Entscheidungsstichwort (Thema)
Versäumung materieller Fristen
Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts ist Wiedereinsetzung grundsätzlich zulässig. Sie ist nach § 27 Abs 5 SGB 10 nur unzulässig, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist oder sich durch Auslegung nach dem Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Interessenabwägung ergibt.
2. Gegen die Versäumung der Beitrittsfrist des § 176c RVO ist Wiedereinsetzung zulässig.
3. War der Schwerbehinderte schon vor der Einführung einer Beitrittsfrist (1.1.1982) als solcher anerkannt, bis dahin aber nicht der Krankenversicherung beigetreten, so konnte er ihr noch bis zum 31.3.1982 beitreten.
Orientierungssatz
Fehlt eine ausdrückliche Regelung über den Ausschluß der Wiedereinsetzung, was insbesondere in älteren Gesetzen die Regel ist, dann muß durch Auslegung ermittelt werden, ob für die betreffende Frist eine Wiedereinsetzung schlechthin ausgeschlossen ist.
Normenkette
RVO § 176c Fassung: 1981-12-22; SGB 10 § 27 Abs 5 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.12.1986; Aktenzeichen L 4 Kr 59/85) |
SG München (Entscheidung vom 24.06.1985; Aktenzeichen S 18 Kr 231/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger gemäß § 176c der Reichsversicherungsordnung (RVO) Mitglied der Beklagten geworden ist.
Der Kläger (geb. 1944) wurde 1977 wegen einer Hirnschädigung als Schwerbehinderter anerkannt. Am 27. September 1982 beantragte der Vormund des Klägers bei der Beklagten, ihn gemäß § 176c RVO als Mitglied aufzunehmen. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 12. November 1982 fest, daß er aufgrund der Beitrittserklärung nicht ihr Mitglied geworden ist. Sein Widerspruch hatte keinen Erfolg: Schwerbehinderte, die bereits vor dem 1. Januar 1982 als solche anerkannt worden seien, hätten gemäß § 176c RVO in der seit 1. Januar 1982 gültigen Fassung nur innerhalb von drei Monaten, dh bis zum 31. März 1982, freiwillig der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten können. Diese Frist habe der Kläger versäumt (Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 1983).
Die Klage ist abgewiesen, die Berufung des Klägers zurückgewiesen worden (Urteil des Sozialgerichts München vom 24. Juni 1985, Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 16. Dezember 1986). Nach Auffassung des LSG bedeutet das Fehlen einer Übergangsregelung im Gesetz zur Ergänzung und Verbesserung der Wirksamkeit kostendämpfender Maßnahmen in der Krankenversicherung (KVEG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1578), mit dem das Beitrittsrecht nach § 176c RVO ab 1. Januar 1982 befristet worden ist, nicht, daß Schwerbehinderte, die schon vorher als solche anerkannt worden seien, weiterhin ein unbegrenztes Beitrittsrecht hätten. Vielmehr gelte die Neuregelung auch für sie. Dies verstoße nicht gegen Art 14 des Grundgesetzes, da ihren Interessen mit dem von der Beklagten eingeräumten Recht zum Beitritt bis 31. März 1982 ausreichend Rechnung getragen werde. Diese Frist habe der Kläger versäumt. Eine Wiedereinsetzung gemäß § 27 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) komme nicht in Betracht, da es sich bei der Beitrittsfrist des § 176c RVO um eine Ausschlußfrist handele, bei der nach § 27 Abs 5 SGB 10 eine Wiedereinsetzung unzulässig sei.
Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter: Da eine Übergangsregelung im KVEG insoweit fehle, hätten Schwerbehinderte, deren Schwerbehinderteneigenschaft schon vor dem 1. Januar 1982 anerkannt worden sei ("Altfälle"), ihr früheres unbefristetes Beitrittsrecht behalten. Nur in "Neufällen" bestehe überhaupt die Möglichkeit, innerhalb von drei Monaten nach Feststellung der Schwerbehinderung der Krankenversicherung beizutreten. Lege man dagegen den § 176c RVO so aus, wie es das Berufungsgericht getan habe, so sei die Neufassung verfassungswidrig, vor allem weil die nachträgliche Befristung des Beitrittsrechts in "Altfällen" gegen das Verbot der rückwirkenden Annullierung oder auch nur Veränderung gesetzlicher Rechtspositionen verstoße. Die Verfassungswidrigkeit könne auch nicht dadurch behoben werden, daß in "Altfällen" für den Beitritt noch eine Dreimonatsfrist bis 31. März 1982 eröffnet werde; denn er, der Kläger, sei weder durch den Gesetzgeber noch durch die Beklagte hierauf aufmerksam gemacht worden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn als Mitglied aufzunehmen;
hilfsweise
festzustellen, daß er Mitglied der Beklagten ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses klären kann, ob beim Kläger die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB 10 vorliegen. Der Auffassung des LSG, daß § 27 SGB 10 bei Nichteinhaltung der - vom Kläger versäumten - Beitrittsfrist des § 176c RVO unanwendbar sei, tritt der Senat nicht bei.
Dem LSG ist zuzustimmen, soweit es eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage für die hier gebotene Klageart gehalten und den Antrag des Klägers entsprechend gedeutet hat. Die Mitgliedschaft Schwerbehinderter, die ihren Beitritt nach § 176c RVO erklären, beginnt mit dem Eingang der Anmeldung bei der Kasse (§ 310 Abs 1 Sätze 1 und 3 RVO), wenn zu diesem Zeitpunkt alle Beitrittsvoraussetzungen erfüllt sind. Das Gesetz bietet keinen Anhalt dafür, daß für den Beitritt außerdem noch eine Aufnahme durch die Kasse oder ihre Zustimmung erforderlich ist.
In der Sache ist dem Kläger nicht zu folgen, soweit er geltend macht, seine Rechte aus der gesetzlichen Beitrittsregelung, die vor dem 1. Januar 1982 galt (§ 176c RVO aF), seien erhalten geblieben; denn zu der Neufassung des § 176c RVO durch Art 1 Nr 1 des KVEG vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1578) sei keine Übergangsregelung ergangen. Der Gesetzgeber hat den neu gefaßten § 176c RVO mit Wirkung vom 1. Januar 1982 für alle Schwerbehinderten in Kraft gesetzt, ohne die damals bereits als Schwerbehinderte anerkannten Personen von der Neuregelung auszunehmen. Damit hat das neue Recht das bisher zeitlich unbeschränkte Beitrittsrecht der Schwerbehinderten beseitigt und es nunmehr an Bedingungen geknüpft. So kann es wirksam nur noch innerhalb von drei Monaten nach Feststellung der Schwerbehinderung ausgeübt werden; außerdem ist grundsätzlich eine Vorversicherungszeit des Schwerbehinderten, seiner Eltern oder seines Ehegatten in den letzten fünf Jahren erforderlich. Ob der Kläger eine der letztgenannten Voraussetzungen erfüllt, ist bisher nicht geprüft worden, da nach Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen eine Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten bereits wegen Versäumung der Beitrittsfrist nicht zustande gekommen ist.
Die Fristenregelung des neuen Rechts hat Personen wie den Kläger, die ihr Beitrittsrecht (das beim Kläger seit 1977 bestand) bis zum 1. Januar 1982 nicht ausgeübt hatten, nicht vom Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Allerdings macht § 176c RVO nF seinem Wortlaut nach den Beitritt bei allen Schwerbehinderten von der Einhaltung einer Frist von drei Monaten "nach Feststellung der Schwerbehinderung" abhängig. Dies würde bei wörtlicher Anwendung der Vorschrift bedeuten, daß diejenigen Schwerbehinderten, deren Schwerbehinderung bereits vor dem 1. Oktober 1981 festgestellt war, von vornherein kein Beitrittsrecht mehr gehabt hätten, weil für sie die Dreimonatsfrist spätestens am 31. Dezember 1981 abgelaufen war. Damit wären indes fast alle Schwerbehinderten, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung als solche anerkannt, aber noch nicht einer Krankenkasse beigetreten waren, vom Beitritt ausgeschlossen worden. Die Neuregelung hätte dann nicht nur ihren Beitritt von der Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen abhängig gemacht, um bisher aufgetretenen Mißbräuchen entgegenzuwirken (vgl die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 9/845, S 12 rechte Spalte unten); sie hätte vielmehr den bereits anerkannten Schwerbehinderten weitgehend ihr Beitrittsrecht genommen. Dafür, daß dies beabsichtigt war, bietet das Gesetzgebungsverfahren keinen Anhalt. Ein entsprechender Wille hätte aber bei einem so einschneidenden Eingriff wie dem nahezu völligen Ausschluß eines Beitrittsrechts in den genannten "Altfällen" deutlich zum Ausdruck kommen müssen. Da insoweit eine klare Ausschlußregelung im Gesetz fehlt, ist das vor dem 1. Januar 1982 entstandene Beitrittsrecht der Schwerbehinderten mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts nicht erloschen. Dabei kann offen bleiben, ob es möglicherweise auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten wäre, die neue Vorschrift ihrem Zweck entsprechend einengend auszulegen (vgl BSGE 61, 169).
Haben hiernach auch vor dem 1. Januar 1982 anerkannte Schwerbehinderte wie der Kläger später noch der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten können, so fehlt eine Vorschrift, binnen welcher Frist sie ihren Beitritt erklären mußten. Diese Lücke ist mit der Beklagten und dem LSG dahin auszufüllen, daß für die genannten Schwerbehinderten ein Beitrittsrecht noch bis 31. März 1982 bestand. Eine längere Frist kann schon aus Gründen der Gleichbehandlung mit den übrigen Schwerbehinderten nicht angenommen werden. Andererseits gibt es keine Anhaltspunkte, daß für sie eine kürzere Frist gelten solle. Vielmehr spricht alles dafür, daß der Gesetzgeber insoweit eine bis zum 31. März 1982 laufende Beitrittsfrist vorgesehen hätte, wenn er die Unvollständigkeit seiner Regelung erkannt hätte.
Hiervon ist auch das LSG ausgegangen. Da der Kläger seinen Beitritt aber erst nach dem 31. März 1982 erklärt hat, wäre er nur wirksam, wenn dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre. Dies hat das LSG abgelehnt, weil § 27 SGB 10 auf Fristen wie die Beitrittsfrist nach § 176c RVO nicht anwendbar sei. Dem tritt der erkennende Senat nicht bei.
Er hat es schon im Urteil vom 16. Oktober 1986 (12 RK 32/85) für naheliegend gehalten, § 27 SGB 10 wegen seiner gegenüber den Wiedereinsetzungsvorschriften der Prozeßgesetze veränderten Wortfassung und entsprechend einer neueren Tendenz in Rechtsprechung und Schrifttum auch auf andere Fristen als Verfahrensfristen anzuwenden. Ob dies auch für Fristen gilt, die im sachlichen Recht der Sozialversicherung geregelt sind, hat er bisher allerdings nicht abschließend entschieden.
Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB 10 ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Die hier vom Kläger nicht eingehaltene Frist des § 176c RVO nF ist eine "gesetzliche", dh eine vom Gesetzgeber bestimmte Frist, nicht eine lediglich von einer Behörde gesetzte Frist (zu behördlichen Fristen vgl § 26 Abs 2 und 7 SGB 10 sowie BSGE 60, 266). Daran ändert es nichts, daß der Beginn der Frist für solche Schwerbehinderten, deren Behinderung, wie beim Kläger, schon vor dem Inkrafttreten des § 176c RVO nF (1. Januar 1982) anerkannt war, sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz selbst ergibt, sondern erst im Wege der Lückenfüllung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts zu bestimmen ist.
Wird die dreimonatige Beitrittsfrist vom Schwerbehinderten nicht eingehalten, dann verliert er grundsätzlich sein Beitrittsrecht. Die Nichteinhaltung der Frist hat somit für ihn nicht lediglich verfahrensrechtliche Bedeutung, wie etwa die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist; sie wirkt sich vielmehr durch den Verlust des Beitrittsrechts auf seine materielle Rechtsstellung selbst aus. Daß § 27 SGB 10 auch auf Fristen anwendbar ist, deren Nichteinhaltung die materielle Rechtsstellung des Säumigen berührt ("materielle Fristen"), legt schon der Wortlaut der Vorschrift nahe, der in auffälligem Gegensatz zu der prozessualen Wiedereinsetzungsvorschrift des § 67 Abs 1 SGG nicht die Versäumung einer "Verfahrensfrist" verlangt, sondern die Nichteinhaltung jeder gesetzlichen "Frist" genügen läßt. Für die Anwendung des § 27 SGB 10 auf materielle Fristen spricht ferner, daß der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift anscheinend eine sichere Rechtsgrundlage schaffen wollte, nach der künftig die Wiedereröffnung einer versäumten gesetzlichen Frist zu beurteilen ist. Wäre dies in § 27 SGB 10 nur für Verfahrensfristen geregelt worden, dann wäre der sehr viel größere und wichtigere Bereich der materiellen Fristen ungeregelt geblieben. Das hätte für den Bereich der Sozialversicherung bedeutet, daß die bestehende Lücke, wie in der Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB 10, weiter mit Hilfe des von der Rechtsprechung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben entwickelten Rechtsinstituts der Nachsichtgewährung hätte geschlossen werden müssen; das kann nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben.
Allerdings kann § 27 SGB 10 nicht auf die Versäumung jeder materiellen Frist Anwendung finden, wie der Vorbehalt in Absatz 5 zeigt. Danach ist die Wiedereinsetzung unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, daß sie ausgeschlossen ist. Ein vergleichbarer Vorbehalt fehlt in den prozessualen Wiedereinsetzungsvorschriften; soweit sie die Versäumung einer gesetzlichen "Verfahrensfrist" voraussetzen, ist deshalb ausnahmslos Wiedereinsetzung zulässig. Für den weiten, nach Art und Bedeutung sehr unterschiedlichen Bereich der materiellen Fristen hat der Gesetzgeber dagegen auf den genannten Vorbehalt offenbar nicht verzichten wollen.
Systematisch stellt sich der Vorbehalt als Ausnahme von der Regel des Absatzes 1 dar, nach der bei Versäumung einer gesetzlichen Frist grundsätzlich Wiedereinsetzung zulässig ist. Von diesem Grundsatz ist daher auch bei Versäumung einer materiellen Frist auszugehen, im Zweifel also auch hier Wiedereinsetzung zuzulassen. Nur "wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt", daß sie ausgeschlossen sein soll, scheidet eine Wiedereinsetzung nach § 27 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 5 SGB 10 als "unzulässig" aus.
Ein solcher Ausschluß kann vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet werden und sollte schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im allgemeinen in dieser Form erfolgen, zumal wenn es sich um Fristen handelt, die erst nach dem Inkrafttreten des § 27 SGB 10 neu vorgeschrieben werden (vgl Art 2 § 19 Abs 4 Satz 4 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes idF des Gesetzes vom 11. Juli 1985, BGBl I S 1450; dort ist für bestimmte Erklärungen eine Wiedereinsetzung ausdrücklich ausgeschlossen worden).
Fehlt eine ausdrückliche Regelung, was namentlich in älteren Gesetzen die Regel ist, dann muß durch Auslegung ermittelt werden, ob für die betreffende Frist eine Wiedereinsetzung schlechthin ausgeschlossen ist. Diese Frage ist nicht schon damit zu beantworten, daß die betreffende Frist begrifflich den "Ausschlußfristen" zugeordnet wird; denn ob die in Rede stehende Frist eine Ausschlußfrist in dem Sinne ist, daß eine Wiedereinsetzung gegen ihre Versäumung unzulässig ist, soll gerade erst geklärt werden. Dazu trägt aber der Begriff der Ausschlußfrist wenig oder nichts bei, da es letztlich auf einen Zirkelschluß hinausläuft, den Ausschluß der Wiedereinsetzung mit dem Vorliegen einer Ausschlußfrist zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine inhaltliche Prüfung der jeweiligen Fristenregelung, insbesondere ist zu fragen, welchem Zweck die Frist dient und wie der Gesetzgeber dabei die widerstreitenden Interessen, nämlich einerseits das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Frist, andererseits das Interesse des einzelnen an ihrer nachträglichen Wiedereröffnung, bewertet. Erst wenn klar ist, welchen Zweck der Gesetzgeber mit einer Fristbestimmung verfolgt und welche Interessenabwägung ihr zugrunde liegt, kann entschieden werden, ob das öffentliche Interesse so gewichtig ist, daß auch bei unverschuldeter Versäumung der Frist im Einzelfall ihre nachträgliche Wiedereröffnung generell nicht zu gestatten ist. Dabei ist zu beachten, daß nach § 27 Abs 5 SGB 10 zunächst lediglich die Zulässigkeit der Wiedereinsetzung zu prüfen ist - sie ist, wie ausgeführt, im Zweifel zu bejahen - und daß erst nach positiver Beantwortung der Zulässigkeitsfrage zu entscheiden ist, ob auch die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung erfüllt sind, wofür derjenige die Feststellungslast trägt, der sich auf das Vorliegen der Voraussetzungen beruft.
Mit dieser Auslegung des § 27 SGB 10, insbesondere seines Abs 5, knüpft der Senat an seine frühere Rechtsprechung zur Gewährung von Nachsicht bei Versäumung materieller Fristen an (vgl dazu besonders das Urteil des Senats vom 27. September 1983, SozR 5750 Art 2 § 51a ArVNG Nr 55 mwN). Für die Gewährung von Nachsicht hatte er damals außer Verschuldensfreiheit beim Säumigen eine Abwägung seiner Interessen mit denen der Verwaltung gefordert und insoweit vor allem berücksichtigt, ob bei dem Säumigen erhebliche, langfristig wirksame Interessen auf dem Spiel stehen (aaO S 113). Eine ähnliche Interessenabwägung ist auch bei Prüfung der Zulässigkeit einer Wiedereinsetzung nach § 27 Abs 5 SGB 10 vorzunehmen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß § 27 SGB 10 die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung materieller Fristen grundsätzlich zuläßt und deshalb klare und zwingende Gründe des öffentlichen Interesses vorliegen müssen, um die Möglichkeit der Wiedereinsetzung schlechthin auszuschließen.
Der Senat befindet sich mit der dargelegten Ansicht, insbesondere zur Zulässigkeit der Wiedereinsetzung bei Versäumung materieller Fristen überhaupt, in Übereinstimmung mit einer vorherrschenden, wenn auch nicht immer klar formulierten Auffassung zu § 27 SGB 10 im Schrifttum (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 62. Nachtrag August 1984, S 231u II; Gagel, AFG, RdNrn 234 ff vor § 142; Komm des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger zum SGB 10, § 27 RdNrn 8, 12; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, § 27 SGB 10, Anm II, VII; Plagemann NJW 1983, S 2172, 2175, 2178. - Demgegenüber die Wiedereinsetzung, insbesondere bei Ausschlußfristen, einschränkend Hauck/Haines, SGB 10, K § 27 RdNr 5; von Wulffen in Schroeder-Printzen, SGB 10, § 27 Anm 3).
Auch zu der mit § 27 SGB 10 wörtlich übereinstimmenden Parallelvorschrift des § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl I S 1253) wird die Wiedereinsetzung bei Versäumung materieller Fristen überwiegend, allerdings in unterschiedlichem Umfange, befürwortet (Kopp, VwVfG, 4. Aufl, § 32 RdNr 6 mwN; Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl, § 32 RdNr 3; Obermayer, VwVfG, § 32 RdNr 13; Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 2. Aufl, § 32 RdNr 6). Dabei wird im Rahmen des Abs 5 eine Prüfung für erforderlich gehalten, ob die einzelne Frist ihrem Zweck nach eine Wiedereinsetzung zuläßt (vgl Kopp aaO § 32 RdNrn 6 und 51 iVm § 31 RdNr 40: Ob eine Frist als "Ausschlußfrist" anzusehen und dann Wiedereinsetzung nur bei ausdrücklicher Zulassung möglich sei, sei Auslegungsfrage und vor allem nach dem Zweck der Regelung zu beantworten; Stelkens/Bonk/Leonhardt aaO § 32 RdNrn 5 und 6, die ebenfalls eine Auslegung der jeweiligen Fristenregelung nach Wortlaut und Sinn für erforderlich halten; Meyer/Borgs aaO § 32 RdNrn 3 und 19; Obermayer aaO § 32 RdNrn 13 und 86 ff; Knack, VwVfG, 2. Aufl, § 32 RdNr 9). Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat früher, als es noch keine einheitliche Regelung von der Art des § 32 VwVfG gab, von Fall zu Fall entschieden, ob es sich um eine "Ausschlußfrist" handelte, gegen deren Versäumung es die Wiedereinsetzung für unzulässig hielt. Hieran hat es teilweise bis in die jüngste Zeit noch angeknüpft und etwa durch Urteil vom 3. Juni 1988 (NVwZ 1988 S 1128 = BayVBl 1988 S 603) zur Versäumung eines Stichtages entschieden, daß materiellrechtliche Ausschlußfristen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur zuließen, wenn das einschlägige materielle Recht dies vorsehe. Soweit das BVerwG indes auf § 32 VwVfG eingegangen ist, hat es im Urteil vom 17. Juli 1980 (BVerwGE 60, 297, 307) ausgeführt, diese Vorschrift mache keinen Unterschied zwischen verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Fristen. Eine andere Auffassung wäre auch kaum mit der Begründung vereinbar, die im Gesetzgebungsverfahren zu § 28 des Entwurfs eines VwVfG (= § 32 des späteren Gesetzes) gegeben worden ist (BT-Drucks 7/910, S 55 zu § 28). Danach ist eine Wiedereinsetzung "unzulässig, wenn sich dies aus einer Rechtsvorschrift ergibt (gedacht ist zB an Fristen im Wahlrecht, bei denen eine Wiedereinsetzung den ordnungsgemäßen Ablauf des Wahlverfahrens unmöglich machen würde)". Offenbar soll also die Unzulässigkeit der Wiedereinsetzung nicht für alle Fristen des materiellen Rechts gelten; das zeigt auch der Hinweis der Begründung ua auf die materielle Frist in § 9 Abs 5 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes, gegen deren Versäumung eine Wiedereinsetzung für zulässig gehalten wurde.
Auch für den Bereich der Finanzverwaltung ist weitgehend anerkannt, daß § 110 der Abgabenordnung (AO) vom 16. März 1976 (BGBl I S 613), der allerdings keinen dem § 27 Abs 5 SGB 10 entsprechenden Vorbehalt enthält, auf die Versäumung von Fristen des materiellen Steuerrechts anzuwenden ist (vgl Tipke/Kruse, AO, 13. Aufl, § 110 RdNr 2 iVm § 108 RdNr 6); hier hat der Bundesfinanzhof (BFH) eine Wiedereinsetzung auch bei Antragsfristen "mit Ausschlußcharakter" für zulässig gehalten (vgl BB 1981, 782 unter 1; BFHE 152, 480, 485).
Die in § 176c RVO nF vorgesehene Beitrittsfrist schließt ihrem Zweck nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aus. Der Gesetzgeber hat die genannte Frist im Jahre 1981 mit der Neuregelung des Beitrittsrechts der Schwerbehinderten zur Krankenversicherung eingeführt. Wie die gesamte Neuregelung bezweckt auch die Beitrittsfrist, einer mißbräuchlichen Ausübung des Beitrittsrechts entgegenzuwirken, insbesondere zu verhindern, daß der Beitritt erst erklärt wird, wenn größere Krankheitskosten zu erwarten oder bereits entstanden sind (BT-Drucks 9/845, S 12, rechte Spalte unten). Ist dies aber der Zweck der Beitrittsfrist, dann ist es nicht gerechtfertigt, auch solche Schwerbehinderten von der Wiedereröffnung der Frist auszuschließen, die während des Laufs der Beitrittsfrist verhindert waren, ihr Beitrittsrecht auszuüben, die mithin keine Möglichkeit einer Manipulation durch bewußte Verschiebung des Versicherungsrisikos hatten. Daß ihnen der Gesetzgeber das nachträgliche Beitrittsrecht selbst dann hat nehmen wollen, wenn sie ohne Verschulden verhindert waren, den Beitritt rechtzeitig zu erklären, kann jedenfalls bei einer Auslegung der Vorschrift, die sich am Zweck des § 176c RVO nF orientiert und die Interessen der Beteiligten gebührend berücksichtigt, nicht angenommen werden. Solchen Schwerbehinderten muß vielmehr der nachträgliche Beitritt offenstehen, sofern sie die gesetzlichen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung erfüllen (aA Peters/Mengert, Handbuch der Krankenversicherung, 18. Aufl, § 176c, Anm 4). Ob dies beim Kläger der Fall ist, wird das LSG nunmehr zu prüfen haben.
Auf die Revision des Klägers hat der Senat deshalb das Urteil des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückverwiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 1664136 |
BSGE, 153 |