Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe des Krankenversicherungsbeitrags
Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Streitig ist die Höhe des Krankenversicherungsbeitrags ab Januar 1989.
Der 1955 geborene, ledige Kläger ist landwirtschaftlicher Unternehmer. Er war Mitglied der beklagten Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) und bei ihr ohne mitversicherte Familienangehörige krankenversichert, als er im März 1986 in Untersuchungshaft genommen wurde und daran anschließend eine Freiheitsstrafe verbüßen mußte. Bis zum Haftantritt entrichtete er den vollen satzungsmäßigen Beitrag (Beitragsklasse 9).
Die beklagte LKK verfügte durch Bescheid vom 30. Juni 1986, der monatliche Beitrag ermäßige sich gemäß § 67 Abs. 2 i.V.m. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. August 1972 (BGBl. I S. 1433; in der bis zum 31. Dezember 1988 gültigen Fassung - KVLG 1972) für die Dauer der Untersuchungshaft und des Vollzugs der Freiheitsstrafe auf ein Drittel (damals: 114, 67 DM) des satzungsmäßigen Beitrags.
Mit dem streitigen Bescheid vom 18. Januar 1989 ordnete die LKK an, der Kläger habe ab 1. Januar 1989 Monatsbeiträge in Höhe von 358,-- DM zu entrichten, weil seit diesem Zeitpunkt die §§ 67 Abs. 2 und 42 KVLG 1972 durch Art 6 Nr. 1 des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988 (GRG - BGBl. I S. 2477) aufgehoben worden seien und das durch Art 8 GRG eingeführte Zweite Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) keine entsprechende Ermäßigungsvorschrift enthalte. Hiergegen hat der Kläger am 25. Januar 1989 Widerspruch mit der Begründung eingelegt, es sei unbillig, den satzungsmäßigen Beitrag zu beanspruchen, obwohl Versicherungsleistungen während der Dauer der Strafhaft nicht erbracht werden dürften. Die Widerspruchsstelle der Beklagten hat den Widerspruch mit Zustimmung des Klägers als Klage dem Sozialgericht Ulm (SG) zugeleitet.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. März 1991). Es ist folgender Auffassung: Zwar hätten etwaige Leistungsansprüche des Klägers gegen die Beklagte während der Haftdauer gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) vollständig geruht, weil er als Gefangener Anspruch auf Gesundheitsfürsorge ausschließlich nach dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG) gehabt habe. Jedoch beeinflusse der Freiheitsentzug die Versicherungs- und Beitragspflicht nicht, weil das Gesetz seit dem 1. Januar 1989 keine Beitragsermäßigung in derartigen Fällen mehr kenne. Dies möge zwar unbillig erscheinen, sei aber verfassungsrechtlich noch hinnehmbar. Soweit der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in einem Schreiben vom 29. Mai 1989 an das Sozialgericht Reutlingen es als sachgerecht angesehen habe, den Beitrag für Heilfürsorgeberechtigte ohne mitversicherte Familienangehörige weiterhin auf ein Drittel zu ermäßigen, verstoße diese sachgerechte Überlegung gegen das Gesetz, das zu ändern allein der Gesetzgeber aufgerufen sei.
Mit der - vom SG im Urteil zugelassenen - Revision rügt der Kläger, es sei mit Art 3 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar und somit verfassungswidrig, daß aufgrund der Gesetzesänderung ein voller Beitrag abverlangt werde. Dies verstoße angesichts des umfassenden Leistungsausschlusses gegen das für die Sozialversicherung grundlegende Merkmal der Äquivalenz, zumal landwirtschaftliche Unternehmer mit Anspruch auf freie Heilfürsorge gegenüber solchen Landwirten benachteiligt würden, die als Angestellte oder Arbeiter versicherungspflichtig und deswegen nach § 3 Abs. 1 Ziff 1 KVLG 1989 nicht in der Krankenversicherung der Landwirte versichert seien. Im übrigen habe die Beklagte ihn nicht ordnungsgemäß angehört.
Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 22. März 1991 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 1989 aufzuheben, |
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hilfsweise, |
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das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob diese neue gesetzliche Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. |
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Die Beklagte beantragt,
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die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 22. März 1991 zurückzuweisen. |
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine Freistellung vom Beitrag für die Zeit einer Untersuchungs- bzw. Strafhaft sei nicht systemgerecht. Inwieweit eine Inanspruchnahme auf den vollen Beitrag vertretbar sei, lasse sich unterschiedlich beurteilen. Der Gesetzgeber des GRG jedenfalls habe sich für den vollen Beitrag entschieden. Einer vorherigen Anhörung des Klägers vor Erlaß des streitigen Bescheides habe es nicht bedurft, weil ein Anwendungsfall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliege, da "der ergangene Bescheid auf einer Änderung des anzuwendenden Rechts mit entsprechenden Folgerungen für alle gleichgelagerten Fälle beruhe".
II
Die Revision des Klägers ist zulässig. Zwar hat er die schriftliche Erklärung der Beklagten, sie stimme der Einlegung der Revision gegen das Urteil des SG vom 22. März 1991 zu, das ihm am 2. April 1991 zugestellt worden ist, entgegen § 161 Abs. 1 Satz 3 Regelung 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seiner Revisionsschrift nicht beigefügt, sondern erst am 21. Mai 1991 beim Bundessozialgericht (BSG) eingereicht. Jedoch kann die Zustimmungserklärung innerhalb der Revisionsfrist nachgereicht werden (Meyer-Ladewig, SGG, § 161 RdNr 4 m.w.N.). Diese betrug aber gem §§ 165, 153, 66 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGG ein Jahr, weil die vom SG erteilte Rechtsmittelbelehrung unrichtig war. Denn sie enthielt keine Belehrung über die Einlegung der im Urteilsausspruch zugelassenen Revision, hingegen die Angabe, es könne Antrag auf Zulassung der Revision gestellt werden.
Das Rechtsmittel ist begründet, weil die Beklagte die dem Kläger durch Bescheid vom 30. Juni 1986 für die Dauer der Haft bindend eingeräumte Beitragsermäßigung vor deren Ende (April 1990) nicht ohne dessen Anhörung i.S. von § 24 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) aufheben (§ 48 SGB X) und durch eine ihm ungünstigere Festsetzung der Beitragshöhe ersetzen durfte. Schon allein aus diesem Grund ist - was das SG verkannt hat - der streitige Bescheid vom 18. Januar 1989 aufzuheben.
Gem § 42 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB X kann derjenige, gegen den ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung - allein deshalb - beanspruchen, wenn und weil die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§§ 78ff. SGG) oder, falls ein solches nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nicht nachgeholt worden ist (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB X). Diese - in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfenden (BSG SozSich 1979, 319f.; Urteil des erkennenden Senats vom 23. April 1980 - 4 RJ 29/79) - Aufhebungsvoraussetzungen liegen vor, weil die Beklagte den Kläger entgegen ihrer gesetzlichen Obliegenheit weder vor Erlaß des streitigen Bescheides vom 18. Januar 1989 noch bis zur Weiterleitung des Widerspruchs an das SG angehört hat.
Die Beklagte hätte dem Kläger bereits vor Erlaß des streitigen Bescheides vom 18. Januar 1989 gemäß § 24 Abs. 1 SGB X Gelegenheit geben müssen, sich zu den für diese Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Keiner Darlegung bedarf, daß der Kläger "Beteiligter" i.S. dieser Vorschrift ist, da die Beklagte den streitigen Bescheid gegen ihn richten wollte und gerichtet hat (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 SGB X). Ebenso liegt auf der Hand, daß der Bescheid vom 18. Januar 1989 ein Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X) ist, der in die Rechte des Klägers eingreift, weil ihm eine höhere Beitragslast auferlegt wird als vorher bindend (§ 77 SGG) festgestellt (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 7). Demgemäß war die vorherige Anhörung "erforderlich" (§ 42 Satz 2 SGB X), hätte die Beklagte den Kläger also mit der Beitragserhöhung nicht überraschen dürfen.
Entgegen ihrer - erstmals im Revisionsverfahren vorgetragenen -Auffassung war die Beklagte nach § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X nicht befugt, den streitigen Bescheid ohne vorherige Anhörung zu erlassen. Zwar "kann" nach dieser Vorschrift von der Anhörung abgesehen werden, wenn u.a. "gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl" erlassen werden sollen. § 24 Abs. 2 SGB X gestattet der Behörde sonach nur bei Vorliegen der darin abschließend geregelten Voraussetzungen (BSG SozR 1200 § 34 Nrn 2, 3, 6, 9, 12, 14) in besonders gelagerten Fällen des weichenden Privatinteresses, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob Belange der Verwaltungspraktikabilität das Anhörungsinteresse des Bürgers derart überwiegen, daß es deswegen sachlich vertretbar ist, die Anhörung nicht durchzuführen. Diese verfahrensrechtliche Ermessensentscheidung unterliegt hinsichtlich der in den Tatbeständen des § 24 Abs. 2 SGB X enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe der vollen gerichtlichen Nachprüfung (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG] in: BVerwGE 68, 267, 271 f; Bonk in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, Komm, 3. neubearbeitete Auflage, München 1990, § 28 RdNr 34; von Wulffen in: Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, 2. Aufl., München 1990, § 24 RdNr 7; Schnapp in: GK-SGB X 1, RdNr 36 ff; jeweils m.w.N.), im übrigen nur der Überprüfung auf Ermessensfehler (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). In jedem Fall hat die Behörde bei ihrer Abwägung zu beachten, daß das Gesetz eine großzügige Anhörungspraxis gebietet (vgl. BSG SGb 1979, 345).
Indessen liegen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Nr. 4 Regelung 2 SGB X - worauf zurückzukommen ist -nicht vor. Deswegen ist nicht darauf einzugehen, daß weder der streitige Bescheid noch das Protokoll über die Entscheidung der Widerspruchsstelle noch das Vorbringen der Beklagten vor dem SG Anhaltspunkte dafür enthalten, daß die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung i.S. von § 24 Abs. 2 SGB X getroffen hat (zum Umfang der Begründungspflicht für eine solche verfahrensrechtliche Ermessensentscheidung: Stelkens, a.a.O., § 39 RdNr 18 mit Nachweisen zum Meinungsstand); ebensowenig ist zu erörtern, daß die Beklagte auch im Revisionsverfahren nur ihre Rechtsansicht mitgeteilt hat, es handele sich um einen Anwendungsfall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X, ohne darzulegen, in welcher Anzahl sie zum 1. Januar 1989 derartige Beitragserhöhungen aufgrund im wesentlichen gleichgelagerter Sachverhalte angeordnet hat und welche sachlichen Gründe der Verwaltungspraktikabilität einer Anhörung der Betroffenen entgegenstanden (zur Darlegungslast der Behörde: Bonk, a.a.O., § 28 RdNr 44 m.w.N.).
Der streitige Bescheid gehört nicht zu einer Gruppe von "gleichartigen Verwaltungsakten in größerer Zahl". Solche sind nur (zu) erlassen, wenn ein- und derselbe Verwaltungsträger aufgrund einer ihn bindenden Rechtsvorschrift gegenüber einer Vielzahl von Normadressaten (möglichst) zur selben Zeit Regelungen (iS von § 31 Satz 1 SGB X) treffen muß, welche die Rechtsstellung der Betroffenen nach einem für alle identischen Maßstab verändern. Hierunter fallen also - unter weiteren Voraussetzungen (größere Anzahl; Gleichzeitigkeit des Erlasses) - nur sog. schematische Entscheidungen, also Verwaltungsakte, die ausschließlich eine in einer Rechsnorm vorgegebene Rechtsänderungsformel (Schema, Maßstab) für die davon Betroffenen konkretisieren (z.B. Rentenanpassungsbescheide nach gesetzlichen, prozentualen Rentenerhöhungen, Beitragsbescheide nach satzungsmäßigen Beitragssatzänderungen; vgl. von Wulffen, a.a.O., § 24 RdNr 8.2; Bartels, Die Anhörung Beteiligter im Verwaltungsverfahren, Berlin 1985, Diss. Bochum, S. 112 ff; VDR-Komm zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, Sozialgesetzbuch, 10. Buch - Verwaltungsverfahren -, § 24 RdNr 11d; Hauck, a.a.O., § 24 RdNr 16). Für die "Gleichartigkeit" der Verwaltungsakte kommt es somit vor allem darauf an, daß die Rechtmäßigkeit der durch sie bewirkten Änderungen in den Rechtsstellungen der Betroffenen allein von der richtigen Anwendung einer abstrakten und deshalb für alle gleichen Rechtsformel abhängt, hingegen nicht von individuellen Umständen, insbesondere nicht von den jeweiligen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen (stellv. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 57 S. 174; Schnapp, a.a.O., § 24 RdNr 49).
Der streitige Bescheid vom 18. Januar 1989 enthält in diesem Sinne eine konkret-individuelle, keine schematische Beitragsfestsetzung:
Selbst wenn zugunsten der Beklagten - wozu diese nichts vorgetragen und das SG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat - unterstellt wird, sie habe gegenüber einer Vielzahl von Mitgliedern, die vor dem 1. Januar 1989 den Vollzug einer Freiheitsstrafe angetreten und bis dahin volle satzungsmäßige Beiträge zu entrichten hatten, Beitragsermäßigungsbescheide nach § 67 Abs. 2 KVLG 1972 erlassen und diese zum 1. Januar 1989 aufgehoben und jeweils den vollen - wenn auch nach Beitragsklassen unterschiedlich hohen - satzungsmäßigen Beitrag eingefordert, wären keine gleichartigen Verwaltungsakte in größerer Zahl ergangen.
Denn es fehlt schon an einer für alle strafgefangenen Mitglieder der Beklagten identischen rechtlichen Beitragsänderungsformel, aus der sich "schematisch", d.h. ohne Berücksichtigung individueller Umstände, die jeweilige Beitragshöhe ab Januar 1989 ableiten (errechnen) läßt. Selbst wenn die Ansicht der Beklagten zuträfe, seit Januar 1989 sei eine Beitragsermäßigung auf ein Drittel in Fällen der vorliegenden Art nicht mehr zulässig, ließe sich allein daraus die Höhe des jetzt vom jeweiligen Mitglied zu entrichtenden Beitrags nicht errechnen. Deswegen hätte die Beklagte außerdem in dem von Amts wegen eingeleiteten Verwaltungsverfahren (§ 8 SGB X) gem § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor Festsetzung des höheren Beitrags ab Januar 1989 u.a. alle für die Höhe des vom Kläger zu zahlenden Beitrags erheblichen Tatsachen von Amts wegen individuell-konkret neu überprüfen müssen. Dies folgt ferner u.a. auch daraus, daß die §§ 39 bis 50 KVLG 1989 mit Wirkung ab 1. Januar 1989 das früher geltende Beitragsrecht nach den §§ 64 bis 68 KVLG 1972 nicht unverändert übernommen, sondern "fortgeschrieben" (so Noell/Janssen, KVLG 1989, Die Krankenversicherung der Landwirte, 12. überarbeitete Auflage, Kassel 1989, S. 238ff. m.w.N.) haben. Darüber hinaus hatte sich die Beklagte Gewißheit zu verschaffen, ob der Kläger, der Anfang 1989 schon mehr als 2 3/4 Jahre in Haft war, weiterhin ihr Mitglied oder i.S. von § 3 Abs. 1 Nr. 1 KVLG 1989 aufgrund eines "freien Beschäftigungsverhältnisses" i.S. von § 39 StVollzG nach anderen gesetzlichen Vorschriften bei einer vorrangig zuständigen gesetzlichen Krankenkasse versichert war, ferner, ob seine beitragsrelevanten Einnahmen sich geändert hatten (vgl. auch § 33 KVLG 1989).
Da also die LKK die neue Beitragshöhe nicht "schematisch", sondern nur nach individueller Prüfung feststellen durfte, hätte sie dem Kläger Gelegenheit geben müssen, sich zu den tatsächlichen Umständen zu äußern, die sie entweder ermittelt oder - als weiterhin gegeben - unterstellt und dem streitigen Bescheid zugrunde gelegt hat.
Die erforderliche Anhörung des Klägers ist "nicht wirksam nachgeholt" worden (§ 42 Satz 2 i.V.m. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X), so daß der Verfahrensfehler der Beklagten bis zur Erhebung der Klage (§ 41 Abs. 2 SGB X) nicht "unbeachtlich" (§ 41 Abs. 1 SGB X) geworden ist. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn die LKK bis zur Weiterleitung des Widerspruchs des Klägers an das SG am 16. März 1989 die ihr durch § 24 Abs. 1 SGB X gebotene "Handlung" (so ausdrücklich § 41 Abs. 2 SGB X), also "die unterlassene Verfahrenshandlung" (so ausdrücklich § 41 Abs. 3 Satz 2 SGB X) "nachgeholt" hätte. Das ist nicht geschehen:
Der 2. Senat des BSG (SozR 1300 § 24 Nr. 6) hat bereits klargestellt, daß die "Nachholung" der erforderlichen Anhörung nur dann "heilende" Wirkung i.S. von § 41 Abs. 1 SGB X hat, wenn sie dieselbe rechtliche Qualität hat wie die Handlung, welche die Behörde von Rechts wegen nach § 24 Abs. 1 SGB X vor Erteilung des Bescheides hätte vornehmen müssen. Deswegen setzt eine "Heilung" des Anhörungsmangels zwingend voraus, daß die Verwaltung, die den Betroffenen rechtswidrig mit einer Überraschungsentscheidung überzogen hat, ihm bis zu der von § 41 Abs. 2 SGB X gezogenen zeitlichen Grenze Gelegenheit "gibt", sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (so ausdrücklich § 24 Abs. 1 SGB X). Die Nachholungshandlung, die - ebenso wie die vorherige Anhörung - kein gesondertes Verwaltungsverfahren (§ 8 SGB X) neben dem zur Entscheidung in der Sache führenden Verwaltungsverfahren ist, soll und muß dem Adressaten der Überraschungsentscheidung ausreichende Gelegenheit geben, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt jedenfalls das letzte Wort der Verwaltung zur Sache zu beeinflussen (zum Zweck der Anhörungspflicht stellvertretend: BSG SozR 1300 § 24 Nrn 7, 9, jeweils m.w.N.). Hierzu ist es, wie der 2. Senat des BSG ausgeführt hat (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 6 S. 11f.), notwendig, daß der Verwaltungsträger die entscheidungserheblichen Tatsachen dem Betroffenen in einer Weise unterbreitet, daß er sie als solche erkennen und sich zu ihnen - ggf nach ergänzenden Anfragen bei der Behörde - sachgerecht äußern kann.
Die Beklagte hat jedoch dem Kläger bis zum Beginn des Rechtsstreits vor dem SG nicht mitgeteilt, auf welche Tatsachen sie die Entscheidung, er müsse ab 1. Januar 1989 einen Monatsbeitrag in Höhe von 358,-- DM entrichten, gestützt hat. Sie hat sich darauf beschränkt, ihm ihre - von ihr selbst als verfassungsrechtlich problematisch erachtete - Rechtsauffassung mitzuteilen, die Beitragsermäßigungsvorschrift sei ersatzlos weggefallen (streitiger Bescheid vom 18. Januar 1989 und Schreiben vom 16. Februar 1989). Erforderlich wäre hingegen gewesen, dem Kläger alle "entscheidungserheblichen (Haupt-) Tatsachen" mitzuteilen, also alle Tatsachen, aus denen sie auf der Grundlage ihrer Rechtsansicht vom Inhalt der neuen beitragsrechtlichen Regelungen der §§ 39ff. KVLG 1989 die im streitigen Bescheid verlautbarte Rechtsfolge ableiten wollte bzw. hergeleitet hat.
"Entscheidungserheblich" i.S. von § 24 Abs. 1 SGB X sind nämlich - wie der 12. Senat des BSG (USK 88139) erkannt hat - jedenfalls alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, d.h., auf die sich die Verwaltung zumindest auch gestützt hat. Ist jedoch - wie im vorliegenden Fall - den gesamten Verwaltungsvorgängen überhaupt nicht zu entnehmen, von welchen Tatsachen die Behörde ausgegangen ist, beurteilt sich die Entscheidungserheblichkeit von Tatsachen - wie der 2. Senat des BSG ausgeführt hat (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 4) - grundsätzlich nach Art und Inhalt des Verwaltungsaktes (dh: des Verfügungssatzes), den die Behörde erlassen hat (bzw zu erlassen beabsichtigt). Hierzu hat der 5b Senat des BSG (SozR 1300 § 24 Nr. 9 S. 18) klarstellend angemerkt, daß die Rechtsauffassung der Behörde über den Inhalt des anzuwendenden materiellen Rechts Beurteilungsmaßstab dafür ist, welche Tatsachen für den Verfügungssatz erheblich sind.
Das bedeutet aber nicht - wie der Hinweis des 5b Senats im vorgenannten Urteil auf das Urteil des erkennenden Senats vom 24. Juni 1982 (SozR 2200 § 1286 Nr. 12) nahelegen könnte -, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit an eine sogar nach dem Maßstab der eigenen Rechtsauffassung der Verwaltung fehlerhafte Einschätzung der Entscheidungserheblichkeit von Tatsachen gebunden sind.
Auch im Anwendungsbereich des § 24 SGB X ist - wie bei der gerichtlichen Prüfung von gerügten Verfahrensfehlern einer Vorinstanz nach §§ 150 Nr. 2, 160 Abs. 2 Nr. 3, 163 i.V.m. 164 Abs. 2 Satz 3 SGG - hinzunehmen, daß eine Verwaltungsbehörde als Trägerin des Verwaltungsverfahrens bei dessen Durchführung von einer "falschen" materiell-rechtlichen Rechtsauffassung ausgeht, etwa einen erheblichen rechtlichen Gesichtspunkt übersieht, und deshalb die - nach dem Gesetz gegebene - Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache zu Unrecht verneint. Denn der Verwaltungsträger muß nur Gelegenheit geben, sich zu den "ihm bekannten" entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 2). Hingegen liegt ein Verfahrensfehler, also eine Verletzung von Verfahrensvorschriften einschließlich der Form- oder Zuständigkeitsvorschriften (§§ 41 Abs. 1, 42 Satz 1 SGB X) erst, aber auch immer vor, wenn der Verwaltungsträger auf der Grundlage seiner eigenen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung das Verwaltungsverfahrensrecht nicht folgerichtig anwendet, etwa eine Tatsache, auf die es nach seiner eigenen - hier maßgeblichen - Rechtsansicht für die Entscheidung objektiv ankommt, für nicht entscheidungserheblich hält. So verhält es sich im vorliegenden Fall:
Die beklagte LKK war und ist der Rechtsauffassung, sie müsse die am 30. Juni 1986 ausgesprochene Beitragsermäßigung ab Januar 1989 aufheben, weil die gesetzliche Grundlage ersatzlos weggefallen sei; auch müsse sie vom Kläger als ihrem Mitglied den vollen Beitrag fordern, weil das KVLG 1989 dies eindeutig verlange (Bescheid vom 18. Januar 1989; Schreiben vom 15. Februar 1989; Niederschrift über die Sitzung des Widerspruchsausschusses vom 13. März 1989). Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung ist nicht zweifelhaft, daß es für die Entscheidung der Beklagten, den "vollen" Beitrag von 358,-- DM festzusetzen, objektiv erheblich war, ob ab Januar 1989 beim Kläger die Tatsachen vorlagen, von denen nach §§ 39ff. KVLG 1989 i.V.m. der Satzung der Beklagten eine Beitragspflicht in dieser Höhe abhängt. Gleichwohl hat sie keine dieser Tatsachen als "entscheidungserheblich" i.S. von § 24 Abs. 1 SGB X angesehen, jedenfalls dem Kläger keine Gelegenheit gegeben, sich hierzu zu äußern. Sie hat also die erforderliche Anhörung nicht "nachgeholt".
Der vorliegende Fall zwingt den Senat nicht, umfassend dazu Stellung zu nehmen, ob unterlassene Verfahrenshandlungen (§ 41 Abs. 3 Satz 2 SGB X) einer Behörde trotz außerdem unterlassener Nachholungshandlung (§ 41 Abs. 2 SGB X) ausnahmsweise allein deswegen "unbeachtlich" (§ 41 Abs. 1 SGB X) werden können, weil der Betroffene Verfahrenshandlungen vorgenommen hat, die im Ergebnis das bewirkt haben, was herbeizuführen der Behörde oblag.
Eine "Heilung" des der Beklagten unterlaufenen Verfahrenfehlers ergibt sich nämlich - was hier allein in Betracht kommt - nicht daraus, daß der Kläger gegen den streitigen Bescheid Widerspruch eingelegt hat. Jedenfalls im Anwendungsbereich des SGB X, das die Anhörungsobliegenheit der Behörde zu einem subjektiven Verfahrensrecht des Betroffenen mit Abwehranspruch bei dessen Verletzung (§ 42 Satz 2 SGB X) ausgestaltet hat (schon BSG SozR 1200 § 34 Nrn 3, 4, 6, 8; Schnapp, a.a.O., § 24 RdNr 53; kritisch: Krause GK-SGB X 1, RdNrn 3, 4, 53 mN zum Meinungsstand; umstritten zu § 45 Abs. 1 Nr. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [VwVfG]: Stelkens/Sachs, a.a.O., § 45 RdNr 41 mwN; BVerwGE 66, 111; BVerwGE 66, 184; jeweils m.w.N.), liegt in der bloßen Einlegung des Widerspruchs keine Heilung des Verfahrensmangels der unterlassenen Anhörung (Krasney NVwZ 1986, 337, 343 m.w.N.). Abgesehen davon,
daß nach dem Gesetz die "Heilung" einer unterlassenen Verfahrenshandlung - wie ausgeführt - ein Tätigwerden der Behörde, nicht des Bürgers voraussetzt, und ungeachtet dessen, daß andernfalls (Heilung bereits "durch Einlegung" des Widerspruchs) § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X leerliefe, weil die verwaltungsinterne Überprüfung dieses Verfahrensfehlers fast ausschließlich aufgrund eines Widerspruchs erfolgt, ist darauf abzustellen, daß § 41 SGB X die Voraussetzungen abschließend aufzählt, von denen der Eintritt der "Unbeachtlichkeit" eines dort genannten Verfahrensfehlers abhängt (Krause, a.a.O., § 41 RdNr 5; Wiesner, a.a.O., § 41 RdNr 1.1). Die Einlegung eines Widerspruchs gegen den rechtswidrigen Überraschungsakt ist dort nicht genannt (vgl. zum als unzulässig verworfenen Widerspruch: BSG SozR 1300 § 24 Nr. 7 m.w.N.).
Keiner Entscheidung bedarf hingegen im vorliegenden Fall, ob die Durchführung des Vorverfahrens ohne Nachholungshandlung den Anhörungsmangel ausnahmsweise dann heilt, wenn die Begründung des Überraschungsaktes selbst alle (Haupt-) Tatsachen enthält, auf die es nach der Rechtsansicht der Behörde für den Verfügungssatz objektiv ankommt (dazu: Schneider-Danwitz, SGB-SozVers-GesKomm, SGB X, Stand: Februar 1988, § 41 Anm. 39c aa; Krause, a.a.O., § 41 RdNr 13; Wiesner, a.a.O., § 41 RdNr 2.3; Stelkens/Sachs, a.a.O., § 45 RdNr 41; jeweils m.w.N.). Denn die Begründung des hier streitigen Bescheids enthält ebensowenig wie die späteren Stellungnahmen der Beklagten oder überhaupt ihre Verwaltungsvorgänge Angaben über die Tatsachen, aus denen sie die Pflicht des Klägers hergeleitet hat, ab Januar 1989 einen Monatsbeitrag von 358,-- DM zu zahlen.
Schließlich durfte die Beklagte nach Einlegung des Widerspruchs nicht gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X von der Anhörungsnachholung absehen. Denn der Kläger hat von sich aus die für die Anwendung der §§ 39ff. KVLG erheblichen Tatsachen im Vorverfahren nicht vorgetragen (vgl. zu derartigen Fallgestaltungen schon BSG SozR 1200 § 34 Nrn 1, 7, 13). Somit ist der Verfahrensmangel nicht i.S. von § 41 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB X unbeachtlich geworden.
Nach alledem kann der Kläger gem § 42 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB X die Aufhebung des streitigen Bescheides beanspruchen. Schon deswegen ist nicht darauf einzugehen, daß die Beklagte den höheren Beitrag nicht hätte rückwirkend, d.h. für Zeiten vor dem Tag der Bekanntgabe des Bescheides vom 18. Januar 1989, festsetzen dürfen (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats vom 26. September 1991 - 4 RK 5/91). Ferner ist - wofür im übrigen die tatsächlichen Feststellungen des SG nicht ausreichen - nicht darüber zu entscheiden, ob die Rechtsansicht der Beklagten (vgl. auch BSGE 61, 62 = SozR 2200 § 216 Nr. 9; BSG SozR 2200 § 216 Nr. 6) zutrifft, die Beiträge von in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung pflichtversicherten landwirtschaftlichen Unternehmern, die als Strafgefangene Heilfürsorge ausschließlich nach den §§ 56ff. StVollzG in Anspruch nehmen müssen, seien seit dem 1. Januar 1989 nicht mehr auf ein Drittel des satzungsmäßigen Beitrags zu ermäßigen (vgl. die Urteile des erkennenden Senats vom 4. Oktober 1988 in: SozR 2200 § 182 Nr. 113 und vom 18. Januar 1990 - 4 RK 4/88 -; BVerfGE 44, 70, 96ff. = SozR 5420 § 94 Nr. 2 S. 1, 7 f; Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 10. März 1989 - Va2-44428 - an den Bundesverband der Landwirtschaftlichen Krankenkassen).
Nach alledem mußten auf die Revision des Klägers das Urteil des SG und der streitige Bescheid aufgehoben werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG.4 RK 4/91
BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen
Haufe-Index 517849 |
BSGE, 247 |