Entscheidungsstichwort (Thema)
Dienstreise. Fortbildungsveranstaltung. erster Erkundungsgang um Lehrgangsstätte. innerer Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Die für Geschäfts- und Dienstreisen maßgebenden Kriterien zur Abgrenzung der rein persönlichen von den unter Versicherungsschutz stehenden Betätigungen des Versicherten außerhalb des Betriebsortes gelten grundsätzlich entsprechend auch für einen Fall der vorliegenden Art, in dem ein Beschäftigter von seinem Dienstherrn zu einem auswärts stattfindenden, in seinen beruflichen Wirkungskreis fallenden Fortbildungslehrgang abgeordnet wird (vgl BSG vom 9.12.1976 - 2 RU 145/74 = BG 1977, 484, 485).
2. Ein erster Orientierungsgang in einem und um ein als Lehrgangsstätte dienendes Hotel gehört in angemessenem Rahmen zu den Betätigungen, die während einer Dienstreise in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Feststellung, daß der am 10. März 1986 erlittene Kahnbeinbruch an der rechten Hand Folge eines Arbeitsunfalls ist.
Die Klägerin wurde als Angestellte der Bundesanstalt für Arbeit beim Arbeitsamt E. zu einem viertägigen Lehrgang abgeordnet, der am 10. März 1986 um 12.30 Uhr mit dem gemeinsamen Mittagessen im Hotel "H. S. " in H. begann. Die Klägerin erreichte die Lehrgangsstätte gegen 10.35 Uhr mit einem Taxi vom Bahnhof und bezog ihr Zimmer. Kurz nach 11.00 Uhr begann sie einen Orientierungsgang durch das Haus und traf dabei nach ihr eingetroffene Kollegen. Nach einem kurzen Gespräch mit ihnen verließ sie das alleinstehende, an einer öffentlichen Straße gelegene Hotelgebäude, um sich zunächst über die Örtlichkeit zu orientieren. Im Anschluß daran plante sie einen Spaziergang. Etwa 15 bis 16 Meter vom Hotel entfernt rutschte sie auf der vereisten Straße aus, stürzte und zog sich eine Kahnbeinfraktur an der rechten Hand zu. Nach ärztlicher Versorgung nahm sie an dem Lehrgang teil.
Durch Bescheid vom 8. April 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 1987 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen ab, weil die Klägerin sich im Unfallzeitpunkt auf einem unversicherten Spaziergang befunden habe.
Das Sozialgericht Duisburg (SG) hat die Klage durch Urteil vom 13. Juni 1988 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat das Urteil des SG geändert, die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß die am 10. März 1986 erlittene Kahnbeinfraktur Folge eines Arbeitsunfalls ist (Urteil vom 9. August 1989). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Klägerin habe sich bei ihrem Sturz auf einem ersten Orientierungsgang in dem und um das Lehrgangshotel und - noch - nicht auf einem Erholungsspaziergang befunden. Während dieses Ganges sei sie versichert gewesen; dieser habe betrieblichen Zwecken gedient und sei dienstlich verursacht gewesen. Außerdem lasse sich der Versicherungsschutz aus dem Gesichtspunkt einer versicherten Wartezeit begründen. Der Orientierungsgang sei wesentlich von dem Zweck geprägt gewesen, die Wartezeit bis zum Beginn des Lehrgangs sinnvoll auszufüllen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine fehlerhafte Anwendung der §§ 548 Abs 1 und 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach den vom Tatbestand des angefochtenen Urteils in Bezug genommenen Einzelheiten habe sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf der dem Hotel abgewandten Seite der öffentlichen Straße befunden und sich vom Hotel weg bewegt, um dem von ihr behaupteten Orientierungsgang einen (nicht versicherten) Erholungsspaziergang nahtlos anzuschließen. Es stehe fest, daß am Unfallort irgendwelche potentiell gefährlichen Einrichtungen der Übernachtungsstätte nicht vorhanden gewesen seien, die einer unfallversicherungsrechtlich geschützten Erkundung hätten zugänglich sein können. Der Gang der Klägerin sei objektiv betrachtet weder eine erste Orientierung um das Lehrgangshotel zur Inaugenscheinnahme etwa von Eingangstüren oder Notausgängen noch eine erste Orientierung außerhalb des Hotels zur Erkundung derartiger gefährlicher Einrichtungen gewesen. Der gesetzliche Unfallversicherungsschutz der Klägerin lasse sich auch nicht aus dem Gesichtspunkt einer versicherten Wartezeit herleiten. Die Klägerin sei nicht unvorhergesehen aus betrieblichen Gründen verhindert gewesen, die Arbeit zur üblichen Zeit aufzunehmen. Im übrigen sei mit der Ankunft im Hotel die Anreise der Klägerin zu dem dienstlich veranlaßten Lehrgang beendet gewesen, so daß ihr anschließender Aufenthalt am Lehrgangsort nicht unter dem Gesichtspunkt des Versicherungsschutzes nach § 550 Abs 1 RVO zu beurteilen sei. Als Rechtsgrundlage für den Versicherungsschutz der Klägerin im Unfallzeitpunkt komme lediglich § 548 Abs 1 RVO in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. August 1989 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Duisburg vom 13. Juni 1988 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat das LSG zutreffend entschieden, daß die Klägerin am 10. März 1986 einen von der Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall (§ 548 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO) erlitten hat.
§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO setzt voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet hat. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist (Wertung), und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (haftungsbegründende Kausalität). Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) bestehen, der sog innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSGE 63, 273, 274; BSG SozR 2200 § 548 Nr 82). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Die Versicherte befand sich in dem Zeitpunkt, als sie den Unfall erlitt, auf einer vom Arbeitsamt E. angeordneten Dienstreise. Die für Geschäfts- und Dienstreisen maßgebenden Kriterien zur Abgrenzung der rein persönlichen von den unter Versicherungsschutz stehenden Betätigungen des Versicherten außerhalb des Betriebsortes (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 481 v ff mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum) gelten grundsätzlich entsprechend auch für einen Fall der vorliegenden Art, in dem ein Beschäftigter von seinem Dienstherrn zu einem auswärts stattfindenden, in seinen beruflichen Wirkungskreis fallenden Fortbildungslehrgang abgeordnet wird (BSG Urteil vom 9. Dezember 1976 - 2 RU 145/74 - in: BG 1977, 484, 485). Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung betont, daß während einer Dienstreise der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht bei jeder Betätigung schon deshalb ohne weiteres gegeben ist, weil sich der Versicherte - im betrieblichen Interesse - außerhalb seines Beschäftigungs- und Wohnorts aufhalten und bewegen muß. Es kommt vielmehr auch hier darauf an, ob die unfallbringende Betätigung jeweils in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis steht (BSG SozR 2200 § 548 Nr 21, § 762 Nr 2, § 539 Nr 110). Gerade während Dienstreisen, die länger als einen Tag dauern, bieten sich nach der Lebenserfahrung zahlreiche Gelegenheiten, bei denen sich der Reisende außerhalb einer solchen Beziehung zum Unternehmen (Dienststelle) befindet (s BSG SozR 2200 § 548 Nr 95 mwN). Deshalb ist auch hier zu unterscheiden zwischen Betätigungen, die mit der Betriebstätigkeit im inneren Zusammenhang stehen und deshalb versichert sind, und solchen Verrichtungen, die der privaten Sphäre des Reisenden zuzurechnen sind. Der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Reisende sich rein persönlichen, von der Betriebstätigkeit - hier der Teilnahme an einem Fortbildungslehrgang - nicht mehr wesentlich beeinflußten Belangen widmet (BSGE 8, 48, 51; 39, 180, 181; BSG SozR 2200 § 548 Nr 21; Brackmann aaO S 481 v/w mwN). Spaziergänge in der Freizeit einerseits gehören in der Regel zu den Betätigungen, bei denen es an der rechtlich wesentlichen inneren Beziehung zur versicherten Tätigkeit fehlt (BSGE 8, 48, 50), es sei denn, dieser war aus besonderen Gründen notwendig (BSG SozR 2200 § 539 Nr 110). Ein erster Orientierungsgang in dem und um das als Lehrgangsstätte dienende Hotel gehört andererseits in angemessenem Rahmen zu den Betätigungen, die während einer Dienstreise in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. Dieser ist, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls üblich und vernünftig und dient nicht nur dazu, bei mehrtägigen Lehrgängen die Lehrgangsräume und die Unterkünfte zu erkunden. Vielmehr ermöglicht ein solcher Orientierungsgang auch einen reibungslosen Ablauf des Lehrgangs und hilft zudem, mögliche Unfallgefahren frühzeitig zu erkennen und die Rettungswege (Eingangstüren und Notausgänge) besonders im Brandfall auch außerhalb des Hotels kennenzulernen. Je geringer dabei der Versicherte mit den örtlichen Verhältnissen vertraut ist, desto angebrachter ist deren sorgfältige Erkundung. Ein erster Orientierungsgang - in angemessenem Umkreis auch außerhalb der Tagungsstätte - ist wesentlich unternehmensbedingt und daher nicht der rein persönlichen, von der Betriebstätigkeit - hier: der Teilnahme an der Fortbildungsveranstaltung - nicht mehr beeinflußten Sphäre zuzuordnen.
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das LSG mit zutreffenden Erwägungen den Versicherungsschutz für den Unfall vom 10. März 1986 bejaht. Bezüglich des Weges, auf dem die Klägerin an diesem Tage etwa 15 bis 16 Meter vom Hotel entfernt verunglückte, ist das LSG unter Abwägung der hier vorliegenden besonderen Umstände und insbesondere unter Würdigung der ersten an die Beklagte gerichteten Unfallschilderung der Klägerin zu der Überzeugung gelangt, daß sie sich im unmittelbaren und angemessenen Umfeld der Tagungsstätte auf einem Orientierungsgang befand und daß der anschließend geplante Erholungsspaziergang noch nicht begonnen hatte. Hiergegen trägt die Revision nichts vor, was diese Beweiswürdigung des LSG als fehlerhaft erscheinen lassen könnte. Die Beweiswürdigung steht grundsätzlich im freien Ermessen des Tatsachengerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (s Urteil des Senats vom 6. April 1989 - 2 RU 69/87 -). In diesem Rahmen hat die Revision keine zulässigen Rügen erhoben. Sie meint vielmehr, der Gang der Klägerin im Unfallzeitpunkt sei objektiv betrachtet weder eine erste Orientierung um das Lehrgangshotel zur Augenscheineinnahme etwa von Eingangstüren oder Notausgängen noch eine erste Orientierung außerhalb des Hotels zur Erkundung derartiger gefährlicher Einrichtungen gewesen. Damit würdigt die Beklagte im wesentlichen zwar die vorhandenen Beweismittel anders als das LSG; eine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) hat sie nicht dargelegt. Soweit die Beklagte es darüberhinaus darauf abstellt, daß "am konkreten Unfallort irgendwelche potentiell gefährlichen Einrichtungen der Übernachtungsstelle nicht vorhanden waren" (Seite 4 der Revisionsbegründung), kann die rückschauende Betrachtung nicht entscheidend sein, weil die Klägerin - nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - im Unfallzeitpunkt noch damit beschäftigt war, diesen ihr noch unbekannten Umstand erst einmal festzustellen.
Da somit aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht gebunden ist, die Klägerin im Unfallzeitpunkt sich noch auf einem ersten Orientierungsgang um das Lehrgangshotel befand, dieser in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand, hat die Klägerin im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz gestanden, ohne daß es darauf noch ankommt, ob sich der Versicherungsschutz, wie das LSG meint, auch aus dem Gesichtspunkt einer versicherten Wartezeit begründen ließe.
Die Revision der Beklagten war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen