Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Verneinung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung. Verweisungstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Verneinung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung kann die Feststellung genügen, daß dem Versicherten noch bestimmte Arten körperlicher Verrichtungen (zB Sortieren, Montieren) möglich sind, wenn diese in einem hinreichend großen Arbeitsfeld gefordert werden.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02, § 44 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02; SGG § 103
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. November 1994 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch im Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1935 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er hat keine Berufsausbildung abgeschlossen. Seit 1970 war er in der Bundesrepublik versicherungspflichtig beschäftigt, und zwar als Bauarbeiter, Totengräber, Müllwerker und Gartenhelfer. Zuletzt arbeitete er im Jahre 1991 als Bauwerker. Bereits seit 1984 bezog er überwiegend Arbeitslosengeld, Krankengeld, Übergangsgeld und Arbeitslosenhilfe.
Im Oktober 1992 beantragte der Kläger bei der Beklagten Versicherungsleistungen wegen EU/BU. Mit Bescheid vom 8. März 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1993 lehnte die Beklagte eine Rentengewährung mit der Begründung ab, daß der Kläger – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – noch vollschichtig leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts Augsburg ≪SG≫ vom 17. Februar 1994 und des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 10. November 1994). Das LSG hat seine Entscheidung – unter teilweiser Bezugnahme auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils – im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger sei nicht berufsunfähig und damit erst recht nicht erwerbsunfähig. Zwar könne er seinen bisherigen Beruf als Bauwerker nicht mehr ausüben, da Hilfsarbeiten am Bau (Lohngruppe VII des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe) die Fähigkeit auch zu schweren Arbeiten erforderten und der Kläger hierüber nicht mehr verfüge. Er sei aber trotz seiner Gesundheitsstörungen in der Lage, leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, zu ebener Erde (ohne häufiges Treppen- und Leiternsteigen), in geschlossenen Räumen (ohne Einwirkung von Kälte, starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe) sowie ohne Zwangshaltung, häufiges Bücken oder Überkopfarbeiten vollschichtig zu verrichten und deshalb mindestens die gesetzliche „Lohnhälfte” zu erzielen. Leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie die eines Sortierers, Montierers oder Maschinenarbeiters seien möglich.
Bei der Beurteilung der BU/EU dürften die Sprachschwierigkeiten des Klägers nicht berücksichtigt werden. Denn sonst wäre in der Rentenversicherung etwas versichert, was weder gesundheitlich bedingt noch mit der bisherigen Berufstätigkeit zwangsläufig verbunden sei. Dem Versicherungsträger dürften aber nicht sachfremde Risiken aufgebürdet werden. Beim Kläger sei daher von den Sprachkenntnissen auszugehen, über die ein nach Bildungsgrad, Alter und beruflichem Werdegang vergleichbarer deutscher Versicherter verfüge.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision trägt der Kläger im wesentlichen vor: Entgegen der Auffassung des LSG könne bei Arbeitern, deren Leistungsvermögen erheblich eingeschränkt sei, auf die Benennung von konkreten Verweisungstätigkeiten nicht verzichtet werden. Bei diesen könne man sonst nicht mehr sicher sein, daß es auf dem Arbeitsmarkt einen entsprechenden Arbeitsplatz gebe. Deshalb sei in allen Fällen, in denen Versicherte ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben könnten und auch sonst nur noch über ein eingeschränktes Restleistungsvermögen verfügten, die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich. Das SG habe zwar einzelne Arbeiten und Arbeitsvorgänge bezeichnet, die er noch leisten könnte (Sortieren, Montieren, Maschinenarbeit). Das reiche aber nicht aus. Die Bezeichnung einzelner Tätigkeiten sei keine Benennung eines Berufs- oder Arbeitsplatzes, der nicht nur in geringer Zahl vorkomme. Erforderlich sei vielmehr eine typisierende Beschreibung des Arbeitsinhaltes, aus der sich erkennen lasse, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten gestellt würden. Diesen Konkretisierungsanforderungen sei das LSG nicht gerecht geworden. Im übrigen sei ihm der Arbeitsmarkt verschlossen. Es gebe gute Gründe dafür, den in den Entscheidungen des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139) zusammengestellten Katalog zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu erweitern. Dabei komme es zum einen auf das Alter des Versicherten und zum anderen auf erfolglose Vermittlungsbemühungen an.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. November 1994 und des Sozialgerichts Augsburg vom 17. Februar 1994 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 8. März 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1993 zu verurteilen, ihm ab 1. November 1992 Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie macht ua geltend: In vergleichbaren Fällen habe der 5. Senat des BSG in mehreren Urteilen (Hinweis auf SozR 3-2200 § 1246 Nr 50) entschieden, daß sog ungelernte Arbeiter grundsätzlich auf jede erwerbswirtschaftliche Tätigkeitsart verweisbar seien, die keine formale Ausbildung erfordere. Ein Anlaß zur Benennung einer spezifischen Verweisungstätigkeit bestehe deshalb nicht, weil auf dem sog allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Zahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung stehe, daß das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich sei. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen sei die Benennung einer spezifischen Verweisungstätigkeit erforderlich. Diese Rechtsprechung sei durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch vom 2. Mai 1996 bestätigt worden. Durch die Aufnahme der Formulierung „dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen” in die §§ 43, 44 und 45 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei klargestellt worden, daß eine weitergehende Benennungspflicht bei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten nicht bestehe. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten die von der Rechtsprechung bisher eingeräumten Ausnahmen, in denen trotz vollschichtigen Leistungsvermögens mangels geeigneter Verweisungstätigkeit BU oder EU anzuerkennen gewesen sei, nicht angetastet werden. Dadurch sehe sie sich in ihrer Rechtsauffassung bestätigt, daß auch bei dem älteren, langzeitarbeitslosen Kläger, der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei, die Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das LSG hat einen Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu Recht verneint. Der Kläger ist weder berufs- noch erwerbsunfähig.
Berufsunfähig sind nach § 43 Abs 2 Sätze 1 und 2 SGB VI (zur Anwendbarkeit dieser Norm vgl § 300 Abs 1 und 2 SGB VI) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (vgl § 43 Abs 2 Satz 3 SGB VI). Erwerbsunfähig sind demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (vgl § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine selbständige Tätigkeit ausübt oder eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (vgl § 44 Abs 2 Satz 2 SGB VI).
Da der Versicherungsfall der EU an strengere Voraussetzungen geknüpft ist als derjenige der BU, ist es nicht zu beanstanden, daß das LSG zunächst geprüft hat, ob der Kläger berufsunfähig ist. Aus der Verneinung von BU folgt ohne weiteres das Fehlen von EU.
Ausgangspunkt für die Beurteilung von BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der „bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). Denn ein Versicherungsfall ist nicht eingetreten, so lange der Versicherte seinen bisherigen Beruf noch ohne wesentliche Einschränkungen weiter ausüben kann (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 126). In der Regel ergibt sich der bisherige Beruf eines Versicherten aus dessen letzter versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit, die auch dann maßgebend ist, wenn sie nur kurzfristig ausgeübt worden ist, aber zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164).
Gemessen an diesen Kriterien hat das LSG die vom Kläger zuletzt ausgeübte Beschäftigung als Bauwerker rechtsfehlerfrei als dessen bisherigen Beruf angesehen. Ferner hat es – von den Beteiligten unangegriffen – festgestellt, daß der Kläger diese körperlich schwere Arbeit aus Gesundheitsgründen nicht mehr verrichten kann. Damit ist der Kläger – wie auch die Vorinstanz zutreffend angenommen hat – noch nicht berufsunfähig, vielmehr hängt sein Rentenanspruch davon ab, ob es zumindest eine andere Tätigkeit gibt, die ihm sozial zumutbar ist und die er sowohl gesundheitlich als auch fachlich zu bewältigen vermag.
Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Prüfung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung gebildet worden, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufes haben. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion/besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildung von bis zu zwei Jahren und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufes in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufes, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 33). Grundsätzlich darf ein Versicherter im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf nur auf die nächstniedrigere Stufe verwiesen werden (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143; SozR 3-2200 § 1246 Nr 15).
Zwar hat das LSG den Kläger nicht ausdrücklich der Gruppe des Mehrstufenschemas mit dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters zugeordnet, eine entsprechende Bewertung ist jedoch dem Gesamtzusammenhang des Berufungsurteils mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen. Denn das LSG hat dazu festgestellt, daß der Kläger zum einen keinen Beruf erlernt und zum anderen als Bauwerker lediglich „Hilfsarbeiten am Bau” nach Lohngruppe VII des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe verrichtet habe. Folglich ist es revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden, daß der Kläger von der Vorinstanz ohne besonderen Berufsschutz auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen worden ist.
Was die Suche nach Verweisungstätigkeiten anbelangt, die den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen, so ist nach der jetzt vom Großen Senat des BSG (vgl zB den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 –, Umdr S 10 ff) bestätigten Rechtsprechung des BSG davon auszugehen, daß einem Versicherten grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen ist, die er noch ausüben kann. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie der Kläger – zwar nicht mehr zu körperlich schweren aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht allerdings dann, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Fall kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.
Im Hinblick darauf, daß der Große Senat des BSG die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 23. November 1994 – 13 RJ 19/93 – ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 in der Fassung des 2. SGB VI-ÄndG) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.
Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit der Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (GS 1-4/95) hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).
Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt dem Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.
„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf dessen betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl GS 2/95, Umdr S 19) vorausgesetzt hat.
Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.
Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.
Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.
Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall aus, um eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Das LSG hat nämlich durch Bezugnahme auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils festgestellt, daß der Kläger noch vollschichtig leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen, zu ebener Erde (ohne häufiges Treppen- und Leiternsteigen), in geschlossenen Räumen (ohne Einwirkung von Kälte, starken Temperaturschwankungen, Zugluft, Nässe), ohne Zwangshaltungen, häufiges Bücken oder Überkopfarbeiten verrichten könne; mit diesem Restleistungsvermögen seien ihm leichte Arbeiten, wie die eines Sortierers, Montierers oder Maschinenarbeiters möglich. Da gegen diese Tatsachenfeststellungen keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben worden sind, ist der erkennende Senat daran gebunden (vgl § 163 SGG).
Betrachtet man zunächst die beim Kläger vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen, so ergibt sich, daß sie ihrer Anzahl, Art und Schwere nach keine besonders eingehende Begründung zur Verneinung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung erfordern. In ihrer Mehrzahl erscheinen sie nämlich nicht als geeignet, das Feld körperlich leichter Arbeiten zusätzlich wesentlich einzuengen. Insbesondere ist der Ausschluß häufigen Bückens, Treppen- und Leiternsteigens, von Zwangshaltungen sowie Überkopfarbeiten bereits vom Begriff „leichte Tätigkeiten” umfaßt.
Darüber hinaus ist hier von Bedeutung, daß die Vorinstanz auf die Möglichkeit leichter Sortier-, Montier- und Maschinenarbeit hingewiesen hat. Zwar mag das LSG damit keine Verweisungstätigkeiten hinreichend konkret bezeichnet haben; immerhin sind damit jedoch für den Kläger geeignete Tätigkeitsfelder aufgezeigt worden. Dies wird den im vorliegenden Fall zu stellenden Begründungserfordernissen gerecht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Beurteilung, ob ein Versicherter erwerbsunfähig ist, wie der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl GS 2/95, Umdr S 11) betont hat, im Regelfall nicht nach Anforderungsprofilen einer oder mehrerer Berufstätigkeiten erfolgen muß. Es genügt vielmehr die Prüfung, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten körperliche Verrichtungen (zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw) erlaubt, wenn diese in einem hinreichend großen Arbeitsfeld gefordert zu werden pflegen.
Dementsprechend ist revisionsgerichtlich davon auszugehen, daß dem Kläger noch hinreichende Betätigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt offenstehen. Anhaltspunkte dafür, daß hier eine der vom BSG entwickelten Fallgruppen zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; zuletzt auch Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 – GS 1-4/95 –) vorliegen könnte, sind nicht ersichtlich.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom LSG erörterten Umstand, daß der Kläger die deutsche Sprache offenbar nur mangelhaft beherrscht. Unabhängig davon, ob eine Berücksichtigung derartiger Schwierigkeiten schon aus Rechtsgründen ausscheidet (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 9, 11), hat der Kläger nicht geltend gemacht, daß er aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse gehindert sei, die ihm noch zumutbaren leichten Sortier-, Montier- und Maschinenarbeiten zu bewältigen. Angesichts seiner langjährigen Erwerbstätigkeit in Deutschland liegt eine derartige Beeinträchtigung auch fern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
SozR 3-2600 § 43, Nr.17 |
SozSi 1998, 120 |