Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfangs- und Erprobungsregelung. Berufsausübung. Bestimmtheitsgrundsatz. Ermächtigungsgrundlage. kassenärztliche Tätigkeit. nichtrevisibles Recht. Honorarbegrenzung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Regelung in einem Honorarverteilungsmaßstab, die der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit präventiv entgegenwirken soll, muß so beschaffen sein, daß sich der Arzt von vornherein darauf einrichten kann, von welchen Grenzbeträgen ab eine übermäßige Ausdehnung seiner Tätigkeit vorliegen wird.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1; RVO § 368f Abs. 1 S. 5; SGB V § 85 Abs. 4 S. 4; SGG § 162

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 20.11.1990; Aktenzeichen L 6 Ka 8/89)

SG Kiel (Urteil vom 05.04.1989; Aktenzeichen S 8 Ka 1/87)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. November 1990 und des Sozialgerichts Kiel vom 5. April 1989 sowie die Honorarbegrenzungsbescheide der Beklagten für die Quartale II/86 und II/87 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 18. November 1986 und 16. November 1987 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht das kassenärztliche Honorar des Klägers für die Quartale II/86 und II/87 wegen übermäßiger Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit begrenzt hat.

Der Kläger ist als Radiologe und Nuklearmediziner in N.… niedergelassen und als Kassenarzt (jetzt: Vertragsarzt) zugelassen. Für die genannten Quartale betrugen seine Honorarforderungen aus ambulanter ärztlicher Versorgung der RVO-Versicherten 153.667,25 DM bzw 145.378,60 DM, seine Fallzahlen 1.435 bzw 1.461. Die durchschnittlichen Honorarforderungen aller in Schleswig-Holstein kassenärztlich tätigen Radiologen und Nuklearmediziner lagen in denselben Quartalen bei 62.722,67 DM bzw 51.644,76 DM, die durchschnittlichen Fallzahlen bei 687 bzw 620. Der Kläger überschritt damit den nach § 11 Abs 1 Satz 1 des Honorarverteilungsmaßstabes der Beklagten (idF vom 4. April 1984 – HVM) maßgebenden Grenzbetrag (= 200 % des Gruppendurchschnitts) im Quartal II/86 um 28.221,91 DM = 22,5 % des Grenzbetrages, im Quartal II/87 um 42.089,08 DM = 40,7 % des Grenzbetrages. Mit Bescheiden vom 15. Oktober 1986 und 15. Oktober 1987 kürzte die Beklagte das Honorar des Klägers für das Quartal II/86 um 45 % des Überschreitungsbetrages = 12.699,85 DM, unter Berücksichtigung der Auszahlungssätze insgesamt um 12.778,45 DM, für das Quartal II/87 um 50 % des Überschreitungsbetrages = 21.044,54 DM, unter Berücksichtigung der Auszahlungssätze insgesamt um 21.133,38 DM.

Die Widersprüche, Klagen und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheide vom 18. November 1986 und 16. November 1987, Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 5. April 1989 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 20. November 1990). Das Berufungsgericht hat ausgeführt: § 11 HVM der Beklagten enthalte eine Regelung der Berufsausübung mit der Möglichkeit, maßvolle Honorarkürzungen vorzunehmen, und verstoße weder gegen § 368f Abs 1 Satz 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch gegen Art 12 Abs 1 oder Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG). Der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) als Normgeber stehe ein erheblicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Diesen habe die Beklagte nicht überschritten. Eine Kürzung komme nach der getroffenen Regelung erst dann in Betracht, wenn die Honorarforderung den Gruppendurchschnitt um mehr als 100 % überschreite. Dieser Ansatz werde zusätzlich relativiert durch die Berücksichtigung der Fallzahlen und insbesondere durch die daran anschließende prozentuale stufenweise Kürzung des Überschreitungsbetrages. Die Regelung sei deshalb im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geeignet, einer übermäßigen Ausdehnung einer Kassenarztpraxis generell entgegenzuwirken. Praxisbesonderheiten müßten nicht gesondert berücksichtigt werden. Vor allem sei der Umfang der apparativen Ausstattung einer Praxis für § 11 HVM ohne Bedeutung. Ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG deswegen, weil der HVM zunächst die Ersatzkassenfälle nicht in die Honorarbegrenzung einbezogen habe, liege nicht vor, weil das Bundessozialgericht (BSG) diese Rechtspraxis jahrelang ausdrücklich toleriert habe. Dieses Grundrecht sei auch nicht deshalb verletzt, weil Radiologen (“Nur-Radiologen”) einerseits und Radiologen sowie Nuklearmediziner andererseits getrennte Gruppen bilden müßten. Von erheblichen Unterschieden zwischen beiden Gruppen bzw von fehlender Homogenität der bisherigen gemeinsamen Gruppe könne nicht gesprochen werden. Beträchtliche Honorar-, insbesondere Sachkostenanteile könnten bereits wegen der Herausnahme der Großgeräte aus der Honorarbegrenzung von der Kürzung gar nicht erfaßt werden. Die verbleibenden Sachkosten seien in den der Bewertung ärztlicher Leistungen zugrundeliegenden Punktzahlen enthalten. Nach den von der Beklagten vorgelegten statistischen Unterlagen unterschieden sich die Fallwerte der für die Quartale II/86 und II/87 aufgeführten 28 Radiologen im RVO-Bereich nicht erheblich von den sieben bzw acht Radiologen/Nuklearmedizinern. Bei Herausnahme sog “Ausreißer”-Fälle liege die Gruppe der Radiologen und Nuklearmediziner sogar typischerweise im Rahmen des Honorardurchschnitts der “Nur-Radiologen”. Die Bildung einer neuen homogenen Vergleichsgruppe von Röntgenologen und Nuklearmedizinern sei bei nur sieben bis acht Praxen wegen der zu geringen Zahl nicht möglich. Mangels ausreichender Erfahrungen müßte im übrigen der KÄV als Normgeber bei komplexen Sachverhalten wie hier angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen mit der Möglichkeit zu typisierender und generalisierender Regelung eingeräumt werden.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 368f Abs 1 Satz 5 RVO sowie der Art 3 Abs 1 und Art 12 Abs 1 GG. Die gesetzliche Vorgabe in § 368f Abs 1 Satz 5 RVO, eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit eines Kassenarztes zu verhindern, solle die persönliche patientenbezogene Leistungserbringung des Arztes sicherstellen. Von Honorarkürzungsmaßnahmen könnten daher nur die ärztlichen Leistungen erfaßt werden, die sich durch persönliche Hinwendung und Behandlung der Patienten auszeichneten. Die Tätigkeit eines Radiologen und Nuklearmediziners konzentriere sich aber im wesentlichen auf medizinisch-technische Leistungserbringung. Sachleistungen könnten nicht durch Honorarkürzungsmaßnahmen beschränkt werden, da es sich hier nicht wie bei den höchstpersönlichen ärztlichen Leistungen um Leistungen handele, die direkt oder indirekt in das Vermögen des. Arzt eingingen und deren Einsatz bzw Umfang er grundsätzlich (über seinen Willen) steuern könne. Um eine übermäßige Ausdehnung kassenärztlicher Tätigkeit zu verhindern, reiche es nicht aus, lediglich die Honorare für die Anwendung medizinischer Großgeräte von der Begrenzung auszunehmen; abzugsfähig müßten vielmehr alle Sachkosten sein, die weder direkt noch indirekt das Bruttoeinkommen des Kläger berührten. Aus den Regelungen im Bereich anderer KÄVen (zB HVM der KÄV Koblenz) sei zu ersehen, daß es möglich sei, vorab die Kosten für ärztliche Sachleistungen zu berücksichtigen. In der mangelnden Differenzierung der Vergleichsgruppen liege ein Verstoß gegen Art 12 Abs 1 GG iVm Art 3 Abs 1 GG. Die Einteilung müsse sich an Fachgebieten orientieren, deren Leistungsspektren eine abweichende Regelung rechtfertigten. Die durchschnittlichen Honorarforderungen der Fachgruppe der Nur-Radiologen sei mit derjenigen der Nuklearmediziner und Radiologen nicht vergleichbar. Die Tätigkeit des Klägers finde ihre Prägung im nuklearmedizinischen Bereich; insoweit seien die Gebührenpositionen mit überdurchschnittlich hohen Punktzahlungen im einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) festgesetzt. Die statistischen Unterlagen der Beklagten zeigten, daß die durchschnittlichen Fallwerte der Nur-Radiologen einerseits und der Radiologen und Nuklearmediziner andererseits erheblich voneinander abwichen. Die Herausnahme sog “Ausreißer ” aus einer Gruppe sei willkürlich. Ein Bestand von neun Praxen in der Gruppe der Radiologen und Nuklearmediziner sei ausreichend, um eine eigene Gruppe zu bilden. Für die Gruppe der Radiologen und Nuklearmediziner hätte sich eine vergleichbare Regelung wie für die Gruppe der Laborärzte (§ 11 Ziff 7 HVM) angeboten, da die Leistungen beider Gruppen vorwiegend im Bereich medizinisch-technischer Verrichtungen lägen. Der HVM der Beklagten und insbesondere dessen § 11 seien schließlich auch deshalb unwirksam, weil sie nicht, wie § 368f Abs 1 Satz 3 RVO vorgeschrieben habe, “im Benehmen” mit den Verbänden der Krankenkassen festgesetzt worden seien.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. November 1990 und des Sozialgerichts Kiel vom 5. April 1989 sowie die Honorarbegrenzungsbescheide der Beklagten für die Quartale II/86 und II/87 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 18. November 1986 und vom 16. November 1987 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichtes vom 20. November 1990 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und tritt der Rechtsauffassung des Klägers entgegen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Die Honorarbegrenzungsbescheide der Beklagten für die Quartale II/86 und II/87 idF der Widerspruchsbescheide vom 18. November 1986 und 16. November 1987 sind mangels hinreichend bestimmter Rechtsgrundlage rechtswidrig und aufzuheben.

Die in den Bescheiden vorgenommenen Honorarbegrenzungen ergingen in Anwendung des § 11 Abs 1 bis 6 des HVM der Beklagten idF vom 4. April 1984. Nach § 11 Abs 1a Satz 1 HVM wurden die nach Prüfung anerkannten Honorarforderungen eines Arztes wegen übermäßiger Ausdehnung kassenärztlicher Tätigkeit begrenzt, wenn die durchschnittliche vierteljährliche Honorarforderung der jeweiligen Arztgruppe (Gruppendurchschnitt) im Bereich der KÄV Schleswig-Holstein um mehr als 100 % (Grenzbetrag) überschritten wurde. Nach § 11 Abs 1b HVM erfolgte eine Honorarbegrenzung nicht, wenn die Fallzahl des Arztes geringer war als 150 % der vierteljährlichen Durchschnittsfallzahl der betreffenden Gruppe. Die Höhe der Honorarbegrenzung wurde durch § 11 Abs 6 HVM zunächst dahin bestimmt, daß allein die den Grenzbetrag überschreitenden Honorarforderungen gekürzt wurden. Berechnet wurden die Kürzungen nach Satz 2 der Vorschrift in der Weise, daß für jeweils 1 % Überschreitung des Grenzbetrages eine Kürzung des Überschreitungsbetrages um 2 % vorgenommen wurde. Die Kürzung durfte sich insgesamt auf höchstens 50 % des Überschreitungsbetrages belaufen.

Bei dem HVM der Beklagten, einer Satzung, handelte es sich um nichtrevisibles Recht. Sein Geltungsbereich erstreckte sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichtes hinaus (§ 162 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Es ist von der Revision nicht vorgetragen und nachgewiesen worden, daß inhaltlich übereinstimmende und zum Zweck der Vereinheitlichung erlassene Vorschriften in anderen Bundesländern bestanden (vgl BSGE 56, 50 f = SozR 2100 § 70 Nr 1 S 7; BSG SozR 4100 § 117 Nr 14 S 65; USK 8665, S 303). Das Berufungsgericht hat die Regelung des § 11 Abs 1 bis 6 HVM zwar nicht im einzelnen ausdrücklich wiedergegeben, sie aber erkennbar dem Inhalt nach seiner Entscheidung zugrunde gelegt und insofern für den Senat gemäß § 163 SGG bindend festgestellt. Nach Maßgabe dieser Feststellung war die Norm allerdings nicht mit höherrangigem (Bundes-)Recht zu vereinbaren und daher unwirksam.

Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß des § 11 HVM als Satzungsteil war der hier noch anzuwendende § 368f Abs 1 Satz 5 RVO (nunmehr § 85 Abs 4 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫). Nach dieser Vorschrift sollte der – gemäß § 368f Abs 1 Satz 3 RVO im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen festzusetzende – HVM “zugleich sicherstellen, daß eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes verhütet wird”. Ziel der Norm war, eine sorgfältige und gründliche Behandlung der Patienten durch eine persönliche Tätigkeit des Kassenarztes zu gewährleisten (BSGE 22, 218, 220 ff = SozR Nr 4 zu § 368f RVO; BSGE 26, 164, 166 = SozR Nr 10 zu § 368f RVO; BSG SozR 2200 § 368f Nr 6 S 10, Nr 8 S 19, Nr 14 S 48). Die durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigte Regelung ermöglichte Eingriffe in den durch Art 12 Abs 1 GG iVm Art 3 Abs 1 GG gesicherten Grundrechtsbereich des betreffenden Kassenarztes. Auf sie als Ermächtigungsgrundlage gestützte weitere Eingriffsbefugnisse untergesetzlicher Rechtsnormen durften aber, um insgesamt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Berufsausübungsregelungen zu genügen, die Grenze des Zumutbaren für den Betroffenen nicht überschreiten. Die gewählten Mittel mußten zudem für das Erreichen des verfolgten Zweckes geeignet und erforderlich sein (vgl zum Ganzen BVerfGE 33, 171, 187; BSG SozR 2200 § 368f Nr 15 S 63 ff mwN; BSG USK 88196, S 987).

§ 368f Abs 1 Satz 5 RVO ließ zur Erreichung des Zwecks einer Begrenzung übermäßiger Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit zwar auch Regelungen zu, aufgrund derer die Vergütung des betroffenen Kassenarztes gekürzt, also sein im übrigen ordnungsgemäß erarbeitetes und abgerechnetes Honorar in der Gesamtsumme beschnitten wurde (BVerfG aaO; BSG SozR 2200 § 368f Nr 14 S 47). Wie schon der Wortlaut der Vorschrift zeigt, bestand ihre Zielrichtung nicht darin, eine eingetretene übermäßige Ausdehnung im nachhinein zu sanktionieren, sondern darin, dieser schon im Ansatz – präventiv – entgegenzuwirken (so bereits BSG SozR 2200 § 368f Nr 6 S 10; Stiller, Der Honoraranspruch des “überbeschäftigten” Kassenarztes, 1992, S 68). Normzweck war mithin, die Praxisführung des Kassenarztes im Blick auf dessen künftiges Verhalten zu beeinflussen (BSG USK 8364, S 290). Eine dem Sinn und Zweck der Vorschrift entsprechende Umsetzung in einem HVM gebot daher eine Festlegung von Grenzbeträgen in der Weise, daß sich der Arzt von vornherein darauf einstellen konnte, von welchen Grenzbeträgen ab eine übermäßige Ausdehnung seiner kassenärztlichen Tätigkeit iS des § 368f Abs 1 Satz 5 RVO vorliegen würde (vgl dazu unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns BSG USK 8364, S 290). Das aber setzte seinerseits voraus, daß der maßgebende Grenzbetrag für ihn schon zu Beginn seiner Arbeit – und nicht erst danach – hinreichend bestimmt oder zumindest hinreichend bestimmbar war. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied der Honorarbegrenzung wegen übermäßiger kassenärztlicher Tätigkeit zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- bzw Verordnungsweise, die bei der sog statistischen Methode auf die Überschreitung von – erst im nachhinein zu ermittelnden – statistischen Durchschnittswerten abhebt; denn diese Vergleichswerte sollen dem Arzt gerade nicht dazu dienen, sein Verhalten an ihnen auszurichten. Sie sind vielmehr der Maßstab zur nachträglichen Überprüfung der Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungs- oder Verordnungsweise.

Regelungen eines HVM, die der Notwendigkeit einer vorherigen Festlegung von Grenzbeträgen nicht gerecht wurden, waren durch die Ermächtigungsgrundlage des § 368f Abs 1 Satz 5 RVO nicht gedeckt. Sie verstießen gegen das sich aus Art 12 Abs 1 GG ergebende Gebot der Geeignetheit des Mittels, mit dem in die grundrechtlich geschützte Freiheit der Berufsausübung des Arztes eingegriffen wurde. Zu diesem Ergebnis führt schon – im Umkehrschluß – die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10. Mai 1972 (BVerfGE 33, 171, 187), wenn in dem damals zu entscheidenden Rechtsstreit die nachträgliche Vergütungskürzung deshalb als taugliches Mittel gewertet wurde, weil es den Kassenärzten in Kenntnis der Vorschrift des HVM und der tatbestandsmäßig deutlichen Ertragsstaffel möglich war, “ihre Tätigkeit im voraus in der erforderlichen Weise einzuschränken”. Honorarbegrenzungsregelungen, die auf einer erst nach Ablauf des jeweiligen Abrechnungszeitraums durchgeführten Ermittlung des maßgebenden Grenzbetrages aufbauten, waren damit mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtlich unwirksam (iE ebenso Henke in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 85 SGB V RdNr 48; Stiller in: GK-SGB V, § 85 RdNr 65; noch zurückhaltender ders, Der Honoraranspruch, S 161).

§ 11 Abs 1 bis 6 HVM der Beklagten entsprach den aufgezeigten Anforderungen nicht. Der für die Honorarkürzung maßgebende Grenzbetrag wurde gemäß § 11 Abs 1a Satz 1 HVM nach der durchschnittlichen vierteljährlichen Honorarforderung der jeweiligen Arztgruppe im Bereich der Beklagten (dem Gruppendurchschnitt) berechnet. Damit stand zwar für die rein rechnerische Durchführung einer Honorarbegrenzung abstrakt fest, bis zu welchem Grenzbetrag eine kassenärztliche Tätigkeit nicht “übermäßig” iS des § 368f Abs 1 Satz 5 RVO war, eine Minderung des Honorars also nicht in Betracht kam. Diese Gewißheit der Begrenzung ergab sich aber erst nach Ablauf des jeweiligen Abrechnungszeitraums, da die Honorarforderung der jeweiligen Arztgruppe faktisch nicht früher beziffert werden konnte. Der Norm konnte somit nicht, wie für die gesetzlich bezweckte Vorbeugung notwendig war, im voraus entnommen werden, wo die maßgebende Schnittstelle zwischen übermäßiger und nicht übermäßiger Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit lag; dem Arzt war es nicht möglich, sich in der Führung seiner Praxis an die gesetzlich beabsichtigte quantitative Vorgabe zu halten. Widersprach damit aber die in § 11 Abs 1a HVM vorgesehene Festsetzung des Grenzbetrages der präventiven Zwecksetzung, die die Ermächtigungsgrundlage des § 368f Abs 1 Satz 5 RVO für eine satzungsmäßige Regelung der Honorarbegrenzung zwingend vorgab, so war die darauf gegründete Gesamtregelung des § 11 Abs 1 bis 6 HVM der Beklagten mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam.

Der Senat hat zwar in seiner bisherigen Rechtsprechung zu diesem Fragenkreis das Erfordernis der vorherigen Festlegung von Grenzbeträgen nicht in den Vordergrund gestellt, zumal sich bei den Entscheidungen, die ähnliche Fallgestaltungen betrafen (vgl BSG SozR 2200 § 368f Nrn 6 und 8), die einschlägigen Regelungen von der hier zu überprüfenden unterschieden und es für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht darauf ankam. Der Senat hat jedoch schon in anderem Zusammenhang auf das Erfordernis der Vorhersehbarkeit einer Honorarbegrenzung hingewiesen (BSG USK 8364, S 290, 291) und hervorgehoben, daß die Festlegung genau bestimmter Punkt- und Fallzahlengrenzbeträge für jeden Kassenarzt klare Verhältnisse schafft (BSG SozR 2200 § 368f Nr 8 S 19).

Für die Geeignetheit der nachträglichen Festsetzung von Grenzbeträgen auf der Grundlage von Gruppendurchschnitten, wie sie § 11 Abs 1a Satz 1 HVM vorsah, kann nicht ins Feld geführt werden, daß sich der Arzt jedenfalls an den Grenzbeträgen früherer Quartale hätte orientieren können, die Maßstäbe und Grenzen seiner künftigen ärztlichen Tätigkeit also für ihn jedenfalls bestimmbar gewesen seien (vgl dazu auch Stiller, Der Honoraranspruch, S 160 f). Auf diese Weise einen hinreichend verläßlichen Anhaltspunkt für die Ausrichtung seiner künftigen kassenärztlichen Tätigkeit zu erhalten, scheiterte bereits daran, daß die durchschnittliche vierteljährliche Honorarforderung der jeweiligen Arztgruppe (der maßgebende Gruppendurchschnitt) von Quartal zu Quartal ebenso schwankte wie die individuelle Honorarforderung des einzelnen Arztes. Dies belegt der vorliegende Fall für den zeitlichen Abstand von einem Jahr. Die Honorarforderung des Klägers sank vom Quartal II/86 zum Quartal II/87 um rund 7,5 %, die durchschnittliche Honorarforderung aller kassenärztlich tätigen Radiologen und Nuklearmediziner um fast 20 %. Die Fallzahl stieg beim Kläger an; die durchschnittliche Fallzahl sank um 10 % ab. Wären die Werte für das Quartal II/86 auch für das Quartal II/87 maßgebend gewesen, hätte die Berechnung des Überschreitungsbetrages wie des Kürzungsbetrages zu erheblich niedrigeren Summen geführt. Ob eine solche Ermittlung der Grundlage für eine Honorarbegrenzung überhaupt angemessen und zulässig hätte sein können, kann an dieser Stelle dahinstehen. An ihr wird jedoch mittelbar nochmals erkennbar, daß eine Berechnung der maßgebenden Grenzbeträge durch nachträgliche Feststellung von Durchschnittswerten, wie sie § 11 Abs 1 bis 3 HVM vorsah und zur Grundlage der Berechnung einer Honorarkürzung machte, nicht als Mittel geeignet war, den von § 368f Abs 1 Satz 5 RVO bezeichneten präventiven Zweck zu erfüllen.

§ 11 Abs 1 bis 6 HVM kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Anfangs- bzw Erprobungsregelung als rechtmäßig angesehen werden. Danach kann dem Normgeber bei der Regelung komplexer Sachverhalte zunächst eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen eingeräumt werden (vgl hierzu etwa BSG SozR 2200 § 368f Nr 14 S 50 mwN). Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die Beklagte noch im Jahre 1986 aufgrund mangelnder Erfahrung gehindert gewesen wäre, im voraus die Grenzbeträge für eine übermäßige Praxisausdehnung zu bestimmen. Auch entsprechende Regelungen in HVMs anderer KÄVen belegen, daß eine vorherige Festlegung möglich und üblich war.

Waren nach allem die Honorarbegrenzungsbescheide der Beklagten für die Quartale II/86 und II/87 idF der Widerspruchsbescheide vom 18. November 1986 und 16. November 1987 schon mangels einer gültigen Rechtsgrundlage rechtswidrig, so konnte dahinstehen, ob sie auch aus den von der Revision geltend gemachten anderen Gesichtspunkten fehlerhaft waren. Aus dem gleichen Grund konnte insbesondere auch offenbleiben, ob der Einwand der Revision, der HVM sei nicht gemäß § 368f Abs 1 Satz 3 RVO “im Benehmen mit den Verbänden der Krankenkassen” zustande gekommen und bereits deshalb unwirksam, unbeachtlich ist, weil er erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (13. Juni 1991) geltend gemacht worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 913323

Breith. 1995, 96

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