Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen. Arbeitslosengeld II. Überzahlung nach Aufhebung der Leistungsbewilligung. kein Ermessen
Leitsatz (amtlich)
Soweit in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht wurden und der Leistungsempfänger sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, hat das Jobcenter bei Erlass des Erstattungsverwaltungsakts kein Ermessen auszuüben.
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Erstattung von in der Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne Verwaltungsakt erbrachten Leistungen ist wegen der in § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II a.F. angeordneten entsprechenden Geltung des § 330 Abs. 2 SGB III eine Ermessensausübung nicht erforderlich.
Normenkette
SGB 2 § 40 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-12-24, S. 2 Nr. 1 Fassung: 2003-12-24; SGB 10 § 45 Abs. 1, 2 Sätze 1, 3 Nr. 3, § 50 Abs. 2 Sätze 1-2; SGB 3 § 330 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 2010 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Umstritten ist die Rückforderung einer Überzahlung, nachdem der Kläger zuvor Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten hatte.
Die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters (im Folgenden ebenfalls Beklagter) bewilligte dem Kläger Arbeitslosengeld II, einschließlich eines Zuschlags nach § 24 SGB II, ua vom 1.10.2007 bis 31.1.2008 in Höhe von 721,81 Euro pro Monat (Bewilligungsbescheid vom 5.9.2007). Nachdem die Deutsche Rentenversicherung Bund dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.7.2005 bewilligt hatte, hob der Beklagte diesen Bewilligungsbescheid ab 1.11.2007 auf (Aufhebungsbescheid vom 15.10.2007). Dennoch überwies der Beklagte in den Monaten November 2007 bis Januar 2008 jeweils 721,81 Euro auf das angegebene Konto des Klägers. Nachdem ihn der Kläger auf die Überzahlung hingewiesen hatte, forderte der Beklagte mit Erstattungsbescheid vom 10.1.2008 diese Leistungen in Höhe von 2165,43 Euro zurück.
Die vom Kläger nach dem erfolglosen Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 25.6.2008) erhobene Klage wurde vom Sozialgericht Freiburg (SG) abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 12.11.2009). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 28.4.2010) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Sozialgerichte seien für den Rechtsstreit zuständig, weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 51 Abs 1 Nr 4a Sozialgerichtsgesetz (SGG) handele. Der Erstattungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei formell rechtmäßig. Rechtsgrundlage sei § 50 Abs 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zwischen dem Kläger und dem Beklagten habe ein öffentlich-rechtliches Leistungsverhältnis bestanden, in dem Regelleistungen nach §§ 19, 20 SGB II gewährt worden seien. § 50 Abs 3 Satz 1 SGB X bestimme ausdrücklich, dass die zu erstattende Leistung durch Verwaltungsakt festzusetzen sei. Der Erstattungsbescheid sei auch materiell rechtmäßig, insofern werde auf den Gerichtsbescheid des SG gemäß § 153 Abs 2 Satz 1 SGG Bezug genommen. Danach seien nach § 50 Abs 2 Satz 1 SGB X auch solche Leistungen zu erstatten, die weiter gezahlt worden seien, obwohl der Leistungstatbestand weggefallen sei. Die Leistung sei von Anfang an rechtswidrig iS des § 45 SGB X gewesen und der Kläger könne sich nicht auf einen Vertrauensschutztatbestand iS des § 45 Abs 2 SGB X berufen, weil er aufgrund des Aufhebungsbescheides gewusst habe, dass ihm ab November 2007 keine Leistungen mehr zustanden. Da der Beklagte nach § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II, § 330 Abs 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) kein Ermessen gehabt habe, bleibe auch kein Raum für die Berücksichtigung von Mitverschulden des Beklagten. § 40 Abs 2 Satz 1 SGB II finde keine Beachtung, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vorliegen.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von §§ 50, 45 SGB X, insbesondere durch die Anwendung von § 330 Abs 2 SGB III. Er macht geltend, § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X ordne lediglich die entsprechende Geltung der §§ 45, 48 SGB X an. Danach sei eine Ermessensausübung erforderlich, an der es in diesem Verfahren mangele. § 330 SGB III beziehe sich nach seinem Wortlaut auf die Rücknahme eines Verwaltungsaktes, der vorliegend nicht gegeben sei. Auch eine teleologische Auslegung spreche gegen seine Anwendung. Die verschärfte Haftung von Leistungsbeziehern - ohne Vertrauensschutz und Ermessensausübung - könne vorliegend nicht zur Anwendung kommen, weil er zum Zeitpunkt der Überzahlung nicht mehr in einem Sozialleistungsverhältnis zu dem Beklagten gestanden habe. Er sei vielmehr ein Außenstehender gewesen, sodass die allgemeinen Regeln nach §§ 50, 45 SGB X, nicht aber § 330 SGB III anzuwenden seien.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. November 2009 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er meint, die Revision sei nicht ordnungsgemäß begründet worden, weil der Kläger sich die Genehmigung der Revisionsbegründung vorbehalten habe, die nicht erfolgt sei.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung des Klägers gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid zurückgewiesen, weil der Kläger verpflichtet ist, die vom Beklagten überzahlten und mit Erstattungsbescheid festgesetzten 2165,43 Euro an den Beklagten zu zahlen.
Die Revision ist zulässig. Das BSG ist für die Entscheidung des Rechtsstreits in der Revisionsinstanz zuständig (§ 39 Abs 1, §§ 160 ff SGG); im Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache ist die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs nicht mehr zu prüfen (§ 17a Abs 5 Gerichtsverfassungsgesetz).
Die Revision ist gemäß § 164 Abs 2 SGG fristgemäß und ordnungsgemäß begründet worden. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger persönlich auf der "umfassenden Vollmacht" für seinen Rechtsanwalt mitgeteilt hat, er habe die Revisionsbegründung nicht genehmigt. Entscheidend ist die uneingeschränkte Erteilung der Vollmacht im Außenverhältnis, interne Absprachen oder Vorbehalte, wie die Genehmigung bestimmter Erklärungen, die das Gesetz nicht vorsieht, sind unbeachtlich (§§ 164, 116 ff Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫). In dem Zusatz liegt auch entgegen der Ansicht des Beklagten kein Widerruf der Revisionsbegründung seitens des Klägers persönlich, weil er persönlich gegenüber dem BSG nicht postulationsfähig ist (§ 73 Abs 4 SGG).
Die Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), weil der Erstattungsbescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides formell (dazu 1.) und materiell (dazu 2.) rechtmäßig ist. Rechtsgrundlagen für den Bescheid sind § 40 SGB II, § 50 Abs 2, 3, § 45 SGB X und § 330 Abs 2 SGB III.
1. Der Erstattungsbescheid ist formell rechtmäßig.
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger zu dem Erstattungsbescheid als eingreifenden Verwaltungsakt nach § 24 Abs 1 SGB X anzuhören gewesen wäre, das LSG aber keine Feststellungen zu einer solchen Anhörung getroffen und der Beklagte keine dahingehenden Rügen erhoben hat. Denn die fehlende Anhörung ist durch das durchgeführte Widerspruchsverfahren nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X geheilt worden.
Die Möglichkeit einer Heilung einer unterlassenen Anhörung bei Durchführung eines Widerspruchsverfahrens wird in der Literatur allgemein angenommen (Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Juni 2012, K § 41 RdNr 15 f; Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 15; Steinwedel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand 4/2012, § 41 SGB X RdNr 16; jeweils mwN). Sie erfordert jedoch, um die mit der Anhörungspflicht bezweckte Wahrung des Anspruchs des Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen, dass dem Beteiligten schon in dem angefochtenen Verwaltungsakt oder auf andere Weise im Laufe des Widerspruchsverfahrens alle entscheidungserheblichen Tatsachen zur Kenntnis gebracht wurden, sodass er sich zu ihnen sachgerecht äußern konnte (BSG vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247, 251 ff = SozR 3-1300 § 24 Nr 4; BSG vom 14.7.1994 - 7 RAr 104/93 - SozR 3-4100 § 117 Nr 11 S 67, 72 f; BSG vom 12.12.2001 - B 6 KA 3/01 R - BSGE 89, 90, 93 = SozR 3-2500 § 82 Nr 3).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, wie den Feststellungen des LSG und den nach § 153 Abs 2 Satz 1 SGG in Bezug genommenen des SG noch entnommen werden kann, zumal der Kläger selbst den Beklagten auf die Überzahlung hingewiesen hat und der Tatbestand als solcher zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist.
2. Der Erstattungsbescheid ist auch materiell rechtmäßig.
Die Voraussetzungen der Rechtsgrundlagen für den angefochtenen Bescheid nach § 40 SGB II (dazu a), § 50 Abs 2, 3 SGB X (dazu b), § 45 SGB X, insbesondere dessen Abs 2 (dazu c) und § 330 Abs 2 SGB III (dazu d) sind erfüllt.
a) Nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II in der vom 1.1.2005 bis heute geltenden Fassung aufgrund des Art 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954), gilt für das Verfahren nach dem SGB II das SGB X. Zudem sind entsprechend anwendbar die Vorschriften des SGB III ua über die Aufhebung von Verwaltungsakten (§ 330 Abs 1, 2, 3 Satz 1, 4 SGB III; § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung ≪SGB II aF≫, dem insofern § 40 Abs 2 Nr 2, 3 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850 entsprechen ≪SGB II nF≫).
b) Der in Bezug genommene und vorliegend einschlägige § 50 Abs 2 SGB X lautet: "Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatten. §§ 45 und 48 gelten entsprechend." Des Weiteren regelt § 50 Abs 3 Satz 1 SGB X: "Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen."
(1) Die Grundvoraussetzungen des § 50 Abs 2 Satz 1 SGB X sind erfüllt, weil von dem Beklagten an den Kläger die umstrittenen 2165,43 Euro durch Überweisung auf dessen Konto geleistet wurden und für diese Leistung aufgrund der zuvor erfolgten Aufhebung des Bewilligungsbescheides durch den Aufhebungsbescheid vom 15.10.2007 kein Rechtsgrund, insbesondere nicht in Form eines Verwaltungsaktes, bestand (vgl BSG vom 24.1.1995 - 8 RKn 11/93 - BSGE 75, 291 = SozR 3-1300 § 50 Nr 17).
Trotz dieses Aufhebungsbescheides wurde die Zahlung entgegen der Ansicht des Klägers nicht zu einer privatrechtlichen Angelegenheit zwischen ihm und dem beklagten Jobcenter, sie behielt vielmehr ihre öffentlich-rechtliche Zielrichtung (vgl BSG vom 24.7.2001 - B 4 RA 102/00 R - SozR 3-1300 § 50 Nr 24; allgemein Freischmidt in Hauck/Noftz, SGB X, K § 50 RdNr 14a mwN). Auch wenn die Leistungsbewilligung seitens des Beklagten durch den Aufhebungsbescheid nicht mehr bestand, war das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beklagten damit nicht unmittelbar beendet, vielmehr war zB auch der Erstattungsanspruch zwischen dem Beklagten und dem Rentenversicherungsträger abzuwickeln, der gegenüber dem Kläger Erfüllungswirkung hatte (§ 107 Abs 1 SGB X), und es gibt nachwirkende Rechte und Pflichten aus öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen (vgl allgemein nur Henneke in Knack/dsl, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl 2010, vor § 35 RdNr 14 ff; Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl 2008, § 9 RdNr 16 ff).
Der grundlegende Unterschied zwischen dem Kläger und einem beliebigen Dritten, auf dessen Konto eine Zahlung erfolgt (vgl zu einer solchen Fallgestaltung: BSG vom 29.10.1986 - 7 RAr 77/85 - BSGE 61, 11 = SozR 1300 § 50 Nr 13), besteht darin, dass die Zahlung seitens des Beklagten an den Kläger zur Erfüllung einer von dem Beklagten irrtümlicherweise angenommenen öffentlich-rechtlichen Verpflichtung erfolgte (vgl zu einer solchen Fallgestaltung BSG vom 24.7.2001 - B 4 RA 102/00 R - SozR 3-1300 § 50 Nr 24). § 50 Abs 2 SGB X zielt gerade auf solche Fallgestaltungen ab, in denen ein das Rechtsverhältnis regelnder Verwaltungsakt fehlt, aber bestimmte Rechtsbeziehungen zwischen leistender Behörde und Leistungsempfänger bestehen (vgl die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 8/2034 S 36 zu § 48 mit dem Beispiel Urteilsrente; Freischmidt in Hauck/Noftz, SGB X, K § 50 RdNr 14a mwN; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 50 SGB X RdNr 29). Der Grund für die Überzahlung war vorliegend eine Fortwirkung des im Rahmen der ursprünglichen SGB II-Bewilligung eingerichteten Dauerauftrags des Beklagten, den Betrag an den Kläger zu überweisen, der mit der Aufhebung des Bewilligungsbescheides nicht ebenfalls aufgehoben worden war.
Für diese Auslegung spricht zudem § 50 Abs 3 Satz 1 SGB X, der nicht nur für die Fallkonstellation nach § 50 Abs 1 SGB X, sondern auch für die nach § 50 Abs 2 SGB X eine Festsetzung der zu erstattenden Leistung durch Verwaltungsakt anordnet (BSG vom 24.7.2001 - aaO).
(2) Aus der in § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X angeordneten entsprechenden Geltung der §§ 45, 48 SGB X folgt nichts anderes. Ein Ausnahmefall entsprechend dem zum Rentenrecht ergangenen Urteil des BSG vom 24.7.2001 (B 4 RA 102/00 R - SozR 3-1300 § 50 Nr 24), der ihre Anwendung ausschließt, liegt nicht vor, weil ein Verwaltungsakt über SGB II-Leistungen an den Kläger - im Unterschied zu jener Fallkonstellation - nicht nichtig wäre. Im Übrigen würde die Zugrundelegung der in jener Entscheidung entwickelten Maßstäbe die Stellung des Klägers eher verschlechtern, weil allgemeine Gründe für einen Vertrauensschutz des Klägers hinsichtlich der Überzahlung nicht zu erkennen sind und von ihm auch nicht behauptet werden.
§ 48 SGB X ist vorliegend von vornherein nicht einschlägig, weil in der Zeit von November 2007 bis Januar 2008, in der die Überweisungen des Beklagten an den Kläger erfolgten, insofern keine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist.
c) Aber auch § 45 SGB X steht dem Erstattungsanspruch des Beklagten nicht entgegen. § 45 SGB X lautet, soweit vorliegend maßgeblich, in Abs 2 Satz 1: "Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist." und Satz 3: "Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit …
3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat." Nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X wird nur in den zuletzt wiedergegebenen Fällen des Satzes 3 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Aus der "entsprechenden" Geltung des § 45 SGB X folgt, dass in den Fällen einer Leistung ohne Verwaltungsakt nach § 50 Abs 2 SGB X an die Stelle des Verwaltungsaktes die Leistung oder vorliegend die Überweisung tritt.
Die Voraussetzungen für eine Rücknahme für die Vergangenheit, die bei einem Erstattungsbegehren, das typischerweise immer Leistungen in der Vergangenheit betrifft, gegeben sein müssen, sind erfüllt. Denn der Kläger kannte, wie er auch im gesamten Verfahren nicht in Abrede gestellt hat, die Rechtswidrigkeit der Zahlungen des Beklagten iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X aufgrund ihrer Rechtsgrundlosigkeit und der zuvor erfolgten Aufhebung des Bewilligungsbescheides. Er hat den Beklagten nach Feststellung der Zahlungseingänge auf seinem Konto auch umgehend informiert.
d) Der Beklagte hatte vor Erlass des Erstattungsbescheides kein Ermessen auszuüben. Aus der angeordneten "entsprechenden" Geltung des § 45 SGB X in § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X folgt zwar auch die Übertragung der bei einer Rücknahme nach § 45 SGB X grundsätzlich notwendigen Ermessensausübung seitens des Beklagten auf dessen Erstattungsbegehren (BSG vom 18.8.1983 - 11 RZLw 1/82 - BSGE 55, 250, 254 = SozR 1300 § 50 Nr 3; BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 2/85 - BSGE 60, 239, 240 f = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSG vom 25.1.1994 - 4 RA 16/92 - SozR 3-1300 § 50 Nr 16). Diese Ermessensausübung wird vorliegend jedoch ausgeschlossen durch die in § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II aF angeordnete ebenfalls entsprechende Geltung des § 330 Abs 2 SGB III. Die zuletzt genannte Vorschrift lautet: "Liegen die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vor, ist dieser auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen."
(1) Entgegen dem Vorbringen der Revision kann aus der Verwendung des Begriffs "Verwaltungsakt" im Wortlaut des § 330 Abs 2 SGB III nichts hergeleitet werden. Entscheidend ist vielmehr die Wendung "liegen die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen … vor" und die Rechtsfolgenanordnung, dass dann der Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, also kein Ermessen hinsichtlich der Rücknahme auszuüben ist. Dies gilt gerade für die in § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X angeordnete entsprechende Geltung des § 45 SGB X, weil § 50 Abs 2 SGB X die Erstattung von Leistungen regelt, die ohne Verwaltungsakt erbracht wurden.
(2) Für den Ausschluss einer Ermessensausübung sprechen auch der Sinn und Zweck des § 330 Abs 2 SGB III sowie systematische Zusammenhänge. § 330 SGB III ist eine nach § 37 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch zulässige abweichende Regelung von den §§ 44 ff SGB X. § 330 Abs 2 SGB III knüpft an die mit dem Ersten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21.12.1993 (BGBl I 2353) mit Wirkung vom 1.1.1994 eingeführte Vorgängerregelung in § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) an. Zu deren Begründung wurde damals ausgeführt, sie solle dem Umstand Rechnung tragen, dass die Arbeitsämter anders als die meisten Sozialversicherungsträger die Leistungen überwiegend kurzfristig zu erbringen und vielfach ebenso kurzfristig zu beenden haben, sodass Überzahlungen praktisch nicht zu vermeiden seien. Allein im Jahr 1992 sei in 1,85 Millionen Fällen über die Erstattung überzahlter Leistungen zu entscheiden gewesen, daher solle an die Stelle einer Ermessensentscheidung eine gebundene Entscheidung treten (BT-Drucks 12/5502 S 37 zu Nr 43). Dieser Grund gilt für Leistungen nach dem SGB II in noch stärkerem Maße, da diese von den sich oft ändernden Bedarfen und Einkommen der Leistungsberechtigten abhängen. Bestätigt wird dieser Unterschied auch durch die Leistungsbewilligung für in der Regel sechs Monate nach dem SGB II (vgl dessen § 41 Abs 1) verglichen mit einer Rentengewährung nach dem Sechsten oder Siebten Buch Sozialgesetzbuch.
Eine solche typische Situation, die der Gesetzgeber mit der Sonderreglung des § 330 Abs 2 SGB III erfassen wollte, ist vorliegend gegeben: Zunächst wird eine bestimmte Leistung bewilligt, dann fällt der Anspruch der leistungsberechtigten Person auf diese Leistung weg, weil sie eine andere vorrangige Leistung erhält, dies wird jedoch verwaltungsmäßig nicht so schnell umgesetzt, dass es nicht zu einer Überzahlung kommt. Sind die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X erfüllt - die leistungsberechtigte Person kannte die Rechtswidrigkeit der Überzahlung, wie vorliegend der Kläger -, dann besteht, von weiteren Voraussetzungen abgesehen, kein Grund, warum sie diesen Betrag behalten soll und die Behörde insofern Ermessen ausüben muss.
(3) Aus systematischen Gründen kann nicht im Sinne der Argumentation des Klägers zwischen den Fallgestaltungen mit einer direkten Anwendung des § 45 SGB X und der entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift unterschieden werden: In der ersten Fallgestaltung geschieht zunächst überhaupt nichts, dann werden nach der Überzahlung ein Rücknahmeverwaltungsakt, der die Leistungsbewilligung aufhebt, nach § 45 SGB X auch für die Vergangenheit ohne Ermessensausübung und zeitgleich ein Erstattungsverwaltungsakt nach § 50 Abs 1 SGB X erlassen. In der zweiten Fallgestaltung wird zwar die Leistungsbewilligung aufgehoben, aber es wird weitergezahlt und dann ein Erstattungsverwaltungsakt nach § 50 Abs 2 SGB X erlassen. Für den Ausschluss der Ermessensausübung gerade in der zweiten Fallgestaltung spricht, dass die leistungsberechtigte Person aufgrund der zuvor erfolgten Aufhebung der Leistungsbewilligung um die Rechtswidrigkeit der eingehenden Leistungen wusste (ähnlich Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand 5/2012, § 330 RdNr 25; im Ergebnis ebenso Düe in Niesel/Brandt, SGB III, 5. Aufl 2010, § 330 RdNr 3; Schütze in von Wulffen, SGB X, § 50 RdNr 25; ebenso in früheren Entscheidungen schon LSG Baden-Württemberg vom 10.10.2006 - L 13 AL 3133/05 - und vom 9.12.2008 - L 13 AS 651/07; zu der erforderlichen Ermessensausübung nach § 50 Abs 2, § 45 SGB X vor Geltung des § 152 Abs 2 AFG in obigen Fallgestaltungen: BSG vom 31.10.1991 - 7 RAr 60/89 - SozR 3-1300 § 45 Nr 10).
(4) Entgegen dem Vorbringen des Revisionsführers kann er im Verhältnis zum Beklagten nicht als "Außenstehender" angesehen werden, auf den nur die allgemeinen Regeln der §§ 50, 45 SGB X nicht aber die speziellen Regeln des § 330 SGB III anzuwenden sind. Denn auch wenn die Leistungsbewilligung seitens des Beklagten durch einen Bescheid aufgehoben worden war, war - wie ausgeführt - das Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beklagtem nicht unmittelbar beendet, sondern wirkte nach, wie die Überzahlung zeigt. Gründe für eine die in § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II aF angeordnete Geltung des § 330 Abs 2 SGB III einschränkende Auslegung in den Fällen des § 50 Abs 2 SGB X sind - wie dargelegt - nicht zu erkennen.
e) Die Fristerfordernisse nach § 50 Abs 4, § 45 Abs 3 Satz 2, Abs 4 Satz 2 SGB X sind erfüllt, wie sich aus dem Zahlungszeitraum November 2007 bis Januar 2008 und dem Datum des Erstattungsbescheides mit 10.1.2008 ergibt, ohne dass deren entsprechende Geltung in den Fällen des § 50 Abs 2 SGB X einer abschließenden Erörterung bedarf (vgl dazu BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 2/85 - BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSG vom 24.1.1995 - 8 RKn 11/93 - BSGE 75, 291 = SozR 3-1300 § 50 Nr 17).
Die Höhe des Erstattungsbetrags ist nicht nach § 40 Abs 2 Satz 1 SGB II aF zu verringern, weil diese Vorschrift in den Fällen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X, wie vorliegend einer gegeben ist, keine Anwendung findet (§ 40 Abs 2 Satz 2 SGB II aF, heute in § 40 Abs 4 SGB II nF).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen