Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente. Berufsunfähigkeit. Lösung vom Beruf. Umschulung. Verweisungstätigkeit. Berufsschutz
Leitsatz (redaktionell)
- Hat der Versicherte gesundheitlich bedingt seinen Beruf aufgegeben, führt die Durchführung einer Umschulung allenfalls zu einem zusätzlichen Verweisungsberuf, nicht aber zum Verlust des Berufsschutzes.
- Auch die Klagerücknahme in einem Rechtsstreit wegen Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit und die fehlende Bereitschaft, eine in diesem Zusammenhang erörterte Verweisungstätigkeit zu ergreifen, sind keine Indizien dafür, dass sich der Versicherte nach einer gesundheitlich erzwungenen Berufsaufgabe freiwillig von seinem erlernten Beruf gelöst hat.
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 a.F.
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. März 2003 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der am 30. Juli 1951 geborene Kläger begehrt eine Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU-Rente).
Er hatte den Beruf eines Fliesenlegers erlernt und am 18. Oktober 1968 die Gesellenprüfung mit Erfolg abgelegt. Anschließend war er in diesem Beruf – abgesehen von einer viermonatigen Tätigkeit als Lagerarbeiter sowie der Zeit des Grundwehrdienstes – bis zum 16. Dezember 1974 tätig. Anschließend bezog er bis zum 31. März 1975 Leistungen wegen Arbeitslosigkeit und war selbstständiger Gastwirt sowie ab November 1976 Mietwagenfahrer. Einen im Jahre 1978 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit hatte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Februar 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Mai 1979 zurückgewiesen. Das vom Kläger angerufene Sozialgericht Würzburg (SG) hatte im Verfahren mit dem Aktenzeichen S 4/Ar 299/79 die ärztlichen Unterlagen der Arbeitsverwaltung beigezogen, in denen die Einstellung der Tätigkeit als Fliesenleger auf ein Wirbelsäulen- und Kniegelenkleiden zurückgeführt wurde, dessentwegen der Kläger diesen Beruf auf Dauer nicht mehr ausüben könne (arbeitsamtsärztliche Gutachten vom 11. Februar 1975 und vom 4. Mai 1979, Gutachten Prof. Dr. H… vom 8. Januar 1979). Deshalb war trotz psychologischer Bedenken (Eignungsgutachten vom 21. Juni 1979, Gesamtplan vom 8. Mai 1980) am 1. September 1980 eine zweijährige Umschulung als Bauzeichner in Angriff genommen worden, die aber nach kurzer Zeit abgebrochen wurde. Das SG hatte das Verfahren zum Ruhen gebracht und nicht wieder aufgenommen.
Mitte 1983 stellte der Kläger erneut einen Rentenantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 13. Januar 1984 ablehnte. Die dagegen zum SG erhobene Klage mit dem Aktenzeichen S 3/Ar 92/84 nahm der Kläger zur Niederschrift am 12. November 1985 bei folgendem Verfahrensstand zurück: Nach dem Gutachten des Orthopäden Dr. B… H… vom 13. Juni 1985 war der Kläger wegen verbildender Veränderungen des rechten Kniegelenks nach Operation im Jahre 1972 und rezidivierender Wirbelsäulenbeschwerden bei Bandscheibenschaden L 5/S1 und Spaltbildung sowie einer endgradigen Beugebeeinträchtigung des linken Ellenbogens nicht mehr in der Lage, den erlernten Beruf eines Fliesenlegers auszuüben. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wurden dagegen vom Sachverständigen – mit Einschränkungen – vollschichtig für zumutbar erachtet. Die Beklagte hatte vorgetragen, der Kläger müsse sich, wenn er den Beruf eines Fliesenlegers nicht mehr ausüben könne, zumutbar auf die Tätigkeiten als Taxifahrer, Lager- oder Magazinverwalter, Werkstattschreiber sowie auf das weite Feld der Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten verweisen lassen. Ebenso könne er als Prüfer von Härtegut oder von Drehteilen sowie als Entgrater von Kunststoffpressteilen oder als Stanzer, Bieger und Presser tätig sein. In der Folgezeit arbeitete der Kläger von 1985 bis 1989 als Kraftfahrer, in der Zeit vom April 1995 bis November 1996 führte er als Selbstständiger Entrümpelungen und Bauhilfsarbeiten durch.
Am 29. Juli 1997 stellte der Kläger den dritten Rentenantrag, den die Beklagte mit dem jetzt angefochtenen Bescheid vom 1. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 1997 ablehnte. Sie stützte sich dabei im Wesentlichen auf den Entlassungsbericht nach einem Heilverfahren in der Zeit vom 25. Juni 1997 bis 16. Juli 1997 in der S… klinik in Bad B… (Gonarthrose rechts, chronisches rezidivierendes LWS-Syndrom bei Wirbelgleiten L 5/S1 und degenerativen Veränderungen, HWS-Syndrom mit Cervicobrachialgie, Bewegungseinschränkungen linkes Ellenbogengelenk, beginnende Coxarthorse beidseits) und vertrat die Auffassung, es sei weder der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit noch der BU eingetreten, weil der Kläger noch leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten könne. Nach seinem beruflichen Werdegang sei er mit Blick auf die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit als Kraftfahrer auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
Das vom Kläger angerufene SG hat auf der Grundlage der Gutachten des Internisten Prof. Dr. H… Z… vom 9. April 1999 und des nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) benannten Orthopäden S… vom 28. Februar 2000, einer prüfärztlichen Stellungnahme vom 27. März 2000 sowie eines Terminsgutachtens, erstattet von Dr. R…, mit Urteil vom 11. Juli 2000 die Klage abgewiesen: Die eingeholten Gutachten hätten die bereits von der Beklagten festgestellten Gesundheitsstörungen bestätigt, entgegen der Meinung des Sachverständigen Schürkens bestehe aber – mit Einschränkungen – ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Der Kläger sei wegen seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als selbstständiger Entrümpler und Bauhilfsarbeiter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger vorgetragen, er genieße Berufsschutz als Fliesenleger, er habe diesen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Als gerichtlich bestellter Sachverständiger hat der Orthopäde Dr. W… das Gutachten vom 20. Dezember 2001 erstattet. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger insbesondere wegen der Kniegelenksbeschwerden mit Einschränkungen nur noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts vollschichtig verrichten könne, keinesfalls diejenigen eines Bauhilfsarbeiters. Diese Beurteilung hat der vom Kläger nach § 109 SGG benannte Orthopäde Dr. M… im Gutachten vom 3. Februar 2003 bestätigt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26. März 2003 beschränkte der Kläger die Klage und beantragte nur noch, auf den Antrag vom 29. Juli 1997 eine BU-Rente zu gewähren.
Mit Urteil vom 26. März 2003 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die Berufung gegen das Urteil des SG vom 11. Juli 2000 zurückgewiesen: Der Versicherungsfall der BU sei nicht eingetreten. Nach den eingeholten Gutachten sei der Kläger weiterhin in der Lage, unter bestimmten Einschränkungen vollschichtig leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten. Als Fliesenleger oder Bauhilfsarbeiter könne der Kläger zwar wegen der Knie- und Lendenwirbelsäulenerkrankung nicht mehr eingesetzt werden. Dies bedeute aber nicht, dass der Kläger berufsunfähig sei, denn “bisheriger Beruf” sei nicht derjenige eines Fliesenlegers, sondern der eines angelernten Kraftfahrers, wofür bis Oktober 1990 Pflichtbeiträge entrichtet worden seien. Es könne nach den vorhandenen Unterlagen zwar davon ausgegangen werden, dass letztlich gesundheitliche Gründe zur Aufgabe der Tätigkeit als Fliesenleger geführt hätten und sich der Kläger deshalb im Jahre 1976 anderen versicherungspflichtigen Tätigkeiten zugewendet habe (Bezugnahme auf das Gutachten des Orthopäden Dr. H… vom 13. Juni 1985). Der Kläger habe sich bei seinem beruflichen Werdegang (Mietwagenfahrer, Auslieferungsfahrer, selbstständige Tätigkeit als Bauarbeiter und Entrümpler) zwar nicht im Jahre 1974 vom Facharbeiterberuf des Fliesenlegers gelöst, er habe “diese Lösung im rentenrechtlichen Sinne aber spätestens mit der Beendigung des (zweiten) Klageverfahrens wegen Gewährung von BU-Rente im Jahre 1985 vollzogen”. Nachdem vorher eine Umschulung zum Bauzeichner gescheitert sei, habe er das zweite Klageverfahren, in dem auch zumutbare Verweisungstätigkeiten diskutiert worden seien, durch “Rücknahme bzw Nichtfortführung des Verfahrens” beendet. In Kenntnis der Verweisungsmöglichkeiten habe er die Klage zurückgenommen und in der Folgezeit keinen Versuch unternommen, eine höherwertige Tätigkeit als die eines Kraftfahrers aufzunehmen. Es könne deshalb davon ausgegangen werden, “dass sich der Kläger mit der seit 1976 ausgeübten Fahrertätigkeit abgefunden hat”. Spätestens seitdem sei ihm klar geworden, dass er seinen künftigen Lebensunterhalt nicht aus Leistungen der Rentenversicherung wegen BU bestreiten würde, sondern dass sein “neuer Beruf” als Mietwagenfahrer und später Auslieferungsfahrer künftig die für seinen Lebensunterhalt bestimmende Erwerbstätigkeit sein würde. Als einfach angelernter Arbeiter sei der Kläger auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, ohne dass wegen einer schweren spezifischen Behinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen eine Verweisungstätigkeit benannt werden müsse.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 43 Abs 1 und 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) aF. Bisheriger Beruf bei der Beurteilung von BU sei derjenige eines Fliesenlegers, der nach den Feststellungen des LSG im Jahre 1974 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben worden sei. Damit bleibe der Berufsschutz erhalten, weil sich das versicherte Risiko verwirklicht habe. Für die Lösung vom Beruf im Jahre 1974 seien weder betriebliche noch technische Entwicklungen ursächlich gewesen. Allein aus einem sozialadäquaten Verhalten, den Lebensunterhalt nach Kräften zu verdienen und so der Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfebedürftigkeit zu entgehen, dürfe ihm kein Nachteil erwachsen. Gleiches gelte für die Klagerücknahme im Jahre 1985 und das Nichtergreifen der vorher von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten. Es habe sich zum Teil um ungelernte Tätigkeiten gehandelt, auch eine ggf notwendige Einarbeitungszeit sei nicht abgeklärt worden. Entscheidend sei aber, dass niemals in der Rechtsprechung oder der Literatur eine Verpflichtung des Versicherten angenommen worden sei, eine solche – abstrakt und als Möglichkeit – benannte Verweisungstätigkeit auch tatsächlich zu ergreifen. Denn für deren ggf rechtlich erforderliche Benennung sei es unerheblich, ob entsprechende Arbeitsplätze frei oder besetzt seien, ob freie Arbeitsplätze konkret angeboten werden könnten, wie viele Bewerber der absoluten Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze gegenüberstünden oder ob der Versicherte diese ohne Umzug täglich in angemessener Zeit erreichen könne.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. März 2003 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11. Juli 2000 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 1. September 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 1997 zu verurteilen, dem Kläger auf Grund des Antrags vom 29. Juli 1997 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Juli 2004 (B 4 RA 5/04 R – veröffentlicht in JURIS) und trägt vor, auch bei Aufgabe einer höherqualifizierten Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen sei in der Folge zu prüfen, ob diese Tätigkeit der maßgebliche Hauptberuf geblieben sei, oder ob der Versicherte diesen dennoch freiwillig aufgegeben bzw sich mit dem Verlust seines erlernten Berufs abgefunden habe. Dazu sei der berufliche Werdegang heranzuziehen. Der Kläger habe sich niemals um die Aufnahme einer qualifizierten Tätigkeit bemüht und allenfalls eine auf Angelerntenniveau angesiedelte Beschäftigung als Fahrer ergriffen. Damit habe er sich erkennbar vom bisherigen Beruf abgewandt und sich mit der neuen Tätigkeit abgefunden. Die Beendigung des zweiten Klageverfahrens durch Klagerücknahme “dokumentiere diese Entwicklung nach außen”. Nicht die Tatsache der Klagerücknahme als solche sei “Auslöser für die Lösung vom Facharbeiterberuf, sondern die im Zusammenhang mit der lebensgeschichtlichen und beruflichen Entwicklung stehenden Entscheidungen und Tathandlungen des Klägers”.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Die Sache ist an das LSG zurückzuverweisen, weil noch weitere Ermittlungen erforderlich sind, um entscheiden zu können, ob der Versicherungsfall der BU eingetreten ist.
Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU richtet sich noch nach § 43 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung. Die ab 1. Januar 2001 in Kraft getretene Neuregelung der letztgenannten Vorschrift durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I 1827) ist nicht anwendbar (vgl § 300 Abs 2 SGB VI). Unstreitig hat der Kläger die erforderliche allgemeine Wartezeit (vgl § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI) erfüllt, und es waren drei Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Versicherungsfalls belegt (§ 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI), wenn zB vom Zeitpunkt der Antragstellung am 29. Juli 1997 ausgegangen wird. Dies hat die Beklagte mit Bescheid vom 1. September 1997 eigens festgestellt. Streit besteht allein darüber, ob beim Kläger BU vorliegt (§ 43 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Abs 2 SGB VI), also seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Ausgangspunkt für die Beurteilung von BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der “bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat. Dies ist in der Regel die letzte nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit.
Die nach den Feststellungen des LSG vom Kläger zuletzt ausgeübte versicherungspflichtige Tätigkeit eines (einfach) angelernten Kraftfahrers ist jedoch dann nicht sein bisheriger Beruf im Rechtssinne, wenn er zuvor eine nach dem vom BSG entwickelten Mehrstufenschema höherwertige Tätigkeit ausgeübt und keine sog “Lösung” von diesem Beruf stattgefunden hat (vgl BSG Urteil vom 13. Dezember 1984 – 11 RA 72/83 – BSGE 57, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 126). Unstreitig hatte der Kläger den anerkannten Ausbildungsberuf eines Fliesenlegers erlernt und in diesem Beruf bis Dezember 1974 versicherungspflichtig gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Wartezeit von 60 Monaten mit Pflichtbeiträgen erfüllt. Es handelt sich um eine Qualifikation, die nach dem Mehrstufenschema dem Leitberuf eines Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren) zuzuordnen ist (vgl zB BSG Urteil vom 28. November 1985 – 4a RJ 51/84 – BSGE 59, 201 = SozR 2200 § 1246 Nr 132; Urteil vom 9. September 1986 – 5b RJ 82/85 – SozR 2200 § 1246 Nr 140).
Von diesem Beruf hat sich der Kläger nicht im rentenrechtlichen Sinne “gelöst”.
Unter welchen Voraussetzungen eine “Lösung” von einer höherqualifizierten Tätigkeit im Sinne des Mehrstufenschemas erfolgt, hat der 13. Senat des BSG in jüngerer Zeit in den Urteilen vom 20. Juli 2002 – B 13 RJ 13/02 R – und 21. Juni 2001 – B 13 RJ 45/00 R – (beide veröffentlicht in JURIS) zusammengefasst:
Eine berufliche Lösung ist immer dann zu bejahen, wenn der rentenrechtlich relevante Berufswechsel freiwillig erfolgt (vgl dazu BSG, Urteil vom 26. Mai 1965 – 4 RJ 183/62 – SozEntsch BSG 5 § 1246 (A) Nr 18). Wurde die Arbeit dagegen gezwungenermaßen aufgegeben, ist zu unterscheiden: Waren dafür gesundheitliche Gründe verantwortlich, bleibt in der Regel der Berufsschutz erhalten, da sich insofern gerade das versicherte Risiko der gesetzlichen Rentenversicherung verwirklicht hat (vgl Senatsurteil vom 9. Februar 1956 – 5 RKn 7/55 – BSGE 2, 182, 187; BSG vom 28. Mai 1963 – 12/3 RJ 44/61 – SozR Nr 33 zu § 1246 RVO; BSG vom 12. Oktober 1993 – 13 RJ 71/92 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 38). Dabei müssen die gesundheitlichen Gründe nicht allein ursächlich gewesen sein; ausreichend ist, dass sie den Berufswechsel wesentlich mitverursacht haben (vgl Senatsurteil vom 27. Juni 1974 – 5 RKn 38/73 – BSGE 38, 14 ff = SozR 2600 § 45 Nr 6).
Lagen hingegen andere – insbesondere betriebliche – Gründe vor, ist eine Lösung vom höherwertigen Beruf jedenfalls dann anzunehmen, wenn sich der Versicherte sofort oder im Laufe der Zeit mit dem Wechsel endgültig abgefunden hat (vgl Senatsurteil vom 9. November 1961 – 5 RKn 23/59 – BSGE 15, 212, 214 = SozR Nr 16 zu § 35 RKG aF; Senatsurteil vom 25. April 1978 – 5 RKn 9/77 – BSGE 46, 121, 123 = SozR 2600 § 45 Nr 22; Senatsurteil vom 30. Juli 1997 – 5 RJ 20/97 – veröffentlicht in JURIS). Das muss nicht freiwillig sein, sondern kann auch unter dem Druck der Verhältnisse geschehen (vgl Senatsurteil vom 25. April 1978 – 5 RKn 9/77 – BSGE 46, 121 = SozR 2600 § 45 Nr 22 mwN). Nur wenn sich der Versicherte mit der dauerhaften Ausübung des geringerwertigen Berufs deshalb abfindet, weil er zur Wiederaufnahme der früheren höherwertigen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen dauernd außer Stande ist, bleibt der Berufsschutz erhalten (vgl BSG, Urteil vom 22. März 1988 – 8/5a RKn 9/86 – SozR 2200 § 1246 Nr 158 S 513).
Durch die Rechtsprechung des BSG ist deshalb geklärt, dass eine auf gesundheitlichen Gründen beruhende Lösung vom höherwertigen Beruf für den Rentenanspruch wegen BU grundsätzlich unschädlich ist und eine Ausnahme nur dann in Betracht kommt, wenn andere als gesundheitliche Gründe den Versicherten veranlassen, sich (resignierend) mit der dauerhaften Ausübung des neuen, minderqualifizierten Berufs abzufinden. Der aufgezeigte Grundsatz trägt zB auch dann, wenn der Versicherte nach gesundheitsbedingter Aufgabe der qualifizierten Tätigkeit eine Arbeit gefunden hat, die solche Vorzüge hinsichtlich der Belastungen, der Entlohnung, der Arbeitsbedingungen sowie der sozialen Wertigkeit aufweist, dass eine Rückkehr in den alten Beruf bei objektiver Wertung unwahrscheinlich ist – unabhängig davon, ob dem gesundheitliche Gründe noch entgegenstehen (Senatsurteil vom 7. September 1961 – 5 RKn 56/58 – SozR Nr 18 zu § 35 RKG aF und BSG Urteil vom 28. Mai 1963 – 12/3 RJ 44/61 – SozR Nr 33 zu § 1246 RVO). Denn in einem derartigen Fall wird der Versicherte nicht mehr (nur) durch gesundheitliche Gründe im neuen Beruf gehalten. Eine zunächst gesundheitlich motivierte Berufsaufgabe kann auch dadurch eine andere Qualität erhalten, dass nunmehr ein durch massenhafte Abkehr von einer verbreiteten und beschwerlichen Facharbeitertätigkeit gekennzeichneter Wandel im Berufsbild des früheren Berufs die Rückkehr kaum noch plausibel erscheinen lässt (so für den Beruf des Bäckers vgl BSG Urteil vom 27. April 1979 – 4 RJ 107/77 – Praxis 1979, 570). In diesem Sinne fügt sich auch die von der Beklagten angeführte Entscheidung des 4. Senats vom 29. Juli 2004 (B 4 RA 5/04 R – veröffentlicht in JURIS) in die dargestellte Rechtsprechung ein. Wenn dort dem LSG ungeachtet der gesundheitsbedingten Berufsaufgabe zu prüfen aufgegeben wird, ob die frühere Tätigkeit als “wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verkehrskombinat O…” maßgeblicher Hauptberuf geblieben sei, oder ob der Versicherte ihn “freiwillig” aufgegeben bzw sich mit seinem Verlust dauerhaft abgefunden habe, so steht dieser Satz in engem Zusammenhang mit den Zweifeln des 4. Senats, “ob es diesen Beruf im streitigen Zeitraum noch mit demselben qualitativen Niveau iS des Mehrstufenschemas noch gab”, die mit Rücksicht auf den Werdegang des dortigen Klägers in der DDR als Offizier und “Staatswissenschaftler”, Jugendoffizier der politischen Abteilung der Volkspolizei, Propagandist und Lehrer beim FDGB durchaus nahe lagen. Auch dieser Hinweis steht infolgedessen mit der bisherigen Rechtsprechung im Einklang: Existiert der Hauptberuf in seiner bisherigen Qualität nicht mehr, kann der Versicherte auch nicht durch gesundheitliche Gründe gehindert sein, ihn wieder aufzunehmen.
Mit den dargestellten Sachverhalten, in denen trotz gesundheitlich bedingter Berufsaufgabe eine Lösung vom Beruf zu erwägen war, hat der Fall des Klägers nichts gemein. Es gibt keinen Anhalt für einen aus irgendwelchen Gründen ohnehin zu vollziehenden Berufswechsel, nachdem der Kläger den Fliesenlegerberuf nach den Feststellungen des LSG gesundheitsbedingt aufgeben musste. Demzufolge kommt auch keine rechtliche Lösung von diesem Beruf in Betracht, weil sich der Hauptberuf grundlegend gewandelt oder der Kläger sich dem Druck der Verhältnisse gebeugt hätte; der reine Zeitablauf kann dem Kläger nach der einschlägigen Rechtsprechung nicht entgegengehalten werden. Da die vielen ergriffenen Ausweichtätigkeiten nicht an den erworbenen Facharbeiterstatus heranreichen, blieb der Berufsschutz des Klägers seit 1974 erhalten.
Zu Recht beanstandet der Kläger, dass die tragende Argumentation des LSG von der bisherigen Rechtsprechung des BSG nicht gedeckt ist. Abgesehen davon, dass die Beklagte keinen Versagensbescheid nach § 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch erlassen hat, würde eine Umschulung allenfalls zu einem zusätzlichen Verweisungsberuf, aber nicht zum Verlust des Berufsschutzes führen (vgl § 43 Abs 2 Satz 3 SGB VI aF); ein Abbruch der Umschulung aus vom Kläger zu vertretenden Gründen (für die den Akten keinerlei Anhalt zu entnehmen ist) könnte keine weiterreichenden Wirkungen haben. Auch die Klagerücknahme in einem Rechtsstreit um die wiederholt angestrebte BU-Rente und die fehlende Bereitschaft, eine der in diesem Zusammenhang erörterten Verweisungstätigkeiten zu ergreifen, sind nach der dargestellten Rechtsprechung keine Indizien dafür, dass sich der Versicherte nach einer gesundheitlich erzwungenen Berufsaufgabe schließlich dann doch von seinem erlernten Beruf freiwillig gelöst hat. Einerseits ist völlig offen, ob die behaupteten Verweisungstätigkeiten einer rechtlichen Prüfung hinsichtlich ihrer Zumutbarkeit und ihrer Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt standgehalten hätten. Andererseits kann es nicht zum Verlust des Berufsschutzes führen, wenn der Versicherte sich durch eine (möglicherweise rechtlich problematische) Rentenablehnung veranlasst sieht, irgendeine ihm gebotene Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebedürftigkeit zu vermeiden.
Das LSG wird also, ausgehend von einem Berufsschutz des Klägers abzuklären haben, ob und ggf seit wann im streitgegenständlichen Zeitraum der Versicherungsfall der BU eingetreten ist. Dies hängt davon ab, ob der Kläger nach seinen Kenntnissen, physischen und psychischen Fähigkeiten unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen in ihrer Ausprägung seit dem (dritten) Rentenantrag eine iS des Mehrstufenschemas des BSG zumutbare Erwerbstätigkeit ergreifen kann (zu den Anforderungen an die Verweisungstätigkeit bei Facharbeitern vgl zusammenfassend Senatsurteil vom 3. Juli 2002 – B 5 RJ 18/01 R – veröffentlicht in JURIS).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1394996 |
SGb 2005, 337 |