Entscheidungsstichwort (Thema)
Abholen eines Kindes aus fremder Obhut auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit. Grund für die Unterbringung. Wechselschicht der Eltern
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Versicherungsschutzes nach § 550 Abs 1 iVm Abs 2 Nr 1 RVO.
Orientierungssatz
1. § 550 Abs 2 Nr 1 RVO setzt nicht voraus, daß beide Elternteile dem Kind in der Wohnung die erforderliche Betreuung deshalb nicht gewähren können, weil sie aus beruflichen Gründen gleichzeitig von der Wohnung abwesend sind. Entscheidend ist vielmehr der Grund für die Unterbringung des Kindes, der sowohl in der beruflichen Tätigkeit der Versicherten wie auch ihres Ehegatten liegen kann.
2. Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 2 Nr 1 RVO ist auch gegeben, wenn während der arbeitsfreien Zeit der Versicherten wegen deren und ihres Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraute Kinder von der Versicherten auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit abgeholt werden, damit sie der an der gemeinsamen Arbeitsstätte tätige Ehegatte nach Beendigung seiner Arbeitszeit nach Hause bringt.
Normenkette
RVO § 550 Abs 2 Nr 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 08.11.1984; Aktenzeichen L 3 U 24/84) |
SG Berlin (Entscheidung vom 27.01.1984; Aktenzeichen S 68 U 219/83) |
Tatbestand
Die Klägerin betrieb gemeinsam mit ihrem Ehemann in B., B. Str., eine Gaststätte, die seit April 1981 von 9.00 Uhr morgens bis ca 1.00 Uhr nachts geöffnet war. Am 13. Oktober 1982 verließ sie gegen 18.00 Uhr die Wohnung der Eheleute in B. W., S. 30, um mit dem Pkw zur Gaststätte zu fahren, wo sie ihren Ehemann bei der Arbeit ablösen wollte. Unterwegs wollte sie ihre beiden damals fünf und sieben Jahre alten Kinder von einem am Weg zur Gaststätte (S. 23) gelegenen Abenteuerspielplatz abholen und zur Gaststätte fahren. Ihr Ehemann sollte die Kinder auf seinem Heimweg zur Wohnung mitnehmen. Am Nachmittag hatte die Klägerin von der Wohnung aus die Kinder gegen 14.00 oder 15.00 Uhr auf den bis 19.00 Uhr geöffneten Spielplatz gebracht, der vom Bund Deutscher Pfadfinder unterhalten und pädagogisch betreut wurde. Der Spielplatz ist eingezäunt und mit einem Haus bebaut, zu dem vom Straßeneingang aus ein befestigter Weg führt. Auf dem Weg vom Straßentor zum Haus, in dem sich die Kinder aufhielten, rutschte die Klägerin aus und stürzte; dabei erlitt sie einen Bruch des linken Unterschenkels. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab (Bescheid vom 26. Januar 1983). Den Widerspruch der Klägerin, mit dem ein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 2 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend gemacht wurde, wies sie zurück, da die Klägerin ihre Kinder nicht wegen ihrer beruflichen Tätigkeit in fremde Obhut habe geben müssen (Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 1983).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Gewährung von Verletztengeld und Verletztenrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 8. November 1984). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Klägerin sei mit dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsraumes und dem Betreten des eingezäunten Grundstücks des Abenteuerspielplatzes von dem Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit abgewichen und habe deshalb im Unfallzeitpunkt nicht nach § 550 Abs 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 550 Abs 2 Nr 1 RVO trotz des Abweichens von dem Weg die Versicherung nicht ausgeschlossen sei, lägen nicht vor. Nach Sinn und Zweck des § 550 Abs 2 Nr 1 RVO müsse das Kind auf dem Weg des Versicherten von der Wohnung zum Ort der Tätigkeit in fremde Obhut gebracht oder auf dem Rückweg vom Ort der Tätigkeit aus der fremden Obhut abgeholt worden sein, weil die Eltern wegen berufsbedingter Abwesenheit das Kind in der Wohnung nicht betreuen konnten. Hier sei es gerade umgekehrt gewesen. Die Kinder hätten sich zu der Zeit in fremder Obhut befunden, als sich die Klägerin in der Wohnung aufhielt, und die Klägerin habe sie aus der Obhut abholen wollen, um sie zur Gaststätte, dem Ort der versicherten Tätigkeit, mitzunehmen. Es sei unerheblich, daß die Klägerin im allgemeinen einen Teil der Zeit, die sie in der Wohnung verbracht habe, für den Betrieb der Gastwirtschaft gearbeitet, zB Wäsche für die Gastwirtschaft gewaschen habe. Am Unfalltag habe die Klägerin während der Abwesenheit der Kinder solche Arbeiten nicht verrichtet, sondern geschlafen. Selbst wenn man - entgegen der Auffassung des LSG - die Wohnung wegen der dort auch für die Gastwirtschaft verrichteten Tätigkeiten als getrennten Teil des Gaststättenbetriebes ansehen könnte, würde dies am Ergebnis nichts ändern, weil ein Weg zwischen zwei Betriebsteilen als Betriebsweg zu beurteilen sei, für den § 550 RVO nicht gelte.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, Versicherungsschutz habe schon nach § 550 Abs 1 RVO bestanden, weil das Abholen der Kinder vom Spielplatz nicht zu einer Unterbrechung geführt habe. Es habe sich vielmehr um einen kurzen Zwischenaufenthalt ohne Einschnitt in den einheitlichen Weg gehandelt. Da hier ein betriebliches Interesse an der Unterbringung der Kinder bestanden habe, seien auch die Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 550 Abs 2 Nr 1 RVO gegeben. Diese Vorschrift sei weit auszulegen, sie enthalte keine Einschränkung für Schichtarbeiter.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Verletztengeld und Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Der Unfall der gemäß § 543 RVO iVm der Satzung der Beklagten als selbständige Gastwirtin und damit als Unternehmerin gegen Arbeitsunfall versicherten Klägerin war ein Arbeitsunfall.
Als Arbeitsunfall (§ 548 RVO) gilt ua ein mit der Tätigkeit einer - wie hier - gemäß § 543 RVO versicherten Unternehmerin zusammenhängender Weg nach dem Ort der Tätigkeit (s § 550 Abs 1 RVO). Auf einem solchen Weg befand die Klägerin sich, als sie am 13. Oktober 1982 gegen 18.00 Uhr ihre Wohnung verließ, um zur Gaststätte - dem Ort ihrer Tätigkeit - zu fahren und dort ihre betriebliche Tätigkeit aufzunehmen. Den Unfall erlitt die Klägerin zwar auf dem Grundstück des unmittelbar am Weg zur Gaststätte gelegenen Abenteuerspielplatzes,wo sie ihre am Nachmittag zur Betreuung untergebrachten Kinder abholen wollte. Sie war damit von dem unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit abgewichen. Nach § 550 Abs 2 Nr 1 RVO ist jedoch die Versicherung nicht ausgeschlossen, wenn die Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil ihr Kind (§ 583 Abs 5), das mit ihr in einem Haushalt lebt, wegen ihrer oder ihres Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraut wird. Entgegen der vom SG und vom LSG geteilten Auffassung der Beklagten sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift für das Fortbestehen des Versicherungsschutzes während des Abweichens vom unmittelbaren Weg zum Ort der Tätigkeit hier gegeben.
Die damals fünf und sieben Jahre alten Kinder der Klägerin, die mit ihr in einem Haushalt lebten, wurden im Haus des Abenteuerspielplatzes nach den Feststellungen des LSG betreut. Sie waren somit fremder Obhut anvertraut (s Brackmann aaO S 486w, 486x). § 550 Abs 2 Nr 1 RVO setzt außerdem voraus, daß die Kinder der fremden Obhut wegen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin oder ihres Ehegatten anvertraut waren. Diese unter den Beteiligten streitige Frage ist nach der Auffassung des Senats ebenfalls zu bejahen, wobei hier dahingestellt bleiben kann, wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn nur einer der Ehegatten berufstätig gewesen wäre.
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin am Unfalltag - wie auch sonst an Tagen, an denen sie abends die Nachtschicht antreten mußte - die Kinder nach dem Mittagessen von der Wohnung zum Spielplatz brachte, um anschließend im Hinblick auf die Nachtschicht in der Wohnung ungestört schlafen zu können. Da die Klägerin überdies schon eine Nachtschicht hinter sich hatte - bei einer Öffnungszeit der Gaststätte bis etwa o1.00 Uhr - und deshalb wegen der morgendlichen Vorbereitung ihrer Kinder für den Besuch der Schule bzw Vorschule nur wenig Schlaf gefunden hatte, hat das LSG insoweit festgestellt, daß ein "durch das Erfordernis des Schlafens vermittelter Ursachenzusammenhang zwischen dem Aufenthalt der Kinder auf dem Spielplatz und der Berufstätigkeit der Klägerin" bestand (s auch BSG NJW 1983, 2286). Es hat aber zu Unrecht daraus nicht gefolgert, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und ihres Ehemannes zum Spielplatz gebracht und damit fremder Obhut anvertraut worden sind. Entgegen der Auffassung des LSG setzt § 550 Abs 2 Nr 1 RVO nicht voraus, daß beide Elternteile dem Kind in der Wohnung die erforderliche Betreuung deshalb nicht gewähren können, weil sie aus beruflichen Gründen gleichzeitig von der Wohnung abwesend sind (s Brackmann aaO S 486x). Entscheidend ist vielmehr der Grund für die Unterbringung des Kindes, der sowohl in der beruflichen Tätigkeit der Versicherten wie auch ihres Ehegatten liegen kann. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Erweiterung des Versicherungsschutzes durch Einfügung des § 550 Abs 2 Nr 1 RVO (§ 550 Satz 2 RVO aF). Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß die Wirtschaft mehr und mehr auch auf die Mitarbeit von Frauen angewiesen sei, die nur berufstätig sein könnten, wenn ihre Kinder während der Arbeit versorgt seien (s BT-Drucks VI/1333 S 2).
Der Ehemann der Klägerin konnte wegen seiner beruflichen Tätigkeit in der Gaststätte und der dadurch bedingten Abwesenheit von der Wohnung die Betreuung der Kinder, um der Klägerin ein für deren berufliche Tätigkeit erforderliches ungestörtes Schlafen zu ermöglichen, nicht übernehmen. Der Klägerin blieb somit nur die Wahl, die Kinder in der Wohnung zu behalten und dadurch den notwendigen Schlaf zu gefährden, sie unbeaufsichtigt außerhalb der Wohnung zu lassen oder - den gegebenen Verhältnissen angemessen - fremder Obhut zu übergeben. Der Anlaß, ihre Kinder fremder Obhut anzuvertrauen, lag für die Klägerin somit darin, daß ihre eigene berufliche Tätigkeit ein ungestörtes Schlafen erforderte und ihr Ehemann, um ihr dies zu ermöglichen, wegen seiner beruflichen Tätigkeit die Betreuung der Kinder zu Hause nicht übernehmen konnte. Die Kinder waren somit wegen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und ihres Ehemannes fremder Obhut anvertraut.
Dem Versicherungsschutz der Klägerin steht auch nicht, wie das LSG meint, entgegen, daß sie ihr Kind auf dem Weg z u m Ort der Tätigkeit nicht fremder Obhut anvertraut, sondern es aus fremder Obhut abgeholt hat. In der Begründung zum Entwurf des § 550 Satz 2 RVO idF des Gesetzes vom 18. März 1971 -BGBl I 237- (jetzt § 550 Abs 2 Nr 1 RVO idF des Gesetzes vom 1. April 1974 -BGBl I 821-) ist zwar ua ausgeführt, der Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit werde unterstellt, wenn der Vater oder die Mutter das Kind in Verbindung mit dem Weg zur Arbeitsstätte fortbringe oder es auf dem Rückweg abhole (BT-Drucks aaO S 2 zu § 2 Nr 1 des Entwurfs). Erkennbar ist damit jedoch nur auf den Regelfall abgestellt, während nach dem zugrunde liegenden, Gesetz gewordenen Wortlaut wie auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auch der hier gegebene Sachverhalt erfaßt ist, daß während der arbeitsfreien Zeit der Versicherten wegen deren und ihres Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraute Kinder von der Versicherten auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit abgeholt werden, damit sie der an der gemeinsamen Arbeitsstätte tätige Ehegatte nach Beendigung seiner Arbeitszeit nach Hause bringt.
Die Klägerin war, als sie ihre Kinder aus der fremden Obhut abholen wollte, um sie anschließend von ihrem Ehemann vom gemeinsamen Ort der Tätigkeit nach Hause bringen zu lassen, von dem unmittelbaren Weg zum Ort der Tätigkeit abgewichen, indem sie sich auf das zur Straße hin durch Einzäunung abgegrenzte Grundstück des Spielplatzes begab. Der Unfall ereignete sich, bevor die Klägerin das Gebäude erreicht hatte, in welchem die Kinder untergebracht waren (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 36). Die Klägerin stand danach im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz.
Da die Klägerin nach den Feststellungen des LSG durch den Unfall einen Unterschenkelbruch erlitten hat, die Unfallfolgen mithin einen Mindestanspruch begründen, über die Höhe der MdE jedoch keine Feststellungen getroffen sind, hat der Senat die Beklagte zur Entschädigungsleistung dem Grunde nach verurteilt.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1665414 |
NJW 1987, 518 |
Streit 1986, 139 |