Leitsatz (amtlich)
Ein uneheliches Kind, dessen Vater nicht festgestellt ist, hat - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen - nach dem Tode seiner versicherten Mutter Anspruch auf die Rente einer Vollwaise.
Normenkette
RVO § 1269 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 35 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 26. August 1958 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin ist am 24. April 1942 als uneheliches Kind geboren. Ihr Erzeuger ist nicht festgestellt. Ihre Mutter ist kurz vor Kriegsende durch einen Luftangriff ums Leben gekommen; sie war in der Invalidenversicherung pflichtversichert. Die Klägerin bezieht je eine Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und - seit dem 1. Juli 1951 - auch nach der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Kriegsopferrente wird ihr auf Grund einer Härtevorschrift des BVG als Vollwaisenrente gezahlt. Ihren Antrag, auch die Versicherungsrente nach dem Inkrafttreten des Rentenneuregelungsgesetzes (1. Januar 1957) in eine Vollwaisenrente umzuwandeln, lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) ab: ein uneheliches Kind, das seine Mutter verloren habe, sei nur dann Vollwaise, wenn auch der Erzeuger nicht mehr lebe; ob dies der Fall sei, könne bei Kindern, deren Erzeuger unbekannt sei, nicht festgestellt werden; ein Anspruch auf Vollwaisenrente bestehe daher nicht. Das Sozialgericht (SG.) gab der Klage statt: ein Kind sei als Vollwaise anzusehen, wenn es keinen mit ihm verwandten Elternteil mehr habe; da ein uneheliches Kind mit seinem Erzeuger nach bürgerlichem Recht nicht verwandt sei, könne es nach dem Tode der versicherten Mutter die Vollwaisenrente beanspruchen. Die Berufung der beklagten LVA. hatte Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG.) ist mangels einer gesetzlichen Bestimmung des Begriffes "Vollwaise" vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen, der unter einer Vollwaise ein Kind verstehe, dessen beide Elternteile tot seien. Dieses Erfordernis gelte entgegen der Meinung des SG. nicht nur für die mit dem Kind verwandten Elternteile, sondern - ebenso wie im Rechte der Kriegsopferversorgung - auch für den unehelichen Vater. Stehe dessen Ableben, wie auch im vorliegenden Falle, nicht fest, sei ein Anspruch auf Vollwaisenrente nicht gegeben. Die vom LSG. zugelassene Revision der Klägerin hält die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts für irrig: tatsächlich könne ein uneheliches Kind, dessen Erzeuger unbekannt geblieben sei, ihn so wenig in Anspruch nehmen, wie ein anderes - eheliches oder uneheliches - Kind, dessen Vater gestorben sei. Wenn der Umstand, daß der Tod des Erzeugers nicht festgestellt werden könne, stets zu Lasten des unehelichen Kindes ginge, während bei ehelichen Kindern insoweit die Verschollenheitsvorschriften eingriffen, so würde dies zu einer schweren Benachteiligung der unehelichen Kinder führen, die mit dem Gleichheitssatz und dem Verfassungsgebot zur Schaffung gleicher Entwicklungsmöglichkeiten für uneheliche Kinder (Art. 3, 6 Abs. 5 Grundgesetz - GG -) unvereinbar sei. Die Klägerin beantragt daher die Wiederherstellung des ersten Urteils. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist begründet, da das LSG. der Klägerin die Rente einer Vollwaise zu Unrecht versagt hat. Die Anpassung von Waisenrenten alten Rechts, namentlich also von Renten, die - wie hier - am 1. Januar 1957 bereits festgestellt waren, an das mit diesem Zeitpunkt in Kraft getretene neue Rentenrecht regelt die Übergangsvorschrift in Art. 2 § 35 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45). Eine entsprechende Bestimmung für Waisenrenten neuen Rechts enthält § 1269 RVO i. d. F. des ArVNG. Nach beiden Vorschriften bekommen "Vollwaisen" erstmals eine höhere Waisenrente als "Halbwaisen", ohne daß die Begriffe Voll- und Halbwaise im Gesetz näher erläutert werden. Das SG. sieht ein uneheliches Kind schon dann als Vollwaise an, wenn es seine Mutter verloren hat. Das LSG. meint dagegen, die Eigenschaft als Vollwaise setze stets - auch bei unehelichen Kindern, deren Vater nicht festgestellt sei - den Nachweis voraus, daß beide Elternteile gestorben seien. Der Senat vermag sich weder der einen noch der anderen Auffassung anzuschließen.
Die auch von einem Teil des Schrifttums vertretene Ansicht des SG., nach der uneheliche Kinder bereits beim Tode der versicherten Mutter - auch wenn der Erzeuger noch lebt -, die Vollwaisenrente beanspruchen könnten, steht mit der Grundvorschrift über die Gewährung von Waisenrenten nicht im Einklang. Nach § 1267 i. Verb. mit § 1262 Abs. 2 RVO n. F. erhalten Waisenrente "nach dem Tode des Versicherten ... 5. die unehelichen Kinder eines männlichen Versicherten, wenn seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt ist, 6. die unehelichen Kinder einer Versicherten ...". Wird einem unehelichen Kinde auf Grund dieser Vorschriften nach dem Tode des versicherten unehelichen Vaters Waisenrente gewährt, erhält es, solange die Mutter lebt, unbestritten nur die niedrigere Rente für Halbwaisen (§ 1269 RVO). Entsprechendes muß gelten, wenn nicht der versicherte uneheliche Vater, sondern die versicherte Mutter zuerst stirbt; auch in diesem Fall erhält also das uneheliche Kind, solange der uneheliche Vater noch am Leben ist, nur die Halbwaisenrente. Das Gesetz will beide Fälle - "Vorversterben" des versicherten unehelichen Vaters oder der versicherten Mutter - offenbar nicht verschieden regeln, wie die gleichgeordnete Stellung der Nr. 5 und 6 in § 1262 Abs. 2 RVO zeigt. Eine unterschiedliche Behandlung der unehelichen Kinder je nach dem, ob die Rente nach dem Tode des Vaters oder der Mutter gewährt wird, läßt sich auch nicht damit begründen, daß das uneheliche Kind nach bürgerlichem Recht zwar mit seiner Mutter, nicht aber mit seinem Vater verwandt ist (§§ 1705, 1589 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Wenn dieser Umstand im Sozialversicherungsrecht für den Anspruch auf Waisenrente dem Grunde nach (§ 1267 RVO) ohne rechtliche Bedeutung ist, erscheint es nicht gerechtfertigt, ihm für die Bemessung ihrer Höhe (§ 1269 RVO) Gewicht beizulegen. Die gegenteilige Ansicht, nach der mutterlose uneheliche Kinder schon zu Lebzeiten ihres Vaters Vollwaisenrente zu beanspruchen hätten, würde auch eine Besserstellung der unehelichen Kinder gegenüber den ehelichen bedeuten, die immer erst nach dem Tode beider Elternteile die Vollrente erhalten. Eine solche Bevorzugung der unehelichen Kinder würde dem Willen des Gesetzes widersprechen, eheliche und uneheliche Kinder bei der Gewährung der Waisenrente grundsätzlich gleich zu behandeln (vgl. §§ 1267, 1262 Abs. 2 Nr. 1 mit Nr. 5 und 6). Im Gegensatz zur Auffassung des SG. ist hiernach mit dem LSG. anzunehmen, daß einem unehelichen Kinde nach dem Tode der versicherten Mutter grundsätzlich nur dann Vollwaisenrente zusteht, wenn auch der uneheliche Vater verstorben ist.
Entgegen der Ansicht des LSG. gilt dieser Grundsatz jedoch uneingeschränkt nur in den Fällen, in denen - wie § 1262 Abs. 2 Nr. 5 sagt - die Vaterschaft oder die Unterhaltspflicht des Erzeugers festgestellt, dieser also der Person nach bekannt ist, sein Tod oder sein Fortleben (nach dem Tode der versicherten Mutter) mithin nachweisbar ist. Das Begriffspaar "Vollwaise - Halbwaise" (§ 1269 RVO) ist der Umgangssprache entnommen, die unter einer Halbwaise ein Kind versteht, das einen Elternteil, unter einer Vollwaise ein Kind, das beide Elternteile verloren hat (vgl. Der Große Brockhaus, 16. Aufl., unter dem Stichwort "Waise"). Die Sprache knüpft damit an den Regelfall des Lebens an, daß die Eltern eines Kindes beide der Person nach bekannt sind; denn nur unter dieser Voraussetzung läßt sich sagen, ob es beide Elternteile verloren hat. Da das Gesetz keine Bestimmung der Begriffe Voll- und Halbwaise enthält, will es sie offenbar im Sinne des üblichen Sprachgebrauches verstanden wissen, wonach die Eigenschaft als Halbwaise den Verlust eines Elternteiles, die Eigenschaft als Vollwaise den Verlust beider Elternteile voraussetzt. Damit hat das Gesetz aber zugleich die dem Sprachgebrauch zugrunde liegende Vorstellung, daß nämlich beide Elternteile des Kindes bekannt sind, übernommen. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, die Gewährung der höheren Waisenrente selbst in den Fällen von dem Nachweis des Todes beider Elternteile abhängig zu machen, in denen dieser Nachweis, weil schon die Eltern oder ein Elternteil der Person nach unbekannt sind, niemals geführt werden könnte. Das gilt namentlich für uneheliche Kinder, deren Vater nicht festgestellt ist: ihr Anspruch auf Vollwaisenrente müßte notwendig daran scheitern, daß sich das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals, nämlich der Tod des unbekannt gebliebenen Erzeugers, nicht nachweisen läßt. Die Vorschrift über die verschiedene Bemessung der Waisenrente je nach dem, ob das Kind Halb- oder Vollwaise ist (§ 1269 RVO), kann deswegen ohne Einschränkung nur auf jene Regelfälle angewandt werden, in denen die Person beider (ehelicher oder unehelicher) Elternteile feststeht. Sie paßt dagegen nicht für die Ausnahmefälle, in denen - wie im vorliegenden Streitfall - nur die Person eines Elternteils bekannt ist. Daß der Gesetzgeber an diese Fälle in der Tat nicht gedacht hat, läßt auch die Begründung zu § 1273, dem jetzigen § 1269 RVO, erkennen. Danach soll für Vollwaisen eine höhere Rente gewährt werden, "weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben" (Bundestagsdrucksache Nr. 2437, 2. Wahlperiode). Die Inanspruchnahme des "überlebenden Elternteils" setzt aber voraus, daß seine Person feststeht. Wird demnach der Fall, daß der Erzeuger eines unehelichen Kindes nicht festgestellt ist, durch das gesetzliche Begriffsschema "Halbwaise - Vollwaise" nicht erfaßt, so kann die Frage für den Richter nur dahin lauten, ob ein solches Kind nach dem Tode seiner Mutter - bei sinngemäßer Auslegung des Gesetzes - einer Voll- oder einer Halbwaise näher steht und daher dieser oder jener rechtlich gleichzustellen ist.
Nach der erwähnten Begründung zu § 1273 des Entwurfs zum ArVNG hat der Gesetzgeber beabsichtigt, mit der Gewährung einer erhöhten Waisenrente einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß dem Kind nach dem Tode des zweiten Elternteils keine Unterhaltsansprüche aus dem Eltern- und Kindesverhältnis zustehen. Er ist also offenbar von der Auffassung ausgegangen, daß solche Unterhaltsansprüche nicht mehr bestehen, sobald das Kind "Vollwaise" geworden ist, d. h. auch den zweiten (überlebenden) Elternteil verloren hat. Diese Auffassung ist nur bedingt richtig. Sie ist zutreffend, soweit es sich um eheliche oder ihnen gleichgestellte Kinder handelt; denn insoweit entfällt mit dem Tode des überlebenden Elternteils in der Tat jeder Unterhaltsanspruch des Kindes nach §§ 1602 Abs. 2, 1603 BGB. Dagegen erlischt die Unterhaltspflicht des unehelichen Vaters gegenüber dem Kinde nicht mit seinem Tode, sondern geht als Nachlaßverbindlichkeit auf die Erben über (§ 1712 BGB). Trotz dieses Umstandes muß die Entscheidung des Gesetzgebers, auch in diesem Falle - ungeachtet des fortbestehenden Unterhaltsanspruchs - dem unehelichen Kinde nach dem Tode beider Elternteile die Vollwaisenrente zu gewähren, respektiert werden. Der Richter würde die Grenzen seiner Befugnisse überschreiten, wollte er das Gesetz unter Berufung auf das gesetzgeberische Motiv - die "Unterhaltsersatzfunktion" der Vollwaisenrente - korrigieren und einem unehelichen Kinde nach dem Tode des Erzeugers die Vollwaisenrente deswegen versagen, weil es Unterhalt von den Erben seines unehelichen Vaters erhält oder doch zu beanspruchen hat. Entsprechendes muß für den umgekehrten Fall gelten, daß der Unterhaltsanspruch des Kindes bereits zu Lebzeiten des unehelichen Vaters - mit Vollendung des 16. Lebensjahres des Kindes - weggefallen ist (§ 1708 BGB), oder eine Unterhaltsklage gegen ihn (wegen Mehrverkehrs der Kindesmutter) abgewiesen ist. Auch in diesen Fällen darf der Richter das Gesetz, das die Gewährung der erhöhten Waisenrente allein "Vollwaisen" vorbehält, nicht beiseite schieben und dem Kinde die Vollwaisenrente deswegen zusprechen, weil es nach dem Tode der Mutter von seinem noch lebenden Erzeuger keinen Unterhalt zu beanspruchen hat (vgl. für die Kriegsopferversorgung das Urteil des 8. Senats vom 19.2.1959, 8 RV 1261/57, in dem ausgesprochen ist, daß ein uneheliches Kind zu Lebzeiten seines Erzeugers keinen Anspruch auf Rente einer elternlosen Waise habe; dabei sei unbeachtlich, daß es wegen Vollendung des 16. Lebensjahres von dem Erzeuger keinen Unterhalt mehr verlangen könne).
Ist demnach der Gedanke des Gesetzgebers, die Vollwaisenrente an die Stelle fehlender Unterhaltsansprüche treten zu lassen, im Gesetz auch nicht in vollem Umfange durchgeführt, so bleibt er doch der tragende Grundgedanke des Gesetzes, auf den jedenfalls insoweit zurückzugreifen ist, als es an den Voraussetzungen für eine sinnvolle Anwendung der Begriffe "Voll- und Halbwaise" fehlt. Das ist aber, wie ausgeführt, bei unehelichen Kindern, deren Vater nicht festgestellt ist, der Fall. Hier gewinnt daher der Umstand, daß das uneheliche Kind nach dem Tode der Mutter tatsächlich niemanden mehr hat, den es als Vater oder Mutter auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann, entscheidende Bedeutung. Wirtschaftlich gesehen, entspricht die Stellung eines solchen Kindes derjenigen eines anderen Kindes, dessen Vater - vielleicht schon lange Jahre vor dem Tode der Mutter - verstorben ist. In beiden Fällen war das Kind vor Eintritt des Versicherungsfalls (Tod der Mutter) vielfach nur auf die Sorge der Mutter angewiesen, die häufig die Aufgaben des verstorbenen oder der Person nach nicht bekannten Vaters mitübernommen haben wird. Diese Gleichheit der für die Bemessung der Waisenrente maßgebenden wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigt es, ein uneheliches Kind, dessen Vater nicht festgestellt ist, nach Sinn und Zweck des § 1269 RVO einer Vollwaise gleichzustellen.
Eine andere Auslegung der genannten Vorschrift würde nach Ansicht des Senats auch mit dem verfassungsrechtlichen Gebot in Widerspruch stehen, daß den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft geschaffen werden sollen wie den ehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG). Diese Vorschrift enthält zwar zunächst nur eine Anweisung an den Gesetzgeber und hat noch keine derogatorische Kraft gegenüber entgegenstehenden Bestimmungen (BVerfG. 8 S. 210 (216)). Als Ausdruck einer eindeutigen "verfassungsrechtlichen Wertentscheidung" ist Art. 6 Abs. 5 GG jedoch "bei der den Gerichten anvertrauten Interessenabwägung und vor allem bei der Interpretation der einfachen Gesetze zugrunde zu legen" (BVerfG. a. a. O. S. 217; a. A. von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 6 Bem. VI 1; vgl. auch BVerwG. 7 S. 267 (210)). Nach Auffassung des Senats würde es gegen den Willen der Verfassung, für eheliche und uneheliche Kinder die gleichen Entwicklungsbedingungen zu schaffen, verstoßen, wenn eine ganze - - zahlenmäßig nicht geringe - Gruppe von unehelichen Kindern, nämlich diejenigen, deren Erzeuger nicht festgestellt ist, grundsätzlich von der Gewährung der Vollwaisenrente ausgeschlossen bliebe. Daß ein uneheliches Kind, dessen Erzeuger festgestellt ist, nur dann in den Genuß der Vollwaisenrente gelangt, wenn der Tod seines Vaters erwiesen ist, entspricht der für eheliche Kinder geltenden Regelung. Daß aber bei unehelichen Kindern, deren Erzeuger unbekannt ist, zunächst die Vaterschaft einer bestimmten Person festgestellt werden müßte, ohne die der Nachweis ihres Todes nicht geführt werden könnte, hätte bei ehelichen Kindern kein Gegenstück und würde das uneheliche Kind ihnen gegenüber ungleich belasten. Der hier vorliegende Beweisnotstand des unehelichen Kindes ist keine notwendig hinzunehmende Folge allein seiner Unehelichkeit; er darf daher, wenn das uneheliche Kind gegenüber einem ehelichen nicht unbillig zurückgesetzt werden soll, nicht zur Versagung der Vollwaisenrente führen, zumal - wie oben ausgeführt - seine wirtschaftliche Lage, deren Ausgleich die Vollwaisenrente dienen soll, derjenigen eines "vaterlosen" Kindes entspricht. Eine andere Gesetzesauslegung würde der in Art. 6 Abs. 5 GG zum Ausdruck gekommenen, für die Auslegung der Gesetze verbindlichen Wertordnung widersprechen und daher verfassungswidrig sein. Ein uneheliches Kind, dessen Erzeuger nicht festgestellt ist, hat somit nach dem Tode seiner versicherten Mutter - sofern die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind - Anspruch auf die höhere Rente einer Vollwaise (ebenso im Ergebnis Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter- und Angestellten, § 1269 RVO unter II; Kommentar zur RVO Viertes und Fünftes Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., § 1269 Anm. 4; Etmer, RVO Viertes Buch, § 1269 Anm. 2, Angestelltenversicherungsgesetz, § 46 Anm. 2, Reichsknappschaftsgesetz, § 69 Anm. 6; Hoernigk-Jorks, Rentenversicherung in "Die WK-Reihe", § 1269 Anm. 2; Miesbach-Busl, Reichsknappschaftsgesetz, § 69 Anm. 8; von Gellhorn-Orda-Peters, Reichsknappschaftsgesetz, § 69 Anm. 10; Schimanski, Knappschaftsversicherungsgesetz in "Die WK-Reihe", § 69 Anm. 10; a. A. Munzinger, Sozialversicherung. 1959 S. 9).
Eine ähnliche Berücksichtigung der besonderen Lage unehelicher Kinder gilt im übrigen auch auf anderen Rechtsgebieten (vgl. für das Lastenausgleichsrecht die Soforthilfe-DVO vom 8.8.1949 (WiGBl. S 225), Nr. 11 zu § 35, und Kühne-Wolff, Die Gesetzgebung über den Lastenausgleich, § 265 LAG Anm. 10; für das Beamtenrecht die Verwaltungsvorschrift Nr. 4 zu § 127 des Bundesbeamtengesetzes; für das Kindergeldrecht, das ursprünglich den Begriff des "elternlosen" Kindes kannte, Schieckel, Kindergeldgesetz § 2 Anm. 9 b, und Rüdiger, Kindergeldrecht S. 74). Für den Bereich der Kriegsopferversorgung hat der 10. Senat im Urteil vom 25. Juni 1959 (10 RV 732/56) zwar ausgesprochen, daß einem unehelichen Kind, dessen Mutter an den Folgen einer Schädigung im Sinne des BVG. gestorben ist, die Grundrente einer Vollwaise nur dann zu gewähren sei, wenn feststehe, daß auch der uneheliche Vater nicht mehr lebe. Diese Entscheidung beruht indessen auf wesentlich anderen rechtlichen Voraussetzungen, als sie für die Rentenversicherung gelten. Das BVG kennt zunächst anders als die RVO die Rechtsbegriffe Vollwaise und Halbwaise nicht, sondern spricht in §§ 46 f. nur von "Waisen, deren Vater oder Mutter noch lebt" und "Waisen, deren Vater und Mutter nicht mehr leben". Diese Begriffe erfassen - jedenfalls ihrem Wortlaut nach - auch den Fall, daß der uneheliche Vater nicht festgestellt ist, während die RVO (§ 1269) diesen Fall dem Gesetzeswortlaut nach nicht unmittelbar regelt; hier mußte daher eine Lösung nach dem Sinn und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes gesucht werden. Außerdem bietet das BVG die - der RVO unbekannte - Möglichkeit, bei besonderen, aus den Vorschriften des BVG sich ergebenden den Härten einen Ausgleich zu gewähren (§ 89). Von dieser Möglichkeit hat das Versorgungsamt im vorliegenden Fall auch Gebrauch gemacht und der Klägerin gemäß Nr. 1 Abs. 2 der Verwaltungsvorschrift zu § 45 BVG die erhöhte Grundrente für Waisen, deren Vater und Mutter nicht mehr leben, zugebilligt. Durch die Entscheidung des Senats, die der Klägerin die Vollwaisenrente auch nach § 1269 RVO zuerkannt, wird diese daher im Ergebnis für das Versorgungs- und das Sozialversicherungsrecht gleichgestellt.
Nach alledem hat der Senat auf die Revision der Klägerin das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und das Urteil erster Instanz wiederhergestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2391701 |
BSGE, 189 |
NJW 1959, 2037 |
MDR 1959, 961 |