Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Beteiligtenfähigkeit. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Einkommenseinsatz. Kindergeld des volljährigen Kindes außerhalb des Elternhaushaltes. Weiterleitung. keine Anrechnung bei Kindergeldberechtigtem
Orientierungssatz
1. Zur Beteiligtenfähigkeit eines Oberbürgermeisters einer kreisfreien Stadt in Nordrhein-Westfalen als Behörde gem § 70 Nr 3 SGG iVm § 3 SGGAG NW.
2. Von einer vollen Erwerbsminderung iS von § 43 Abs 2 SGB 6 ist nicht schon deshalb auszugehen, weil der Hilfebedürftige im betreuten Wohnen lebt und eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) ausübt.
3. Bei einem Streit über die Leistungshöhe sind grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen über Grund und Höhe der Leistungen zu prüfen und etwaige Änderungen in den Verhältnissen - etwa ein schwankendes Einkommen - zu berücksichtigen (vgl BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 23/06 R = FamRZ 2008, 1068). Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beteiligten ausschließlich die Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen problematisieren und die übrige Berechnung nicht angegriffen wird. Insoweit handelt es sich nur um ein nicht gesondert anfechtbares Berechnungselement der geltend gemachten höheren Leistung (vgl BSG, aaO).
4. Das an ein Elternteil als Kindergeldberechtigten ausgezahlte Kindergeld ist nur als Einkommen des volljährigen, außerhalb des Haushalts lebenden Kindes zu berücksichtigen, soweit es ihm zeitnah zugewendet wird (innerhalb eines Monats nach Auszahlung bzw Überweisung des Kindergeldes) und ohne die "Weiterleitung" die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes gem § 74 EStG durch Verwaltungsakt zugunsten des Kindes vorliegen würden (vgl BSG, aaO).
5. Die Berücksichtigung des Kindergeldes lässt sich auch nicht aus dem sog Selbsthilfegrundsatz des § 2 Abs 1 SGB 12 mit der Begründung herleiten, das volljährige, außerhalb des Elternhaushalts lebende Kind könne und müsse einen Antrag nach § 74 Abs1 S 1 EStG auf Abzweigung des Kindergeldes an sich stellen. Denn zum einen stellt die Regelung des § 2 SGB 12 keinen eigenständigen Ausschlusstatbestand dar, sondern ist nur ein Gebot der Sozialhilfe. Zum anderen ist auch das volljährige, außerhalb des Elternhaushalts lebende Kind grundsätzlich nicht verpflichtet, einen Abzweigungsantrag nach § 74 Abs 1 EStG zu stellen.
Normenkette
SGB 12 § 2 Abs. 1 Fassung: 2003-12-27; SGB 12 § 41 Abs. 2 Fassung: 2003-12-27; SGB 12 §§ 41ff Fassung: 2003-12-27; SGB 12 § 82 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-12-27, S. 2 Fassung: 2003-12-27; SGB 12 § 97 Abs. 1 Fassung: 2003-12-27; EStG § 74 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2002-10-19; SGB 6 § 43 Abs. 2; SGB 9 § 136; SGB 9 §§ 136ff; SGG § 70 Nr. 3; SGGAG NW § 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit sind höhere Leistungen (zusätzlich 154,00 Euro monatlich) der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2005.
Der 1969 geborene Kläger ist behindert. Er lebt außerhalb des elterlichen Haushalts in einer eigenen Wohnung im Rahmen eines betreuten Wohnens und ist in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt. Für seine Tätigkeit erhält er eine Lohnprämie. Das für ihn geleistete Kindergeld (154,00 Euro monatlich) wird an einen Elternteil ausgezahlt; dem Kläger wird das Kindergeld von dem Elternteil nicht zugewendet. Der Kläger hat auch keinen Antrag auf Zahlung des Kindergeldes im Wege der Abzweigung an sich selbst gestellt.
Der Beklagte bewilligte nach Ablauf des letzten Bewilligungsabschnitts auf Antrag vom 15. November 2004 für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2005 Grundsicherungsleistungen in Höhe von 516,10 Euro monatlich (Bescheide vom 21. Dezember 2004 und 21. Januar 2005; Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2005). Das für den Kläger an ein Elternteil gezahlte Kindergeld wurde bei der Berechnung der Leistung als Einkommen des Klägers leistungsmindernd berücksichtigt.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat den Beklagten unter "teilweiser Aufhebung und Änderung des Bescheides vom 21.12.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.2.2005 verurteilt, weitere Grundsicherungsleistungen in Höhe von 154,00 Euro monatlich zu zahlen" (Urteil vom 27. November 2006). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. März 2007). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, Kindergeld sei kein Einkommen des Kindes, es diene dem Familienlastenausgleich. Ob das Kindergeld bei einer Auszahlung an das Kind selbst im Wege der Abzweigung nach § 74 Abs 1 Einkommensteuergesetz (EStG) als eigenes Einkommen des Kindes zu berücksichtigen sei, brauche nicht entschieden zu werden. Der Kläger erhalte das Kindergeld nicht selbst; er habe auch keinen Abzweigungsantrag gestellt. Insofern treffe ihn auch keine Obliegenheit zur Selbsthilfe.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 SGB XII. Das Urteil des LSG sei mit dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe nicht vereinbar. Das Kindergeld sei zwar kein Einkommen des Kindes, sondern stehe dem kindergeldberechtigten Elternteil als eine Art Familienlastenausgleich zu. Jedoch eröffne die Vorschrift des § 74 EStG unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, das Kindergeld direkt an das Kind auszuzahlen. In diesem Falle wäre es Einkommen des Kindes und bei der Berechnung der Leistungen nach dem SGB XII zu berücksichtigen. Das LSG beachte bei seiner Entscheidung nicht, dass der Kläger nicht im Haushalt der Eltern wohne und durch die Unterbringung in einer eigenen Wohnung sowie den Bezug von Grundsicherungsleistungen und einer Lohnprämie von Unterhaltsleistungen der Eltern unabhängig sei und deshalb kein Grund bestehe, den kindergeldberechtigten Eltern einen Familienlastenausgleich zu gewähren. Bei den Eltern fehle jeglicher Aufwand für das Kind. Der Kläger sei im Rahmen der Selbsthilfemöglichkeit verpflichtet, einen Abzweigungsantrag zu stellen. Einen solchen könne nach § 74 Abs 1 Satz 4 EStG sogar er selbst (der Sozialhilfeträger) stellen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, die Entscheidung des LSG sei nicht zu beanstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Ob dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2005 höhere Grundsicherungsleistungen (154,00 Euro monatlich) zustehen, kann nicht abschließend entschieden werden. Es fehlen bereits hinreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) zu den Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen nach § 19 Abs 2 SGB XII iVm §§ 41 ff SGB XII, die es dem Senat ermöglichen würden, Grund und Höhe eines Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen zu prüfen. Zu Recht hat es das LSG aber abgelehnt, das Kindergeld als Einkommen des Klägers zu berücksichtigen.
Gegenstand des Verfahrens ist, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, nicht nur der Bescheid vom 21. Dezember 2004, sondern auch der von der Widerspruchsbehörde nicht ausdrücklich bezeichnete, aber sachlich einbezogene Bescheid vom 21. Januar 2005, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2005. Der Bescheid vom 21. Januar 2005 ist während des Vorverfahrens ergangen und betrifft den Zeitraum vom 1. Februar bis 31. Dezember 2005, der auch schon von dem Bescheid vom 21. Dezember 2004 umfasst war. Er ersetzt insoweit den Bescheid vom 21. Dezember 2004 und ist nach § 86 SGG (auch) Gegenstand des Vorverfahrens geworden. Mit dieser Feststellung hätte sich das LSG allerdings nicht begnügen dürfen. Es hätte diesen Bescheid vielmehr - wie schon das SG - auch im Entscheidungstenor aufnehmen müssen. Richtige Klageart ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs 1 und 4, 56 SGG.
Der Beklagte ist insoweit als Behörde der Stadt Essen, die ihrerseits als kreisfreie Stadt nach § 97 Abs 1 SGB XII (hier in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 ≪BGBl I 3022≫) iVm Art 1 § 1 des Gesetzes zur Anpassung des Landesrechts an das SGB XII vom 16. Dezember 2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt ≪GVBl≫ NRW 816) Träger der Sozialhilfe ist, beteiligtenfähig iS von § 70 Nr 3 SGG. Nach dieser Vorschrift sind Behörden beteiligtenfähig, sofern das Landesrecht dies bestimmt (so genanntes Behördenprinzip). Gemäß § 3 des Gesetzes zur Ausführung des SGG im Land NRW vom 8. Dezember 1953 (GVBl NRW 541, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 14. Dezember 1989 - GVBl NRW 678) sind Behörden fähig, an Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beteiligt zu sein. Behörden im Sinne des SGG sind solche Stellen, die - wie der Oberbürgermeister der Stadt Essen - durch organisationsrechtliche Rechtssätze gebildet, vom Wechsel ihrer Amtsinhaber unabhängig und nach der einschlägigen Zuständigkeitsregelung berufen sind, unter eigenem Namen für den Staat oder einen Träger der öffentlichen Verwaltung Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen (Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 16. Oktober 2007 - B 8/9b SO 8/06 R).
Die Begründetheit der Revision misst sich an § 19 Abs 2 SGB XII iVm §§ 41 ff SGB XII (beide in der Fassung, die die Normen durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 - BGBl I 3022 - erhalten haben). Danach können Personen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 65. Lebensjahr vollendet haben (Nr 1) oder das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert iS von § 43 Abs 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann (Nr 2), auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII erhalten. Der Anspruch besteht nur, sofern der Leistungsberechtigte seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann (§ 19 Abs 2 Satz 1 SGB XII). Konkretisiert wird diese Voraussetzung in § 41 Abs 2 SGB XII (hier in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 ≪BGBl I 3022≫). Danach besteht der Anspruch ua nur, soweit der Leistungsberechtigte seinen Lebensunterhalt nicht aus seinem Einkommen und Vermögen gemäß §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII beschaffen kann.
Weder hat das LSG festgestellt, dass der Kläger dauerhaft erwerbsgemindert ist, noch hat es Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Klägers getroffen. Es ist zwar anzunehmen, dass der Kläger voll erwerbsgemindert iS von § 43 Abs 2 SGB VI ist, allein das betreute Wohnen und die Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte zwingen hingegen nicht zu diesem Schluss. Hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverhältnisse hat das LSG zwar ausgeführt, nach seiner Überzeugung bestünden gegen die Bedarfsberechnung keine Bedenken und zwischen den Beteiligten sei auch unstreitig, dass der Unterkunftsbedarf sowie das Erwerbseinkommen des Klägers richtig berechnet worden seien; diese Ausführungen ersetzen aber nicht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Im Streit ist die Höhe der Leistung. Bei der Entscheidung hierüber sind grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen über Grund und Höhe der Leistungen in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2005 zu prüfen und etwaige Änderungen in den Verhältnissen - etwa ein schwankendes Einkommen - zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 23/06 R - mwN). Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beteiligten ausschließlich die Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers (§ 82 Abs 1 Satz 1 SGB XII) problematisieren und die übrige Berechnung vom Kläger nicht angegriffen wird. Denn insoweit handelt es sich nur um ein nicht gesondert anfechtbares Berechnungselement der geltend gemachten höheren Leistung (BSG, aaO, RdNr 12 mwN). Auch wenn das Kindergeld nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist (s dazu unten), steht dem Kläger nicht zwingend eine um 154,00 Euro höhere monatliche Leistung zu, wenn diese aus anderen Gründen im Übrigen zu hoch bemessen worden wäre. Die dafür erforderlichen Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.
Das an ein Elternteil ausgezahlte Kindergeld hat der Beklagte allerdings zu Unrecht bei dem Kläger leistungsmindernd berücksichtigt. Das Kindergeld ist sozialhilferechtlich vielmehr grundsätzlich eine Einnahme dessen, an den es (als Leistungs- oder Abzweigungsberechtigten) ausgezahlt wird (Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫, Urteil vom 28. April 2005 - 5 C 28/04 -, NJW 2005, 2873 f; BVerwG Buchholz 436.0 § 76 BSHG Nr 38; BSG, Urteile vom 8. Februar 2007 - B 9b SO 5/06 R -, SozR 4-3500 § 41 Nr 1 und - B 9b SO 6/06 R, B 9b SO 6/05 R und B 9b SO 5/05 R; Urteil vom 16. Oktober 2007 - B 8/9b SO 8/06 R; Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 23/06 R). Davon gehen nicht zuletzt auch inzident die von diesem Grundsatz abweichenden ausdrücklichen Zuordnungsregelungen des § 82 Abs 1 Satz 2 SGB XII (BSG, Urteil vom 16. Oktober 2007 - B 8/9b SO 8/06 R - RdNr 22) und des § 11 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - aus (vgl dazu BSGE 97, 254 ff RdNr 25 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3 und BSGE 97, 265 ff RdNr 33 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 3). Das an ein Elternteil als Kindergeldberechtigten ausgezahlte Kindergeld ist nur als Einkommen des volljährigen, außerhalb des Haushaltes lebenden Kindes zu berücksichtigen, soweit es ihm zeitnah (innerhalb eines Monats nach Auszahlung bzw Überweisung des Kindergeldes) zugewendet wird und ohne die "Weiterleitung" des Kindergeldes die Voraussetzungen des § 74 EStG für eine Abzweigung des Kindergeldes vorliegen würden (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 23/06 R - RdNr 14). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich die Berücksichtigung des Kindergeldes nicht aus dem so genannten Selbsthilfegrundsatz des § 2 Abs 1 SGB XII (hier in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 ≪BGBl I 3022≫) mit der Begründung herleiten, der Kläger könne und müsse einen Antrag nach § 74 Abs 1 Satz 1 EStG auf Abzweigung des Kindergeldes an sich stellen. Es ist bereits fraglich, ob § 2 Abs 1 SGB XII einen eigenständigen Ausschlusstatbestand regelt oder - ähnlich dem Grundsatz des Forderns in § 1 Satz 2 SGB XII - nur ein Gebot der Sozialhilfe (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl 2008, § 2 SGB XII RdNr 7 spricht von einer "Leitsatznorm") umschreibt, das insbesondere durch die Regelungen über den Einsatz von Einkommen (§§ 82 ff SGB XII) und Vermögen (§§ 90 f SGB XII) oder sonstige leistungshindernde Normen konkretisiert wird und nur bzw zumindest regelmäßig im Zusammenhang mit ihnen zu sehen ist. Für Letzteres spricht nicht nur die Stellung im Gesetz in den Allgemeinen Vorschriften des Ersten Kapitels - und nicht in den Vorschriften über die Leistungen und den Anspruch auf Leistungen (Zweites bis Neuntes Kapitel) -, sondern auch der Umstand, dass das SGB XII konkrete Leistungsausschlussnormen enthält, wie etwa § 39 SGB XII, wonach sich der maßgebende Regelsatz in Stufen verringert, wenn Leistungsberechtigte entgegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Arbeit ablehnen. Wollte man § 2 Abs 1 SGB XII als eigenständigen Versagungstatbestand verstehen, würde schon die bloße Möglichkeit der Arbeitsaufnahme zur Leistungsversagung führen, sodass es an einem Leistungsberechtigten im Sinne von § 39 SGB XII fehlen würde (vgl aber Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 2 SGB XII RdNr 21, Stand August 2005 und Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl 2008, § 2 SGB XII, RdNr 8, die § 39 SGB XII als spezialgesetzliche Regelung sehen und § 2 SGB XII daneben in Fällen anwenden wollen, in denen der Hilfesuchende ohne weitere Unterstützung durch den Leistungsträger eine Arbeit aufnehmen kann; Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, Teil III Kap 11 S 286 f, der im Hinblick auf § 2 SGB XII nur dann Raum für Grundsicherungsleistungen sieht, wenn und solange der Arbeitsaufnahme noch Hindernisse im Wege stehen). Diese Frage kann im Ergebnis aber dahinstehen, weil der Kläger ohnehin nicht auf die Möglichkeit der Abzweigung verwiesen werden darf.
Er ist rechtlich nicht verpflichtet, einen Abzweigungsantrag zu stellen (ebenso Bundesfinanzhof, Urteil vom 17. April 2008 - III R 33/05). Nach § 74 Abs 1 Satz 1 EStG kann das nach § 66 EStG für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausbezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Nach § 74 Abs 1 Satz 3 EStG kann eine Abzweigung an das Kind auch erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Die Voraussetzungen für eine solche Abzweigung bedürfen entgegen der Auffassung des Beklagten ebenfalls keiner Prüfung. Auf ein in § 74 Abs 1 EStG vorausgesetztes Unterhaltsdefizit des Klägers kann es schon deshalb nicht ankommen, weil Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff SGB XII unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen erbracht werden. Wollte man - wie der Beklagte - den Kläger auf die Abzweigungsmöglichkeit des § 74 Abs 1 EStG verweisen, würde dies den Zielen der §§ 41 ff SGB XII widersprechen, die Eltern unter Anwendung der Vermutungsregelung des § 43 Abs 2 SGB XII von Unterhaltsleistungen freizustellen, weil dann Unterhaltsverpflichtungen doch zu prüfen wären. Gleiches gilt für die denkbare und näher liegende Berücksichtigung von Abzweigungsansprüchen des Klägers als zumutbar verwertbares Vermögen statt als fiktives Einkommen (BSG, Urteil vom 16. Oktober 2007 - B 8/9b SO 8/06 R).
Hieran ändert auch nichts, dass das SGB XII selbst nicht in das gesetzliche Unterhaltsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches eingreift und § 74 Abs 1 Satz 1 EStG nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung eine Abzweigung nicht schon deshalb ausschließt, weil nach sozialrechtlichen Vorschriften ein Unterhaltsrückgriff des Leistungsträgers ausgeschlossen ist. Denn anderenfalls würde die den Grundsicherungsleistungen nach § 19 Abs 2 iVm § 41 ff SGB XII innewohnende Struktur konterkariert, indem dem Leistungsberechtigten gleichsam über die "Hintertür" die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs (Auskehr des Kindergeldes gegen den Kindergeldberechtigten oder über die Abzweigungsvorschrift des § 74 EStG) aufgezwungen würde. Soweit der Senat in seinem Urteil vom 11. Dezember 2007 (B 8/9b SO 23/06 R) darauf hingewiesen hat, dass das Kindergeld bestimmungsgemäß verwendet wird, wenn es von dem Elternteil an seine volljähriges, außerhalb des Haushalts wohnendes Kind weitergeleitet, weil es typisierend gewährt wird, um Unterhaltungslasten gegenüber den Kindern zu erleichtern, rechtfertigt auch dies - entgegen der Auffassung des Beklagten - keine andere Entscheidung, solange es gerade nicht an den Kläger weitergeleitet wird. Dies steht einer bestimmungsgemäßen Verwendung des Kindergeldes im Übrigen auch nicht entgegen, weil das Kindergeld - unabhängig von Unterhaltsansprüchen - typisierend auch dazu dient, Eltern wegen kindbedingter Mehrkosten der allgemeinen Lebensführung zu entlasten, sei es durch eine Steuerersparnis, sei es auf Grund einer Sozialleistung (BFH, Urteil vom 7. Dezember 2004 - VIII R 59/04). Soweit der Beklagte schließlich in diesem Zusammenhang geltend macht, dass er selbst die Auszahlung an sich nach § 74 Abs 1 Satz 4 EStG beantragen kann, übersieht er, dass dies an der Höhe des Leistungsanspruchs des Klägers nichts ändern würde und auch in diesem Fall das Kindergeld bei dem Kläger nicht als Einkommen berücksichtigt werden dürfte. Die gesetzliche Regelung zeigt vielmehr, dass der Beklagte auch ohne Kürzung der Leistung an den Kläger seine Belastungen beschränken kann.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen