Leitsatz (amtlich)
Eine Selbsttötung kann auch dann rechtlich wesentlich durch einen Arbeitsunfall verursacht sein, wenn - bei fehlender Willensbeeinträchtigung - die Folgen des Arbeitsunfalls alleiniger Beweggrund für die Selbsttötung gewesen sind (Anschluß an und Fortführung von BSG 1962-12-18 2 RU 74/57 = BSGE 18, 163, teilweise Aufgabe von BSG 1972-12-15 5 RKnU 31/70 = SozR Nr 11 zu § 589 RVO).
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 553 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 589 Abs 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.02.1982; Aktenzeichen L 2 BU 21/80) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 12.03.1980; Aktenzeichen S 3 BU 37/79) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach ihrem im März 1978 infolge Selbsttötung verstorbenen Ehemannes (Versicherten), der von der Beklagten wegen Silikose die Vollrente erhalten hatte.
Der 1907 geborene Versicherte war seit 1925 unter Tage tätig gewesen, zuletzt als Steiger. Seit 1953 klagte er über Beschwerden, die von der Lunge ausgingen, vor allem über Atemnot. Ab 1955 erhielt er eine Teil-Unfallrente, seit 1966 die Vollrente. Im Juli 1977 wurde der Versicherte bettlägerig. Die Beklagte gewährte ihm daraufhin ab dem 28. Juli 1977 Pflegegeld. Sein Hausarzt stellte bei ihm Depression, Herzinsuffizienz und allgemeine Körperschwäche fest. Am 3. März 1978 erhängte sich der Versicherte.
Mit Bescheid vom 5. Dezember 1978 lehnte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. März 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 25. Februar 1982 das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Nach den vorliegenden Sachverständigengutachten könne nicht mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß eine Willensbeeinträchtigung des Versicherten zur Selbsttötung geführt habe. Jedoch seien die Folgen der Berufskrankheit alleiniger Beweggrund für die Selbsttötung gewesen. Die versicherte Tätigkeit stelle deshalb die rechtlich wesentliche Ursache des Todes dar. Der Anspruch der Klägerin sei nicht auf Grund des § 553 Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgeschlossen. Auch wenn man den Gesichtspunkt des § 553 Satz 1 RVO (absichtliche Herbeiführung des Unfalles) auf die haftungsausfüllende Kausalität, also auf die "Verschlimmerung der Berufskrankheitsfolgen" in Form der absichtlichen Herbeiführung des Todes erstrecke, wäre dies unerheblich, denn eine Absicht, die ihre wesentliche Ursache in den Folgen der Berufskrankheit habe, müsse als unbeachtlich angesehen werden.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 589 Abs 1, 553 RVO sowie des § 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12. März 1980 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Nach § 589 Abs 1 Nr 3 RVO ist an die Hinterbliebenen (dh insbesondere die Witwe, § 590 RVO) eine Rente zu zahlen, wenn der Tod durch einen Arbeitsunfall verursacht worden ist. Das ist hier der Fall. Als Arbeitsunfall gilt auch eine Berufskrankheit (§ 551 Abs 1 Satz 1 RVO). Das Geschehen beim Arbeitsunfall bzw bei der Entwicklung einer Berufskrankheit ist als ein zweiphasiger Vor- gang zu sehen. Im Schnittpunkt steht das Unfallereignis (das die Gesundheit schädigende Ereignis, Berufskrankheit). Es muß ursächlich auf der betrieblichen Tätigkeit beruhen (haftungsbegründende Kausalität) und ursächlich einen Schaden bewirken (haftungsausfüllende Kausalität). Der zunächst zu prüfende Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Berufskrankheit (haftungsbegründende Kausalität) war bei dem Ehemann der Klägerin bereits anerkannt und steht auch jetzt außer Zweifel. Aber auch der nachfolgende Zusammenhang zwischen der Berufskrankheit des Versicherten und seinem Tod ist vom LSG zu Recht bejaht worden.
Im Unfallrecht gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Ursachenbegriff der wesentlichen Bedingung oder der wesentlich mitwirkenden Ursache (vgl BSGE 1, 254, 256; BSG SozR Nr 14 zu § 548 RVO und SozR Nr 11 zu § 589 RVO jeweils mwN). Er besagt, daß von den Ursachen im naturwissenschaftlich- philosophischen Sinn, also den Bedingungen, die nicht hinweg gedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, diejenigen berücksichtigt werden, die wegen ihrer besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Das LSG hat festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin sich allein wegen der Folgen seiner Berufskrankheit den Tod gegeben hat. An diese auf eingehender Beweisaufnahme und Beweiswürdigung gestützte Feststellung des LSG ist der erkennende Senat gebunden, weil die Beklagte hiergegen nur unsubstantiiert auf den "Gesichtspunkt des § 128 SGG" hingewiesen und damit zulässige und begründete Revisionsgründe iS des § 163 SGG nicht vorgetragen hat. Die Folgen der Berufskrankheit waren mithin auch die rechtlich wesentliche Ursache der Selbsttötung. Der ursächliche Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne wie auch die wesentliche Beziehung der Berufskrankheit zum Tod sind somit gegeben.
Nach § 553 Satz 1 RVO haben die Hinterbliebenen indes keinen Anspruch, wenn der Verletzte den Arbeitsunfall absichtlich herbeigeführt hat. Diese Bestimmung bezieht sich ihrem Wortlaut nach nur auf die haftungsbegründende Kausalität. Das BSG hat allerdings mit Urteil des 2. Senats vom 18. Dezember 1962 (BSGE 18, 163) die - eine vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls erfordernde - Ausnahmeregelung des § 556 RVO in der bis zum 30. Juni 1963 gültigen Fassung und mit Urteil des 5. Senats vom 15. Dezember 1972 (SozR Nr 11 zu § 589 RVO) die § 556 RVO aF ablösende Vorschrift des § 553 RVO auch auf die haftungsausfüllende Kausalität bezogen. Der 2. Senat des BSG hat dies im Urteil vom 18. Dezember 1962 im wesentlichen damit begründet, aus der Ausnahmevorschrift könne "in der Regel" abgeleitet werden, daß "vorsätzliches Handeln" als die rechtliche allein wesentliche Ursache für seine Folgen - und damit auch für eine Selbsttötung als äußerste Erscheinungsform einer Schädigung - anzusehen sei. Er hat aber in dieser Entscheidung des weiteren betont, daß die Anwendung des § 556 RVO aF nicht in Betracht kommen kann, wenn - abweichend vom Regelfall - das vorsätzliche Handeln auf Motive zurückzuführen ist, die ihrerseits durch das Unfallereignis oder seine Auswirkungen gesetzt worden sind. Es bedarf dann vielmehr der Prüfung, ob der Unfall oder seine Auswirkungen rechtlich wesentlich das Handeln und damit auch seine Folgen verursacht haben.
Bei dieser auch vom erkennenden Senat vertretenen Rechtsauffassung kann im vorliegenden Fall aber § 553 Satz 1 RVO den geltend gemachten Anspruch nicht ausschließen, weil hier nach den bindenden Feststellungen des LSG - anders als in dem der Entscheidung des 2. Senats zugrundegelegenen Sachverhalt - gerade der nach Meinung des 2. Senats ohnehin "praktisch wohl sehr seltene Fall" vorliegt, daß einerseits von einer Willensbeeinträchtigung des Versicherten bei der Selbsttötung nicht ausgegangen werden kann, andererseits aber feststeht, daß die Folgen der anerkannten Berufskrankheit der alleinige Beweggrund für die Selbsttötung gewesen sind. Da damit die Selbsttötung des Versicherten durch die Auswirkungen der Berufskrankheit wesentlich verursacht worden ist, entfällt hier eine Anwendung des § 553 Satz 1 RVO auch dann, wenn man mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG in diese Vorschrift auch die haftungsausfüllende Kausalität einbezieht. Der dort festgelegte Leistungsausschluß für den Fall, daß absichtliches Handeln und nicht der Unfall die Ursache eines Schadens ist, kann dann nicht gelten, wenn der Unfall selbst dadurch zu dem weitergehenden Schaden führt, daß er seinerseits einen entsprechenden Willen bewirkt hat. In diesem Fall setzt nämlich der Wille nicht eine vom Unfall unabhängige Ursachenkette, sondern ist selbst Teil dieser Ursachenverknüpfung.
Soweit der erkennende Senat im Urteil vom 15. Dezember 1972 aaO eine von der vorliegenden Entscheidung abweichende Rechtsauffassung vertreten hat, wird an dieser nicht festgehalten.
Da somit das LSG zu Recht den Tod des Versicherten als durch dessen Berufskrankheit wesentlich verursacht angesehen hat, ist die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1662655 |
BSGE, 184 |
Breith. 1983, 489 |