin liegen, daß der Arbeitslose trotz Bestehens einer realisierbaren Möglichkeit, wieder entsprechend beschäftigt zu werden, eine ihn nicht gefährdende Tätigkeit aufnimmt.
Stand: 17. April 2001
Normenkette
BKV § 3 Abs. 2; SGB III § 117 Abs. 1 Nr. 1, § 118 Abs. 1, § 119
Beteiligte
Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. November 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) an die Klägerin zu erbringen hat.
Die im Jahre 1966 geborene Klägerin absolvierte ab August 1983 eine dreijährige Lehre als Fahrzeuglackiererin und war anschließend in diesem Beruf bei der Firma P. in W. beschäftigt. Als ihr dort wegen Arbeitsmangels zum 31. Januar 1992 gekündigt wurde, wechselte sie unter Beibehaltung ihrer beruflichen Tätigkeit am 1. Februar 1992 zur Firma M. in A.. Vom 2. Mai bis 9. Juni 1993 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Als sie in diesem Zeitraum von ihrer Arbeitgeberin die Kündigung wegen Arbeitsmangels erhielt und hiergegen vor dem Arbeitsgericht klagte, wurde das inzwischen wegen Firmenübergangs zum 1. Juni 1993 zwischen ihr und der Firma Auto S. bestehende Arbeitsverhältnis durch gerichtlichen Vergleich zum 22. Juni 1993 beendet, bis zu welchem Zeitpunkt sie Urlaub nahm. Am 5. Juli 1993 meldete sie sich beim Arbeitsamt arbeitslos und bezog anschließend Arbeitslosengeld. Am 16. August 1993 beantragte sie beim Arbeitsamt die erforderlichen Leistungen für ihre berufliche Rehabilitation. Ihr behandelnder Arzt, der Internist Dr. H., begründete den Antrag mit Attest vom 7. Juli 1993 damit, die Klägerin leide an einer leichtgradigen chronisch – obstruktiven Lungenerkrankung, die sich zu einer schweren chronischen Lungenerkrankung entwickeln könne, wenn sie sich weiterhin den bei Lackierarbeiten freigesetzten Partikeln und Dämpfen aussetzen sollte. Nachdem der Rehabilitationsantrag an die Beklagte weitergeleitet worden war, führte diese Ermittlungen durch, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit (BK) vorliege. Vor Abschluß der Ermittlungen, in deren Verlauf die Klägerin angab, die Atemnot habe sich bei ihr erstmals im Jahre 1989 bemerkbar gemacht, nahm sie ab September 1994 eine Beschäftigung als Verkäuferin für Autozubehör in einem Baumarkt bei einem Arbeitsentgelt auf, das nach ihren Angaben 400 DM bis 500 DM unter dem des früheren Berufs lag. Mit Bescheid vom 27. November 1995 und Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1996 lehnte die Beklagte mangels Vorliegens einer BK die Erbringung von Entschädigungsleistungen für die Atemwegserkrankung der Klägerin ab und verneinte auch die medizinische Notwendigkeit von Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKVO.
Das Sozialgericht (SG) hat der zuletzt auf Zahlung von Übergangsleistungen beschränkten Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 23. Juni 1993 Übergangsleistungen aufgrund der bei ihr drohenden Gefahr einer BK nach der Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO zu gewähren (Urteil vom 6. Mai 1998). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17. November 1999). Aufgrund der Angaben der Klägerin, des Berichts ihres behandelnden Arztes Dr. H. sowie der Gutachten der Sachverständigen Dr. W. und Prof. Dr. W. habe zu seiner Überzeugung für die Klägerin die konkrete Gefahr bestanden, daß sich die im Jahre 1993 nachgewiesene unspezifische bronchiale Hyperreagibilität bei fortgesetztem Kontakt zu chemisch-irritativen oder toxisch wirkenden Arbeitsstoffen des Autolackiererberufs zu einer obstruktiven Atemwegserkrankung und damit zu einer BK nach Nr 4302 entwickeln würde. Angesichts dessen habe für sie nach Erkrankungsbeginn im März 1991 und kontinuierlicher Behandlung durch den behandelnden Arzt Mitte 1993 der medizinisch begründete objektive Zwang bestanden, den erlernten Beruf wegen ihres Atemleidens aufzugeben. Dieser Zwang sei auch wesentlich (mit)ursächlich dafür gewesen, daß sich die Klägerin von dem erlernten Beruf ab- und einem neuen Beruf als Verkäuferin für Autoteile in einem Baumarkt zugewandt habe. Sie habe hierzu sowohl vor dem SG als auch vor dem LSG erklärt, daß sie sich auf Anraten der behandelnden Ärzte und des Arbeitsamtes nach Erhalt der Kündigung beruflich umorientiert und keine neue Tätigkeit als Autolackiererin gesucht habe. Die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens, sich vom erlernten Beruf abzuwenden, werde nicht zuletzt dadurch deutlich, daß sie die neue Stelle trotz einer erheblichen Lohneinbuße angetreten habe. Wären nicht gesundheitliche Gründe hierfür ausschlaggebend gewesen, hätte sie versucht, im besser dotierten Autolackiererberuf wieder Fuß zu fassen. Die betriebsbedingte Kündigung bzw Aufhebung des Arbeitsvertrages zur Firma Auto S. zum 22. Juni 1993 sei danach bloß der Anlaß für sie gewesen, aus dem erlernten Beruf auszuscheiden. Der wesentliche Grund für die Aufgabe der Lackierertätigkeit habe vielmehr im damals objektiv bestehenden Zwang gelegen, den für ihre Gesundheit schädlichen und ihre Atemwege belastenden Beruf auf Dauer aufzugeben und sich beruflich neu zu orientieren, was ihr behandelnde Ärzte und Arbeitsamtsärzte geraten hätten und was sie in Kenntnis der zunehmenden Verschlimmerung des Atemwegsleidens seit dem Jahr 1989 auch vollzogen habe.
Das von der Beklagten herangezogene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. März 1994 (BSG SozR 3-5670 § 3 Nr 1) rechtfertige keine andere Entscheidung. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sei bei den als BKen anerkannten Hautleiden (Nr 46 der Anlage 1 zur 7. BKVO – jetzt BK Nr 5101) zum dort ebenfalls als Tatbestandsvoraussetzung normierten Unterlassungszwang anerkannt, daß es entscheidend darauf ankomme, daß der Zwang zur Aufgabe der Beschäftigung objektiv bestehe und diese auch tatsächlich aufgegeben werde. Der Versicherte müsse nicht in dem Bewußtsein handeln, daß die Krankheit entsprechend schwer sei und den Willen haben, wegen dieser Krankheit die Beschäftigung aufzugeben. Das Merkmal des Zwanges zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung habe ferner den Zweck, ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge einer erhöhten Entschädigung zu verhüten. Auch für die Zweckerfüllung sei entscheidend, daß die wegen der berufsbedingten Erkrankung objektiv notwendige Aufgabe der Beschäftigung tatsächlich verwirklicht sei, ohne daß es auf den Beweggrund der Versicherten für die tatsächliche Aufgabe ankomme. Der genannten Entscheidung vom 10. Juni 1994 sei nicht zu entnehmen, daß das BSG diese langjährige Rechtsprechung habe aufgeben wollen. Auch würde es Sinn und Zweck der Regelung des § 3 Abs 2 BKVO widersprechen, in Fällen wie dem der Klägerin die Gewährung einer Übergangsleistung abzulehnen. Denn mit der Übergangsleistung habe der Gesetzgeber in erster Linie eine Regelung zur Prävention und Krankheitsvorsorge geschaffen, um die Versicherten zur Aufgabe der sie gefährdenden Tätigkeit zu veranlassen. Alle nach § 3 BKVO zu gewährenden Maßnahmen und Leistungen dienten diesem präventiven Ziel.
In seiner Rechtsprechung zum Unterlassungszwang bei BKen habe das BSG (beispielsweise BSGE 56, 94) dargelegt, daß es unbillig wäre, bei einem Versicherten, der an einer berufsbedingten schweren oder wiederholt rückfälligen Krankheit leide, aber vor Meldung oder der oft langwierigen Feststellung als BK die Beschäftigung wegen einer Kündigung des Arbeitgebers, aus Altersgründen oder aus anderen willensunabhängigen Umständen verloren habe, den objektiven Zwang nicht mehr als vorhanden anzusehen und eine BK zu verneinen. Angesichts dessen sei es nicht geboten, bei einem Versicherten, der durch seine versicherte Tätigkeit an einer schweren oder wiederholt rückfälligen Berufserkrankung leide, eine BK nur deshalb zu verneinen, weil er vor Feststellung der Krankheit als BK einen für ihn günstigen Wechsel der Beschäftigung durchgeführt und dies auch unabhängig von der Hauterkrankung getan hätte. In gleicher Weise sei es unbillig, der Klägerin die Gewährung einer Übergangsleistung zu versagen, obwohl sie in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Kündigung wegen Arbeitsmangels den Entschluß gefaßt habe, den Beruf zu wechseln, um die Verschlimmerung eines Leidens hin zu einer BK zu vermeiden.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 3 Abs 2 BKVO. Voraussetzungen für einen Anspruch auf Übergangsleistungen nach dieser Vorschrift seien die konkret individuelle Gefahr der Entstehung, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer BK, das Einstellen der gefährdenden Tätigkeit, der Ursachenzusammenhang zwischen der drohenden BK und dem Einstellen der gefährdenden Tätigkeit sowie ein weiterer Ursachenzusammenhang zwischen der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit und einem Minderverdienst und/oder sonstigen wirtschaftlichen Nachteilen. § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO erfordere somit einen doppelten Kausalzusammenhang, zum einen zwischen der hier drohenden BK und der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit und zum anderen auch zwischen der Tätigkeitsaufgabe und dem Minderverdienst. Bei der Klägerin fehle es an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der drohenden BK und der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit. Ursächlich für die Tätigkeitsaufgabe sei nämlich die betriebsbedingte Kündigung der Firma M., die noch während der berufsunabhängigen Erkrankung der Klägerin erfolgt sei, und nicht ihr erst zeitlich später getroffener Entschluß gewesen, eine andere Tätigkeit außerhalb ihres erlernten Berufes aufzunehmen. Der objektive Zwang zur Tätigkeitsaufgabe in Verbindung mit dem zeitlich danach gefaßten Entschluß, keine neue Lackierertätigkeit aufzunehmen, reiche bei § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO nicht aus, den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Einstellen der Tätigkeit und der drohenden BK herzustellen. Darüber hinaus seien die Leistungsvoraussetzungen auch dann nicht erfüllt, wenn der Versicherte seine objektiv gefährdende Tätigkeit aufgrund rechtlich wesentlich nicht krankheitsbedingter sonstiger Umstände (hier: betriebsbedingte Kündigung) aufgebe, er jedoch wegen der Gefahr der Entstehung einer BK eine schlechter bezahlte andere Tätigkeit aufnehme. Soweit hierzu in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten werde, es reiche für die Kausalität zwischen Tätigkeitsaufgabe und drohender BK aus, daß objektiv ein Zwang zum Unterlassen der gefährdenden Tätigkeit vorliege und es somit auf subjektive Beweggründe oder sonstige willensunabhängige Umstände nicht ankomme, sei dies zum Teil in sich widersprüchlich und überzeuge nicht. So werde auch dort darauf abgestellt, daß im Falle einer Kündigung diese zumindest wesentlich (mit)ursächlich auf die drohende BK zurückzuführen sein müsse. Im vorliegenden Fall habe aber die Klägerin ihrem Arbeitgeber nichts von den Atembeschwerden mitgeteilt. Die Kündigung sei vielmehr wegen Arbeitsmangels und somit allein aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochen worden. Die drohende BK bzw die Atembeschwerden der Klägerin seien hierfür nicht einmal teilursächlich gewesen.
Auch auf die Rechtsprechung des BSG zur BK Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO könne die Auffassung des LSG nicht gestützt werden. Soweit es auf die ständige Rechtsprechung des BSG verweise, verkenne es zum einen den unterschiedlichen Wortlaut des § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO und der BK Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO, wie auch den unterschiedlichen Sinn und Zweck beider Rechtsnormen. In der vom LSG zur Begründung seiner Auffassung insbesondere genannten Entscheidung vom 8. Dezember 1983 (BSGE 56, 94) habe das BSG zum Sinn und Zweck des tätigkeitsbezogenen Merkmals „objektiver Zwang” ausgeführt, durch dieses werde in typisierender Weise der Schweregrad der Krankheit beschrieben, was nicht dadurch in Frage gestellt werde, daß der subjektive Beweggrund zur tatsächlichen Aufgabe ein anderer sei. Ferner habe das Merkmal „objektiver Zwang” im Rahmen der BK Nr 5101 auch den Zweck, einen Verbleib des Versicherten auf dem gefährdenden Arbeitsplatz und somit eine zumindest mögliche Verschlimmerung der Krankheit zu verhindern. Dies sei jedoch letztlich nicht der im Vordergrund stehende Zweck dieser Vorschrift. Anders als in § 3 Abs 2 BKVO gehe es bei den Tatbeständen der Berufskrankheitenliste, die den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten voraussetzten, in erster Linie um die Entschädigung (BSG aaO).
Bei den Übergangsleistungen handele es sich aber gerade nicht um echte Entschädigungsleistungen. Vielmehr stehe die Anreizfunktion im Vordergrund, die gefährdende Tätigkeit einzustellen. Dieser unterschiedliche Sinn und Zweck werde vom LSG verkannt. Es könne für den Ursachenzusammenhang nicht darauf ankommen, wie der Unfallversicherungsträger hätte tätig werden müssen, wenn er die Gefahr vor Tätigkeitsaufgabe erkannt hätte.
Weiter überzeuge es nicht, wenn das LSG ausführe, der Entscheidung des BSG vom 10. März 1994 (SozR 3-5670 § 3 BKVO Nr 1) sei nicht zu entnehmen, daß es die langjährige Rechtsprechung zur BK Nr 5101 aufzugeben gedenke. In diesem Urteil heiße es, daß es insbesondere fraglich sei, ob der Minderverdienst ursächlich auf die BK zurückzuführen sei und nicht, daß allein dies fraglich gewesen sei. Auch die weitere Formulierung, daß diese Fragen, also nicht lediglich nur die eine Frage nach dem Kausalzusammenhang zwischen betriebsbedingter Kündigung und Minderverdienst, offengelassen werden könnten, spreche gegen die Auslegung durch das LSG. Auch wenn das BSG in dem vorgenannten Urteil insofern keine Entscheidung getroffen habe, sprächen doch die dort enthaltenen Ausführungen für die Rechtsauffassung der Revision. Diese sehe sich in ihrer Auffassung letztlich auch durch die Entscheidung des BSG vom 22. August 1975 (BSGE 40, 146 ff) bestätigt. Die hier von ihr vertretene Auffassung werde auch durch weitere Literatur gestützt.
Selbst wenn man den ersten Kausalzusammenhang bejahen würde, so wäre der weitere ursächliche Zusammenhang zwischen der Tätigkeitsaufgabe und dem Minderverdienst jedenfalls nicht gegeben. Der durch die am 22. Juni 1993 eingetretene Arbeitslosigkeit verursachte Minderverdienst sei unabhängig von der Frage des ersten Kausalzusammenhangs eindeutig nicht durch die drohende BK, sondern durch die vorausgegangene betriebsbedingte Kündigung eingetreten. Zu der Frage, ob und wann die Klägerin in ihrem alten Beruf wieder eine Tätigkeit gefunden hätte, somit die weitere Arbeitslosigkeit durch die gesundheitlichen Bedenken der Versicherten nunmehr im ursächlichen Zusammenhang mit der drohenden BK hätte stehen können, habe das LSG aber keine Feststellungen getroffen, obwohl es sich gerade aufgrund seiner Rechtsauffassung zum ersten Ursachenzusammenhang hätte gedrängt fühlen müssen, entsprechende Ermittlungen durchzuführen. Indes habe es ohne weitere Prüfung den zweiten Kausalzusammenhang zwischen Tätigkeitsaufgabe und Minderverdienst unterstellt. Hierin liege ein Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG), zumindest aber gegen § 128 Abs 1 SGG vor, da aus dem Urteil nicht hervorgehe, wie das LSG zu dieser Überzeugung gekommen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. November 1999 und das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 6. Mai 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die Feststellungen im Berufungsurteil reichen nicht aus, um abschließend über den Anspruch der Klägerin auf Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKVO zu entscheiden.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach § 3 Abs 2 der BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721), zuletzt geändert durch Art 1 der Verordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343). Die BKVO ist zwar durch § 8 Abs 2 Nr 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vom 31. Oktober 1997 (BGBl I 2623) mit Wirkung vom 1. Dezember 1997 aufgehoben und durch die BKV ersetzt worden. Da die BKV ihre Ermächtigungsgrundlage in § 9 Abs 1 und 6 und § 193 Abs 8 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) hat und diese Gesetzesvorschriften gemäß § 212 SGB VII für vor dem Inkrafttreten des SGB VII (1. Januar 1997) eingetretene Versicherungsfälle nicht gelten, kann die BKV – abgesehen von der dort getroffenen Sonderregelung des § 6 BKV – auch keine Regelungen über vor ihrem Inkrafttreten eingetretene berufsbedingte Erkrankungen treffen, die (noch) keine BKen sind.
Nach Satz 1 des § 3 Abs 2 BKVO hat der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung einem Versicherten, der die gefährdende Tätigkeit einstellt, weil die Gefahr, daß eine BK entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, für ihn nicht zu beseitigen ist, zum Ausgleich der hierdurch verursachten Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile eine Übergangsleistung zu gewähren. Nach Satz 2 wird als Übergangsleistung ein einmaliger Betrag bis zur Höhe der Jahresvollrente oder eine monatlich wiederkehrende Zahlung bis zur Höhe der Vollrente, längstens für die Dauer von fünf Jahren, gewährt. Auf die Übergangsleistung besteht dem Grunde nach ein Anspruch des Versicherten, wenn die rechtlichen Voraussetzungen des § 3 Abs 2 BKVO gegeben sind. Dagegen steht die Entscheidung über Art, Dauer und Höhe der Leistung im pflichtgemäßen Ermessen des Unfallversicherungsträgers (BSGE 78, 261, 262 = SozR 3-5670 § 3 Nr 2 mwN).
Erste Voraussetzung für den Anspruch nach § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO ist das Bestehen einer konkret individuellen Gefahr (Brackmann/Krasney, SGB VII, 12. Aufl, § 9 RdNr 64 mwN) der Entstehung, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer BK. Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin erfüllt. Das LSG hat hierzu im angefochtenen Urteil festgestellt, daß bei ihr infolge einer beruflichen Schadstoffeinwirkung die individuelle konkrete Gefahr bestand, an einer BK nach Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO, nämlich an einer durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachten obstruktiven Atemwegserkrankung, zu erkranken. Diese Feststellung ist mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen worden und daher gemäß § 163 SGG für den Senat bindend. Die als zweite Voraussetzung für den Anspruch auf Übergangsgeld erforderliche Einstellung der gefährdenden Tätigkeit ist auch gegeben; denn den auch insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß die Klägerin ihre erlernte Tätigkeit als Autolackiererin auf Dauer eingestellt hat.
Des weiteren setzt § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO einen doppelten Kausalzusammenhang voraus: Es muß ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang einerseits zwischen der drohenden BK und der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit und andererseits zwischen dieser Einstellung und der Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile bestehen (BSGE 40, 146, 149 = SozR 5677 § 3 Nr 1; Beschluß des Senats vom 4. Oktober 1996 – 2 BU 186/96 – HVBG-Info 1997, 952; Benz BG 1988, 596 mwN). Zu dem ersten Zusammenhang vertritt das LSG die Auffassung, es genüge, wenn der Zwang zur Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit objektiv bestehe und die Tätigkeit auch tatsächlich aufgegeben werde. Zur Begründung dieser Auffassung zieht es die Rechtsprechung des BSG zur BK Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO (BSGE 56, 94 = SozR 5677 Anl 1 Nr 46 Nr 12) heran. Dieser Auffassung des LSG kann der Senat jedenfalls nicht für die Fälle folgen, in denen – wie hier – eine BK noch nicht entstanden ist. In der genannten Rechtsprechung ist der in der Definition der BK Nr 5101 enthaltene Begriff „zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben” dahingehend ausgelegt worden, daß durch dieses Merkmal des Zwanges zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung als zusätzliche Voraussetzung einer BK in typisierender Weise der Schweregrad der Krankheit beschrieben wird und daß sich dieser ua aus dem objektiven Zwang zur Aufgabe der Beschäftigung ergibt und nicht dadurch in Frage gestellt wird, daß der subjektive Beweggrund des Versicherten zur tatsächlichen Aufgabe der beruflichen Beschäftigung ein anderer ist (BSGE aaO, S 97). Abgesehen davon, daß § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO in diesem Zusammenhang eine andere Formulierung („weil die Gefahr für ihn nicht zu beseitigen ist”) enthält als die BK Nr 5101, kann jedenfalls bei einer noch nicht entstandenen BK nicht angenommen werden, mit dem Erfordernis der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit in § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO werde in typisierender Weise der Schweregrad der Krankheit beschrieben. Hinzu kommt, daß es sich bei der genannten Rechtsprechung um die Entschädigung des Versicherten ging, während bei § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO der Anreiz, die gefährdende Tätigkeit einzustellen, im Vordergrund steht (BSGE 40, 146, 150 = SozR 5677 § 3 Nr 1; BSGE 50, 40, 42 = SozR 5677 § 3 Nr 2; BSG Urteil vom 29. August 1980 – 8a RU 6/80 – HVBG RdSchr VB 281/80; BSGE 78, 261, 264 = SozR 3-5670 § 3 Nr 2). Diese Anreizfunktion ist aber in erster Linie auf das subjektive Reagieren des betreffenden Versicherten ausgerichtet. Sie wirkt sich in den Fällen nicht aus, in denen die betreffenden Versicherten die gefährdende Tätigkeit aus Beweggründen aufgeben, die in keinem Zusammenhang mit der Gefahr stehen, durch diese Tätigkeit an einer BK zu erkranken. Die in der Anreizfunktion liegende Zweckbestimmung des § 3 Abs 2 BKVO setzt daher im Regelfall voraus, daß der berufsbedingt erkrankte Versicherte die gefährdete Tätigkeit aufgibt, um der Gefahr, an einer BK zu erkranken, zu entgehen. Soweit solche Beweggründe bei Einstellung der Tätigkeit nicht vorliegen, muß die erforderliche Kausalität zwischen der Einstellung und der Gefahr auf andere Weise nachgewiesen sein. So kann eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, die wesentlich durch die drohende BK bedingt ist, den Kausalitätserfordernissen des § 3 Abs 2 BKVO entsprechen (vgl Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung, G § 3 RdNr 5.1), und zwar auch dann, wenn der betreffende versicherte Arbeitnehmer auf dem gefährdenden Arbeitsplatz verbleiben möchte. Andererseits ist die Kausalität zu verneinen, wenn ein von einer BK bedrohter Arbeitnehmer die gefährdende Tätigkeit allein wegen seines schlechten sonstigen Gesundheitszustandes aufgibt (vgl Beschluß des Senats vom 4. Oktober 1996 – 2 BU 186/96 – HVBG-Info 1997, 952).
Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 10. März 1994 (SozR 3-5670 § 3 Nr 1) angedeutet hat, kann die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses allein aus betrieblichen Gründen für sich genommen das Kausalitätserfordernis des § 3 Abs 2 BKVO zwischen Gefahr und Einstellung der Tätigkeit nicht erfüllen, auch wenn bei bestehender drohender BK ein gefährdender Arbeitsplatz aufgegeben wird. Dies zeigt sich schon daran, daß die betriebsbedingte Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, sei es durch Kündigung oder Vereinbarung, jedenfalls dann nicht die von der Vorschrift vorausgesetzte dauerhafte Einstellung der gefährdenden Tätigkeit beinhaltet, wenn der betreffende Versicherte arbeitslos wird und – wie hier – Arbeitslosengeld bezieht. Denn der Bezug von Arbeitslosengeld setzt ua voraus, daß der Versicherte nur vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, eine Beschäftigung sucht sowie arbeitsfähig und arbeitsbereit ist (vgl § 117 Abs 1 Nr 1 iVm § 118 Abs 1 und § 119 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB III≫). Folgt demnach auf eine betriebsbedingte Beendigung eine Arbeitslosigkeit mit Arbeitslosengeldbezug, ist im Regelfall zu erwarten, daß die bloß zeitweilige Abwesenheit von einem gefährdenden Arbeitsplatz durch Aufnahme der entsprechenden beruflichen Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber beendet wird. Eine solche bloße Unterbrechung der gefährdenden Tätigkeit stellt kein Einstellen iS des § 3 Abs 2 BKVO dar.
Gleichwohl hat die Klägerin ihre gefährdende Tätigkeit wegen der Gefahr, an einer BK zu erkranken, iS des § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO auf Dauer eingestellt. Eine solche Einstellung kann nämlich auch dadurch vorgenommen werden, daß man sich während einer vorübergehenden Unterbrechung der gefährdenden Tätigkeit entschließt, diese für immer aufzugeben. Das ist allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Zunächst muß der Entschluß, wegen der drohenden BK auf Dauer keine Arbeit mehr auf einem gefährdenden Arbeitsplatz zu verrichten, nach außen hin klar erkennbar sein, etwa in einer eindeutigen Willenserklärung gegenüber dem Arbeitsamt. Sodann muß tatsächlich noch die freie Wahl zwischen einem gefährdenden und einem gesundheitlich unbedenklichen Arbeitplatz bestehen. Dies setzt wiederum voraus, daß ein dem verlassenen gefährdenden Arbeitsplatz entsprechender auf dem Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung steht und der Versicherte auch persönlich noch in der Lage wäre, die Anforderungen eines solchen gefährdenden Arbeitsplatzes zu erfüllen. Schließlich muß die Entscheidung, keine gefährdende Tätigkeit mehr zu verrichten, durch das spätere Verhalten des Versicherten bestätigt werden, indem er etwa eine Beschäftigung aufnimmt, die für ihn nicht mit der Gefahr verbunden ist, an der drohenden BK zu erkranken.
Bei der Klägerin sind die genannten Voraussetzungen erfüllt. Das LSG hat hierzu bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß sie dem Arbeitsamt und der Beklagten gegenüber hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, ihre erlernte berufliche Tätigkeit als Autolackiererin wegen der drohenden BK endgültig aufzugeben, daß diese Absicht durch die Aufnahme einer anderen Beschäftigung als der des erlernten Berufs bestätigt worden ist und daß sie ohne weiteres die Möglichkeit gehabt hätte, ihren erlernten Beruf bei einem anderen Arbeitgeber wieder aufzunehmen. Die Entscheidung der Klägerin, die gefährdende Tätigkeit aufzugeben, fällt jedoch zeitlich nicht – wie das LSG von seinem Rechtsstandpunkt folgerichtig meint – mit dem ersten Tag ihrer Arbeitslosigkeit (23. Juni 1993) zusammen. Den Feststellungen des LSG sind insoweit keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die Klägerin bereits in diesem Zeitpunkt klar zu erkennen gegeben hat, eine Beschäftigung als Autolackiererin nicht wieder aufzunehmen. Entsprechendes gilt auch für den Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung (5. Juli 1993). Erst mit ihrem am 16. August 1993 beim Arbeitsamt gestellten Antrag auf berufliche Rehabilitation hat die Klägerin hinreichend deutlich gemacht, daß sie wegen einer drohenden BK nicht wieder in ihrem erlernten Beruf beschäftigt werden wollte und über Maßnahmen der Rehabilitation eine andere Tätigkeit anstrebt. Ein Anspruch auf Übergangsleistungen kann daher erst an diesem Tage entstanden sein.
Ob im Rahmen des genannten doppelten Kausalzusammenhangs auch ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit und einer Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile besteht, kann der Senat mangels geeigneter Feststellungen nicht entscheiden. Soweit es um eine Verdienstminderung nach Aufnahme der neuen Beschäftigung im September 1994 geht, fehlt es bereits – wie die Revision zu Recht rügt – an Feststellungen über die Höhe des Arbeitsentgelts. Die bloße Wiedergabe im angefochtenen Urteil von Ausführungen der Klägerin darüber, daß der Unterschiedsbetrag zwischen dem früheren und dem jetzigen Arbeitsentgelt etwa 400 DM bis 500 DM betrage, enthält keine für das Revisionsgericht verwertbare Feststellung. Auch hat das LSG nicht die Höhe des Arbeitsentgelts festgestellt, das zum Vergleich herangezogen werden muß, nämlich das, welches die Klägerin verdient hätte, wenn sie ihre Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer Beschäftigung in ihrer erlernten Tätigkeit beendet hätte. Hierzu wäre der entsprechende Tariflohn oder gegebenenfalls der ortsübliche Lohn heranzuziehen, den eine Autolackiererin im damaligen Alter der Klägerin erhalten hätte. Soweit der Zeitraum zwischen der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit (16. August 1993) und dem der Aufnahme der Beschäftigung als Verkäuferin (1. September 1994) betroffen ist, fehlt im Berufungsurteil jegliche Feststellung zu einem möglichen Minderverdienst. Bei der Nachholung der erforderlichen Feststellungen wird das LSG zu berücksichtigen haben, daß sich das Arbeitslosengeld iS eines Minderverdienstes nur heranziehen läßt, soweit die Arbeitslosigkeit durch die Einstellung der gefährdenden Tätigkeit verursacht worden ist. Hierunter kann nicht der Zeitraum der Arbeitslosigkeit fallen, in welchem die Klägerin auch nicht auf eine Stelle als Autolackiererin hätte vermittelt werden können. Denn das für diesen Zeitraum auf der Grundlage des früheren Arbeitsentgelts errechnete Arbeitslosengeld (vgl §§ 129, 130 SGB III) kann nicht Folge der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit sein. Entsprechendes gilt für andere Entgeltersatzleistungen (vgl § 116 SGB III), welche die Bundesanstalt für Arbeit im Zeitraum vom 23. Juni 1993 bis zum 31. August 1994 möglicherweise an die Klägerin erbracht hat. Das LSG wird nunmehr die fehlenden Feststellungen zu einem etwaigen Minderverdienst der Klägerin nachzuholen und unter Beachtung der hier festgelegten Grundsätze neu zu entscheiden haben.
Auf die Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen
NZS 2001, 499 |
SozR 3-5670 § 3, Nr. 5 |
NJOZ 2001, 807 |
SozSi 2003, 397 |