Verfahrensgang
LSG Hamburg (Urteil vom 04.04.1990) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. April 1990 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit.
Die 1934 geborene Klägerin war von 1951 bis 1972 als Verkäuferin und Kassiererin bei der Firma C. … versicherungspflichtig beschäftigt. Danach ging sie wegen der Betreuung ihrer pflegebedürftigen Mutter keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nach; freiwillige Beiträge wurden in dieser Zeit nicht entrichtet. Zum 1. Juli 1984 nahm sie die frühere Tätigkeit (eigenen Angaben zufolge, um die Voraussetzungen für das vorgezogene Frauenaltersruhegeld zu erfüllen) wieder auf und übte sie aus, bis sie am 5. Februar 1986 einen Schlaganfall mit linksseitiger Halbseitenlähmung erlitt.
Die Beklagte lehnte den im Mai 1987 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 7. Juli 1987 ab, weil zwar seit dem Schlaganfall (den die Beklagte damals irrtümlich auf den 28. Mai 1986 datierte) Erwerbsunfähigkeit bestehe, jedoch zuletzt vor Eintritt der Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit keine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt worden sei. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 15. September 1987, Urteil des Sozialgerichts Hamburg ≪SG≫ vom 17. Januar 1989 Urteil des Landessozialgerichts Hamburg ≪LSG≫ vom 4. April 1990).
Das LSG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei am 5. Februar 1986 eingetreten. Bis zu diesem Zeitpunkt habe die Klägerin ihrer Beschäftigung nachgehen können, ohne auf Kosten ihrer Gesundheit zu arbeiten. In den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles seien nur 21 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung belegt. Nach Eintritt des Versicherungsfalles könne die Klägerin für die Zeit von Januar bis Juni 1984 keine freiwilligen Beiträge mehr nachentrichten; weder sei § 140 Abs 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) auf freiwillige Beiträge entsprechend anwendbar, noch müsse die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zugelassen werden. Schließlich könne auch die Zeit der Pflege eines Angehörigen nicht schon jetzt im Vorgriff auf die durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) eintretende Gesetzesänderung als „Streckungstatbestand” iS der §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG anerkannt werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmungen seien mit Art 14 und Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) vereinbar.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung materiellen Rechts (§§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG, Art 14 GG) und von Verfahrensrecht (§§ 136 Abs 1 Nr 6, 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Sie ist der Ansicht, die Zeit, in der sie ihre Mutter gepflegt habe, sei in entsprechender Anwendung des § 23 Abs 2a Satz 2 Nr 5 AVG (Zeiten der Erziehung eines Kindes) bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nach Satz 1 aaO nicht mitzuzählen. Falls das Revisionsgericht diesen Analogieschluß nicht ziehe, liege ein Verstoß der §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG gegen Art 14 GG und Art 4 der EWG-Richtlinie 79/7 vom 19. Dezember 1978 (EWG-Rl 79/7 – ABl Nr L 6/24 vom 10. Januar 1979) vor. Die Verschärfung der Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit durch §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG richteten sich nämlich in erster Linie gegen die seit längerer Zeit nicht mehr erwerbstätigen Frauen; denn nach dem immer noch vorherrschenden Rollenverständnis der Geschlechter unterbrächen ganz überwiegend Ehefrauen ihre rentenversicherungspflichtige Beschäftigung für einen mehrjährigen Zeitraum, um Erziehungs- und Pflegetätigkeiten für die Familie auszuführen. Schließlich sei, falls das Gericht dieser Rechtsansicht nicht folge, der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Das angefochtene Urteil enthalte nur Gründe zum Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit. Ob schon vor dem 1. Juli 1984 Berufsunfähigkeit eingetreten sei, habe das LSG nicht geprüft. Insoweit fehlten im Urteil jedenfalls nachprüfbare Gründe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. April 1990 und des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Januar 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 1987 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen,
hilfsweise,
das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung die Frage vorzulegen, ob § 23 Abs 2a Satz 1 Nr 1 AVG eine mittelbare Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts iS des Art 4 Abs 1 EWG-Rl 79/7 beinhaltet.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht weder Rente wegen Erwerbsunfähigkeit noch Berufsunfähigkeitsrente zu.
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 24 Abs 1 AVG idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 ≪HBegleitG 1984≫ vom 22. Dezember 1983, BGBl I S 1532).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und damit das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist die Klägerin seit ihrem Schlaganfall am 5. Februar 1986 zur Ausübung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit außerstande und damit iS des § 24 Abs 2 AVG erwerbsunfähig. Gemäß § 24 Abs 1, Abs 2a iVm § 23 Abs 2a AVG besteht ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch bei erfüllter Wartezeit aber nur dann, wenn der Versicherte vor Eintritt des Versicherungsfalles in den letzten 60 Kalendermonaten 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt hat (oder der Versicherungsfall aufgrund einer der in § 29 AVG genannten Tatbestände – für deren Vorliegen es hier keinerlei Anhaltspunkte gibt – eingetreten ist). Diese Anspruchsvoraussetzung hat das LSG zutreffend verneint.
Die Ermittlung des nach §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG für die Klägerin maßgebenden Berechnungszeitraums von 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles ist nicht zu beanstanden. Die Zeit von Mai 1972 bis Juli 1984, in der die Klägerin nicht versicherungspflichtig beschäftigt war und ihre Mutter pflegte, ist in diesen Zeitraum einzubeziehen. Denn Zeiten der Pflege eines Angehörigen sind im Katalog des § 23 Abs 2a Satz 2 AVG, in dem die bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nicht mitzählenden Zeiten aufgeführt sind, weder ausdrücklich als berücksichtigungsfähig genannt, noch müssen diese Zeiten – entgegen der Ansicht der Revision – einer der dort genannten Zeiten nach Sinn und Zweck gleichgestellt werden.
Bei der Einbeziehung von Zeiten der Erziehung eines Kindes oder der Pflege Angehöriger als versicherungsrechtlich relevante Zeiten handelt es sich um einen sozialen Ausgleich und damit letztlich um gewährende Staatstätigkeit, die dem Gesetzgeber eine weitreichende Gestaltungsfreiheit beläßt. Diese Gestaltungsfreiheit ist besonders weit, wenn es sich um Leistungen aus sozialpolitischen Motiven handelt, denen keine Versicherungsbeiträge gegenüberstehen und mit denen erstmals ein sozialpolitisch als regelungsbedürftig erkannter Zustand normiert wird. Es steht dem Gesetzgeber hierbei frei zu bestimmen, ob, ab wann, in welcher Höhe und gegenüber welchem Personenkreis er mit der beabsichtigten Verbesserung beginnen will (zB BVerfGE 17, 1, 23 f; 49, 280, 283).
Es ist deshalb nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber mit dem HBegleitG 1984, mit dem die §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG eingeführt wurden, zunächst zwar die Zeiten der Erziehung eines Kindes in diesen Katalog aufgenommen, sich der Ausübung nicht erwerbsmäßiger Pflegetätigkeiten aber erst mit dem RRG 1992 angenommen hat. Durch das RRG 1992 werden nunmehr auf Antrag auch Zeiten der nicht erwerbsmäßigen Pflege eines Pflegebedürftigen als Berücksichtigungszeiten (§ 57 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Rentenversicherung ≪SGB VI≫) und somit als rentenrechtlich relevante Zeiten (§ 54 Abs 1 Nr 3 SGB VI) anerkannt und bei der Bestimmung des für die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erforderlichen Vorversicherungszeitraumes nicht mitgezählt (§§ 43 Abs 3, 44 Abs 4 SGB VI, die im wesentlichen den §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG entsprechen). Hierbei handelt es sich indessen nicht um die Schließung einer bereits mit dem HBegleitG 1984 eröffneten planwidrigen Gesetzeslücke, die vor dem Inkrafttreten der §§ 57 Abs 2, 43 Abs 3, 44 Abs 4 SGB VI am 1. Januar 1992 (vgl Art 85 Abs 1 RRG 1992, aaO S 2261, 2394) durch die Gerichte geschlossen werden müßte, sondern um eine weitere, im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum liegende Maßnahme des sozialen Ausgleichs (vgl BT-Drucks 11/4124 S 167 zu § 57). Denn mit den im Katalog des § 23 Abs 2a Satz 2 Nr 5 AVG aufgeführten Zeiten der Erziehung eines Kindes bis zur Vollendung des Fünften Lebensjahres hat die Pflege eines Angehörigen nur gemeinsam, daß aufgrund familienrechtlicher Beziehungen die Betreuung eines Angehörigen übernommen und deswegen keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt wird. Während sich jedoch die Eltern der Erziehung eines Kindes in aller Regel weder rechtlich noch tatsächlich entziehen können, sind Kinder gegenüber ihren Eltern oder sonstigen nahen Angehörigen nicht in derselben Weise zu Pflegeleistungen verpflichtet, insbesondere müssen Pflegeleistungen gegenüber pflegebedürftigen Eltern regelmäßig nicht in Form von Naturalunterhalt durch eigene Betreuung erbracht werden. Vielmehr steht es bereits erwerbstätigen Kindern frei, sich an der Pflege der Eltern durch Dritte erforderlichenfalls finanziell zu beteiligen (§ 1612 Abs 1 BGB, Soergel-Häberle, BGB; 12 Aufl 1987, § 1612 Rz 2, 3 im Gegensatz zum Familienunterhalt nach § 1360a BGB gegenüber Ehegatten und Kindern, vgl Soergel-Lange, BGB, 12. Aufl 1987, § 1302a Rz 9, 13).
Der Gesetzgeber war nach Art 3 Abs 1 GG auch nicht daran gehindert zu bestimmen, daß §§ 57 Abs 2, 43 Abs 3, 44 Abs 4 SGB VI nur für die ab 1. Januar 1992 eintretenden Versicherungsfälle Anwendung finden. Dies entspricht einem allgemeinen Grundsatz des Rentenversicherungsrechts, wonach gesetzlich neu eingeführte Leistungsverbesserungen – vorbehaltlich ausdrücklicher Übergangsbestimmungen – grundsätzlich nur für Leistungsfälle wirksam werden, bei denen der Versicherungsfall nach Inkrafttreten der Neuregelung eintritt (vgl BSG Urt.v. 29. November 1990 – 5/4a RJ 53/87 mwN). Ungleichheiten, die durch Stichtagsregelungen entstehen, müssen nämlich hingenommen werden, wenn die Einführung eines Stichtages notwendig und die Wahl des Zeitpunktes, orientiert am gegebenen Sachverhalt, sachlich vertretbar ist (BVerfGE 75, 78, 106 = SozR 2200 § 1246 Nr 142, S 467; BVerfGE 58, 81, 126 = SozR 2200 § 1255a Nr 7, S 22; BVerfGE 80, 297, 311; BVerfGE 44, 1, 21).
Die Rüge der Klägerin, §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG verstießen gegen die EWG-Rl 79/7 vom 19. Dezember 1978 (ABl Nr L 6/24 vom 10. Januar 1979) mit der Folge, daß Zeiten der unentgeltlichen Pflege eines Pflegebedürftigen bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate iS des § 23 Abs 2a Satz 1 AVG nicht mitzuzählen seien, ist ebenfalls unbegründet.
Die genannte Richtlinie hat nach Art 1 zum Ziel, daß auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung iS des Art 3 EWG-Rl 79/7 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen schrittweise verwirklicht wird. Sie erfaßt nach Art 3 die gesetzlichen Systeme, die unter anderem Schutz gegen die Risiken des Alters und der Invalidität bieten, also auch den Schutz bei Erwerbs- und Berufsunfähigkeit nach dem AVG. Nach Art 4 Abs 1 aaO beinhaltet der Grundsatz der Gleichbehandlung „den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand.” Zu diesem Zweck schreibt Art 8 aaO vor, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen haben, um den Richtlinien binnen sechs Jahren nach ihrer Bekanntmachung am 23. Dezember 1978 nachzukommen. Die Klägerin kann sich auch seit dem 23. Dezember 1984 auf Art 4 Abs 1 EWG-Rl 79/7 vor einem innerstaatlichen Gericht berufen, um die Anwendung aller mit dieser Vorschrift unvereinbaren innerstaatlichen Vorschriften auszuschließen (EuGHE 1986, 3855, 3976 = SozR 6083 Art 4 Nr 2; EuGHE 1987, 1453, 1567 = SozR 6083 Art 4 Nr 3; EuGHE 1987, 2865, 2880 f; EuGH NZA 1991, 59, 60; zur Rechtsgrundlage der unmittelbaren Anwendbarkeit: Art 189 Abs 3, Art 5 EWG-Vertrag vgl EuGHE 1988, 4689, 4722; allgemein zur unmittelbaren Wirkung von EG-Richtlinien vgl Jarass NJW 1990, 2420, 2422 f mwN sowie Steindorff RdA 1988, 129, 135 mwN).
Entgegen der Ansicht der Klägerin bewirken die §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG aber keine mittelbare Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Sie verstoßen nicht gegen Art 4 Abs 1 EWG-Rl 79/7. Eine mittelbare Diskriminierung liegt dann vor, „wenn eine ihrem Wortlaut nach neutrale Vorschrift ein Kriterium oder ein Verfahren enthält, das für die Person eines Geschlechts, insbesondere wegen des Bezugs auf den Ehe- oder Familienstand, tatsächlich eine unverhältnismäßige nachteilige Wirkung hat, die nicht durch zwingende Gründe oder Umstände gerechtfertigt ist, die in keinem Zusammenhang mit dem Geschlecht der betroffenen Personen stehen” (so Art 5 Abs 1 des Entwurfs einer Richtlinie des Rates zur Beweislast im Bereich gleichen Entgelts und der Gleichbehandlung von Frauen und Männern, BR-Drucks 304/88 S 12; ähnlich bereits EuGHE 1986, 1630; EuGH NZA 1991, 59, 60).
Zwar ist statistisch gesehen eine unterschiedliche Betroffenheit von Männern und Frauen durch die §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG nicht auszuschließen. Während im Jahr 1983 noch 166.417 Frauen und 145.265 Männer eine Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit erhielten, gingen die Rentenzugangszahlen im Jahre 1989 bei Frauen auf 60.868 gegenüber den Rentenzugangszahlen bei Männern (1989: 120.616) relativ stärker zurück (vgl Rentenanpassungsbericht 1990, BT-Drucks 11/8504 S 73 f). Obgleich der Rentenanpassungsbericht 1990 keinen exakten Schluß zuläßt, worauf dieser relativ stärkere Rückgang beim Rentenzugang von Frauen beruht, dürfte hierfür die überkommene Geschlechterrolle ursächlich sein (vgl Bieback ZIAS 1990, 1, 25; Kaltenbach DAngVers 1988, 278, 289). So wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren zum HBegleitG 1984 darauf hingewiesen, daß es gerade Hausfrauen sein werden, die wegen ihrer Tätigkeit im Haushalt keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nachgehen und deshalb öfter als Männer die verschärften Voraussetzungen der §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG für den Erwerb einer Rente wegen Erwerbs-oder Berufsunfähigkeit nicht erfüllen (BR-Drucks 302/83, S 5 f, Beschluß vom 2. September 1982). Diese rein statistisch unterschiedliche Auswirkung der §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG auf Frauen und Männer stellt indessen keine rechtswidrige Diskriminierung von Frauen dar, sondern ist durch den Zweck dieser Vorschriften gerechtfertigt. Das HBegleitG 1984, mit dem die §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG eingeführt wurden, sollte zwar auch die Finanzgrundlage der Rentenversicherung verbessern, jedoch ohne einen willkürlichen und allein auf (Haus-)Frauen abzielenden Ausschluß von bestimmten Leistungen. Das Gesetz hatte vielmehr zum Ziel, daß künftig nur noch die Versicherten eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sollten erhalten können, die regelmäßig beschäftigt oder tätig waren und das dadurch erzielte Erwerbseinkommen durch die Minderung der Erwerbsfähigkeit verloren haben (vgl BR-Drucks 302/83, S 57, 60). Eine derartige, das Versicherungsprinzip stärkende Strukturreform ist dem nationalen Gesetzgeber selbst dann nicht verwehrt, wenn von ihr mehr Frauen als Männer nachteilig betroffen werden, denn der Grundsatz der Gleichbehandlung (Art 4 Abs 1 EWG-Rl 79/7) strebt nur die gleichmäßige Behandlung von Frauen und Männern innerhalb eines bestimmten Systems sozialer Sicherheit an, nicht aber rein zahlenmäßige Ausgewogenheit bei der Zuteilung oder Gewährung von Sozialleistungen.
Im übrigen hätte die Klägerin, die bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung die Wartezeit für eine Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit erfüllt hatte, die bereits erworbene Anwartschaft durch Entrichtung freiwilliger Beiträge aufrecht erhalten können (vgl Art 2 § 7b Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz -AnVNG), so daß die §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts mit Art 14 Abs 1 und Art 3 Abs 1 GG vereinbar sind (vgl BVerfGE 75, 78 = SozR 2200 § 1246 Nr 142). Hier wären für den relativ kurzen Zeitraum von Januar bis Juli 1984 Beiträge für eine freiwillige Versicherung aufzubringen gewesen. Nachdem allerdings am 5. Februar 1986 der Versicherungsfall eingetreten war, konnten für die Zeit vorher mangels Abgabe einer entsprechenden Bereiterklärung der Klägerin zur Beitragsentrichtung vor Eintritt des Versicherungsfalles keine freiwilligen Beiträge mehr entrichtet werden (§ 141 Abs 1 AVG). Deshalb bedarf es auch keines Eingehens darauf, ob § 140 Abs 3 AVG überhaupt bei freiwilligen Beiträgen entsprechend angewendet werden kann.
Der Senat hat nach alledem keinen Zweifel, daß es Art 4 Abs 1 EWG-Rl 79/7 dem nationalen Gesetzgeber nicht verbietet, in einem gesetzlichen Rentenversicherungssystem den Schutz gegen das Risiko der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit im wesentlichen auf die abhängig Beschäftigten bzw die Pflichtversicherten zu beschränken (vgl hierzu BVerfG SozR 2200 § 1246 Nr 142 S 465 unter dem Gesichtspunkt der Art 3 Abs 1, 14 Abs 1 Satz 2 GG). Es bestand daher, zumal auch in der Literatur wesentliche und begründete Zweifel nicht erhoben worden sind, keine Veranlassung, die im Hilfsantrag gestellte Frage gemäß Art 177 EWG-Vertrag dem EuGH vorzulegen.
Die Verfahrensrüge der Klägerin, das LSG habe keinerlei Feststellungen darüber getroffen, ob bei ihr schon vor dem 1. Juli 1984 zumindest der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eingetreten sei und das Urteil des LSG entgegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG insoweit keine Gründe enthalte, führt nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Zwar hat sich das LSG (wahrscheinlich, weil die auch in den Vorinstanzen gewerkschaftlich vertreten gewesene Klägerin zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich Berufsunfähigkeitsrente beantragt hatte) in seinem Urteil nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit geäußert. Es ist auch von der Stellung eines entsprechenden stillschweigenden Hilfsantrags regelmäßig dann auszugehen, wenn dem Versicherten durch die Gewährung der (niedrigeren) Rente wegen Berufsunfähigkeit anstatt der ausdrücklich beantragten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit – abgesehen von der Rentenhöhe – rechtliche oder tatsächliche Nachteile nicht entstehen können (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Band IV S 666 v I; ähnlich BSG SozR Nrn 10 und 26 zu Art 2 § 42 ArVNG zum Hilfsantrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, wenn der Hauptantrag auf ein Altersruhegeld geht). Indessen lassen die vom LSG getroffenen tatsächlichen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen (§ 163 SGG) nicht nur für den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit, sondern auch den der Berufsunfähigkeit eine abschließende Beurteilung durch das Revisionsgericht zu:
Berufsunfähig ist nach § 23 Abs 2 Satz 1 AVG ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin bis zum 5. Februar 1986, als sie den Schlaganfall erlitt, in der Lage, leichte körperliche Arbeiten wie auch ihre Tätigkeiten bei der Firma C. … als Verkäuferin vollschichtig auszuüben. Diese Beschäftigung wurde, wie das LSG weiter festgestellt hat, auch nicht auf Kosten der Gesundheit ausgeübt, da die Klägerin nur kurzfristig morgens und abends im Rahmen der Verkaufsvor- und Nachbereitung Waren von mehr als 5 kg bewegen mußte. Das LSG hat hieraus den Schluß gezogen, daß erst am 5. Februar 1986 der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist. Diese Feststellungen führen darüber hinaus zu dem Schluß, daß die Klägerin bis zu diesem Zeitpunkt noch in der Lage war, ihrem bisher ausgeübten Beruf (vollschichtig) nachzugehen, so daß schon deshalb – ohne daß es der Heranziehung sog Verweisungstätigkeiten bedarf – auch der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit erst mit dem Ereignis vom 5. Februar 1986 und nicht – wie von der Klägerin behauptet – bereits vor dem 1. Juli 1984 eingetreten ist. Hieraus folgt, daß die auch für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erforderliche Vorversicherungszeit (§ 23 Abs 2a AVG) nicht erfüllt ist und ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ebenfalls nicht besteht. Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits zur weiteren Sachaufklärung bedarf es somit nicht (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen