Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Antragserfordernis. verspätete Abgabe des ausgefüllten Antragsformulars. Formfreiheit des Antrages. keine Verwirkung des Antragsrechts
Leitsatz (amtlich)
1. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2 ist an keine Form gebunden.
2. Nach Antragstellung hat die Behörde das Verwaltungsverfahren nach den Regelungen des SGB 1 und des SGB 10 durchzuführen. Eine Verwirkung des Antragsrechts nach den Grundsätzen von Treu und Glauben kommt im Regelfall nicht in Betracht.
Normenkette
SGB 2 § 37 Abs. 1, 2 S. 1, § 41 Abs. 1 S. 4 Fassung: 2006-07-20, S. 5 Fassung: 2006-07-20; SGB 1 § 16 Abs. 3 S. 1, § 60 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, § 66 Abs. 3; SGB 10 § 9 Fassung: 2001-01-18; BGB §§ 130, § 130ff, § 242
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 9. Juni 2005 bis 2. Januar 2006.
Der im Mai 1981 geborene Kläger arbeitete als Auszubildender in einem Dentallabor. Er stand ab 1. Februar 2005 bis zum 28. Januar 2006 im Bezug von Arbeitslosengeld (Alg) nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) bei der Agentur für Arbeit. Zunächst wurde ihm Alg in Höhe von monatlich 113,10 Euro und ab 19. Oktober 2005 in Höhe von 126,30 Euro bewilligt.
Am 9. Juni 2005 sprach der Kläger bei der Beklagten wegen der Beantragung von Leistungen nach dem SGB II vor. Ihm wurde dabei ein Antragsformular ausgehändigt, auf das im Feld "Tag der Antragstellung" der Stempel "9.6.05" aufgebracht war. Persönliche Daten des Klägers wurden am 9. Juni 2005 durch die Beklagte nicht erfasst. Am 3. Januar 2006 legte der Kläger sodann das nunmehr ausgefüllte Antragsformular vom 9. Juni 2005 bei der Beklagten vor. Er gab an, seinen Lebensunterhalt durch das Alg nach dem SGB III, Erspartes und Darlehen seiner Eltern bestritten zu haben.
Der Kläger bewohnt eine Einraumwohnung mit 26,56 m² Wohnfläche und einer monatlichen Nettokaltmiete von 135,40 Euro. Die Nebenkostenvorauszahlung beträgt monatlich 65 Euro. Nach den Feststellungen des LSG hatte er am 21. April 2005 1.633,61 Euro auf sein Girokonto überwiesen. Sein Geldmarktkonto wies zwischen Juni 2005 und Januar 2006 ein Guthaben zwischen 16,13 Euro und 3,52 Euro aus. Ein Wertpapierdepot hatte am 30. Juni 2005 ein Volumen von 1.094,82 Euro, das sich bis zum 31. Januar 2006 auf 789,51 Euro reduzierte. Das Girokonto des Klägers verringerte sich von 1.598,49 Euro (Stand 17. Mai 2005) auf 145,94 Euro (Stand 3. Januar 2006).
Die Beklagte bewilligte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 3. Januar 2006 bis 31. Januar 2006 in Höhe von 436,77 Euro und ab 1. Februar 2006 bis 30. Juni 2006 in Höhe von monatlich 508,22 Euro (Bescheid vom 3. Januar 2006). Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, den er damit begründete, das Datum der Antragstellung (9. Juni 2005) sei bei der Bewilligungsentscheidung nicht berücksichtigt worden. Der Widerspruch blieb erfolglos. In ihrem Widerspruchsbescheid vom 18. August 2006 führte die Beklagte aus, der Kläger habe vom 9. Juni 2005 bis 2. Januar 2006 seinen Lebensunterhalt aus Alg nach dem SGB III, Erspartem sowie Unterstützungsleistungen seiner Eltern bestreiten können. Mangels Hilfebedürftigkeit habe daher kein Anspruch nach dem SGB II bestanden.
Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Dresden erhoben, das durch Gerichtsbescheid vom 11. Juli 2007 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2006 verurteilt hat, dem Kläger auch für die Zeit vom 9. Juni 2005 bis einschließlich 2. Januar 2006 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, § 37 SGB II schreibe für den notwendigen Antrag keine bestimmte Form vor. Die Beklagte sei als Leistungsträger nach § 16 Abs 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) vielmehr verpflichtet darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt würden. Nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 Abs 1 SGB I komme eine Versagung der Leistung wegen einer Verweigerung der Mitwirkung in Betracht. Vorliegend habe der Kläger indes alles Erforderliche getan, um die Leistungen mit Wirkung ab Antragstellung zu erhalten. Dass die Beklagte nicht vermerke, an wen sie einen abgestempelten Antrag herausgebe, falle in die Organisationssphäre der Beklagten und könne dem Leistungsempfänger nicht zum Nachteil gereichen. Auf Seiten des Klägers hätten ab dem 9. Juni 2005 auch die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen. Insbesondere sei der Kläger hilfebedürftig iS des § 9 Abs 1 SGB II gewesen. Sein monatlicher Bedarf betrage 503,22 Euro (311 Euro Regelleistung und 192,22 Euro Kosten der Unterkunft). Von seinen Eltern sei er lediglich in den Monaten Oktober und November 2005 bei den Mietzahlungen unterstützt worden. Der Kläger habe zum Zeitpunkt der Antragstellung auch über kein den Freibetrag übersteigendes Vermögen verfügt.
Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt, auf die das Landessozialgericht (LSG) den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen hat. Zur Begründung seines Urteils vom 15. Mai 2008 hat das LSG ausgeführt, zwar habe der Kläger am 9. Juni 2005 wirksam einen Antrag gestellt. Der Antrag nach § 37 SGB II sei eine einseitige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, für die weder eine bestimmte Form, noch die Verwendung eines bestimmten Formulars gesetzlich zwingend vorgegeben sei. Der Einordnung als Antrag stehe auch nicht entgegen, dass bei der Vorsprache des Klägers keine weiteren Daten - insbesondere auch zu seiner Person - aufgenommen worden seien. Letztlich könne dies aber dahinstehen, ebenso wie die Frage, ob der Kläger hilfebedürftig gemäß § 9 SGB II gewesen sei. Die mit dem Antrag des Klägers vom 9. Juni 2005 geltend gemachten Leistungsansprüche seien nämlich durch Verwirkung erloschen. Das Rechtsinstitut der Verwirkung, das eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) darstelle, beanspruche ungeachtet der Normierung spezieller Mitwirkungsobliegenheiten in den §§ 60 ff SGB I auch im Sozialrecht Geltung. Danach entfalle eine Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzutreten würden, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen ließen. Vorliegend habe der Kläger nach seiner Antragstellung nichts mehr getan, um seine Ansprüche weiter zu verfolgen. Insbesondere habe er das ausgefüllte Antragsformular erst fast sieben Monate nach der Antragstellung vorgelegt (Verwirkungsverhalten). Die behördliche Pflicht nach § 16 Abs 3 SGB I, auf unverzügliche klare und sachdienliche Anträge hinzuwirken, setze voraus, dass der jeweilige Antragsteller ein Mindestmaß an Angaben gemacht habe, das der Behörde eine Vorprüfung auf Vollständigkeit erst erlaube. Der Kläger habe hier nicht davon ausgehen können, dass eine derartige Vorprüfung ohne Vorlage des Antragsformulars und damit eine Bearbeitung seines mündlich gestellten Antrages durch die Beklagte habe stattfinden können. Das SGB II wolle den Hilfebedürftigen in existentiellen Notlagen Leistungen gewähren. Deshalb habe die Beklagte angesichts des Zuwartens des Klägers darauf vertrauen dürfen, dass dieser Leistungsansprüche nicht mehr rückwirkend geltend machen werde. Dies gelte jedenfalls dann, wenn zwischen der als Antragstellung zu wertenden Entgegennahme der Antragsvordrucke und der Vorlage der ausgefüllten Antragsvordrucke mehr als sechs Monate verstrichen seien. Der Gesetzgeber habe in § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II den Zeitraum von sechs Monaten als Regelbewilligungszeitraum definiert. Dieser Zeitraum sei mithin als eine verwirkungsähnliche Sondervorschrift zu betrachten, die eine zeitliche Grenze markiere, nach deren Überschreiten ein Rechtsverlust durch Untätigkeit eintrete. Schließlich habe die Beklagte auch im Vertrauen darauf, dass der Kläger keinen Antrag stellen werde, darauf verzichtet, im streitigen Zeitraum ihr Konzept des Förderns und Forderns (§§ 2 und 14 SGB II) durchzusetzen. Insbesondere habe sie vom Kläger keine Pflichten eingefordert, wie zB den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung, kontinuierliche Bewerbungen und Nachweise dieser Bewerbungen etc (Vertrauensverhalten).
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt sinngemäß eine Verletzung der §§ 37, 41 Abs 1 Satz 4 SGB II, § 16 Abs 3 SGB I und §§ 60 ff SGB I. Das LSG habe den aus dem bürgerlichen Recht abgeleiteten Grundsatz der Verwirkung unzutreffend angewandt. Hierfür sei erforderlich, dass bei dem Leistungsempfänger ein illoyales Verhalten vorliege. Es müssten also immer besondere Umstände hinzutreten. An dem sog Umstandsmoment fehle es im vorliegenden Fall. Zudem sei der Leistungsträger nach § 16 Abs 3 SGB I verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass Anträge möglichst zügig bearbeitet werden können. Fehle es an klaren und sachdienlichen Anträgen, so dürfe ein Antrag nicht einfach abgelehnt oder zurückgestellt werden. Vielmehr müsse der Leistungsträger dem Antragsteller bei der konkreten Wahrnehmung seines Rechts in dem nach den Umständen des Einzelfalles gebotenen Umfang behilflich sein. Die Beklagte habe sich bei der Abgabe des Antragsformulars offensichtlich keine Aufzeichnungen darüber gemacht, dass er - der Kläger - einen mündlichen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt habe. Dadurch habe sich die Beklagte selbst in den Zustand versetzt, keinerlei Nachfragen zu dem Antrag stellen zu können. Aus dieser fehlenden Dokumentation ergebe sich, dass die Beklagte sich in keiner Weise verfahrensmäßig eingerichtet habe. Den Leistungsempfänger träfen die Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff SGB I. Zu einer Leistungsversagung könne es nach § 66 Abs 1 SGB I nur kommen, wenn der Leistungsberechtigte auf seine Mitwirkungspflichten unter Fristsetzung konkret hingewiesen worden sei. Dies sei im vorliegenden Fall nicht geschehen. Schließlich überdehne das LSG auch § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II, wenn es hieraus einen Sechs-Monats-Zeitraum als generelle Grenze für die Verwirkung von Anträgen ableite. Es handele sich bei § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II lediglich um eine Sollvorschrift, wobei aus vielfachen Gründen eine abweichende Bewilligungsdauer bestimmt werden könne.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 2008 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 11. Juli 2007 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie geht mit dem LSG davon aus, dass der Antrag gemäß § 37 SGB II nicht an eine Form gebunden sei. Allerdings sei sie ihren aus dem Antrag entstehenden verfahrensrechtlichen Pflichten nachgekommen, indem sie den Revisionskläger mittels Aushändigung des Antragsformulars und eines weiteren Merkblatts auf alle Fragen und Probleme hingewiesen habe, die der Revisionskläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff SGB I anzugeben bzw zu beweisen habe. Weitergehende verfahrensrechtliche Verpflichtungen seien aus der Vorsprache vom 9. Juni 2005 nicht herleitbar. Es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, angeblich Hilfebedürftigen in existentieller Notlage "nachzulaufen", um Leistungsansprüche festzustellen und ggf bewilligen zu können. Eine existentielle Notlage sei schon immer dann in Frage zu stellen, wenn sie den Notleidenden nicht veranlasse, sich so zu verhalten, dass diese Situation möglichst schnell beseitigt werden könne. Zu berücksichtigen sei schließlich auch, dass das Leistungsrecht des Klägers nur dann bestehe, wenn er auch in der Lage sei, seine wirtschaftlichen Verhältnisse - etwa durch Aufnahme einer Arbeit - zu ändern. Dieser Nachweis sei bisher nicht erbracht worden, sodass materiell-rechtliche Ansprüche gar nicht entstanden seien. Verfahrensrechtlicher Antrag und materiell-rechtlicher Anspruch könnten bei Fällen wie dem vorliegenden zeitlich auseinanderfallen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Dem Kläger steht nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß §§ 19 ff SGB II für den Zeitraum ab dem 9. Juni 2005 zu (1.). Der Kläger hat am 9. Juni 2005 einen wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß § 37 SGB II gestellt (vgl hierzu unter 2.). Zu Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers entsprechend § 242 BGB verwirkt war, weil der Kläger nach der Antragstellung seine Ansprüche nicht weiter verfolgt hat (hierzu unter 3.). Der Anspruch des Klägers besteht auch für den gesamten geltend gemachten Zeitraum bis zum 2. Januar 2006 (vgl hierzu unter 4.).
1. Der Kläger war ab 9. Juni 2005 Berechtigter iS der §§ 7, 19 ff SGB II. Gemäß § 7 Abs 1 SGB II (in der hier maßgebenden Fassung des § 7 durch das Kommunale Optionsgesetz vom 30. Juli 2004, BGBl I 2014) erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Nr 1 bis 4 SGB II lagen bei dem Kläger vor. Er war insbesondere erwerbsfähig iS des § 8 SGB II. Ebenso war seine Hilfebedürftigkeit gemäß § 7 Abs 1 Nr 3 iVm §§ 9, 11, 12 SGB II gegeben. Der Kläger verfügte nach den Feststellungen des LSG über kein weiteres Einkommen iS des § 11 SGB II als das ihm gewährte Alg nach dem SGB III. Ebenso überstieg sein Vermögen nicht den ihm zustehenden Freibetrag von 5.550 Euro (gemäß § 12 Abs 2 Nr 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003, BGBl I 2954: 200 Euro je vollendetem Lebensjahr und 750 Euro gemäß § 12 Abs 2 Nr 4 SGB II).
2. Der Kläger hat auch gemäß § 37 Abs 1 SGB II einen wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gestellt. Dies haben auch die Vorinstanzen zutreffend erkannt. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung nach § 37 SGB II ist grundsätzlich an keine Form gebunden. Es gilt insofern der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (vgl § 9 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫; hierzu Link in Eicher/ Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 37 RdNr 20; Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 37 RdNr 10; Müller in Hauck/Noftz, SGB II, K § 37 RdNr 11, Stand 11/2004). Der Antrag nach dem SGB II ist eine einseitige, empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung (vgl Link aaO; Schoch aaO; Müller aaO), auf die - soweit sich nicht aus sozialrechtlichen Bestimmungen Anderweitiges ergibt - die Regelungen des BGB Anwendung finden (§§ 130 ff BGB). Mit der Willenserklärung des Antragstellenden muss mithin lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass Leistungen vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Bei der Beurteilung, ob und welche Leistungen beantragt werden sollen, ist dabei der wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher bindenden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) Feststellungen des LSG hat der Kläger am 9. Juni 2005 eine Sachbearbeiterin der Beklagten aufgesucht und dort erklärt, er erhalte Alg nach dem SGB III und strebe eine Aufstockung durch Alg II an. Die Sachbearbeiterin habe ihm daraufhin das Antragsformular ausgehändigt. Zutreffend hat das LSG dieses Verhalten des Klägers als eine Antragstellung gemäß § 37 Abs 1 SGB II rechtlich gewertet. Eine Auslegung des Verhaltens bzw der Erklärung des Klägers musste ergeben, dass er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II begehre. Der Kläger durfte auch - was das LSG ebenfalls zutreffend gewertet hat - davon ausgehen, dass die Beklagte sein Begehren verstanden hat. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die Beklagte ihm ein Antragsformular ausgehändigt hat, in dem unter der Rubrik "Tag der Antragstellung" mit einem Stempel der 9. Juni 2005 kenntlich gemacht wurde. Insofern durfte der Kläger bei einer laienhaften Wertung des Verhaltens der Beklagten davon ausgehen, dass die Beklagte seine Vorsprache als Antragstellung betrachten wolle.
3. Die durch die Antragstellung vom 9. Juni 2005 bei der Beklagten geltend gemachten Leistungsansprüche des Klägers nach dem SGB II sind auch nicht gemäß § 242 BGB durch Verwirkung erloschen.
a) Es bestehen bereits Zweifel, ob die Beklagte, wovon das LSG ausgegangen ist, sich überhaupt auf Verwirkung berufen kann, denn die Beklagte hat ihrerseits in dem durch den Antrag des Klägers eröffneten Sozialrechtsverhältnis ihre eigenen Rechte und Verpflichtungen aus dem Verwaltungsverfahrensrecht des SGB I und SGB X nur unzulänglich ausgeschöpft. Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat zwar nach der Rechtsprechung des Senats zunächst konstitutive Wirkung für einen Leistungsanspruch, wovon auch der Gesetzgeber des SGB II selbst ausging (vgl BT-Drucks 15/1516 S 62 zu § 37; zur Bedeutung der Antragstellung als Zäsur etwa für die Wertung, ob bestimmte Geldzuflüsse Einkommen oder Vermögen darstellen, vgl das Urteil des Senats vom 30. Juli 2008, B 14/7b AS 12/07 R). Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat darüber hinaus aber auch eine verfahrensrechtliche Bedeutung, indem der potentiell Hilfebedürftige durch die Antragstellung dem Grundsicherungsträger signalisiert, dass er nunmehr die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens (§§ 8 ff SGB X iVm § 40 Abs 1 SGB II) begehrt, das grundsätzlich mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes (Ablehnung oder Bewilligung der Leistungen) abgeschlossen wird. Im Rahmen dieses durch den Antrag eröffneten Verwaltungsverfahrens treffen sowohl die Behörde wie auch den Antragsteller bestimmte Pflichten, die im Einzelnen im SGB I und SGB X normiert sind. So muss der Grundsicherungsträger gemäß § 16 Abs 3 SGB I darauf hinwirken, dass der Antragsteller unverzüglich klare und sachdienliche Anträge stellt und unvollständige Angaben ergänzt. Weiterhin treffen den Grundsicherungsträger gemäß §§ 14 ff SGB I weitgehende Beratungs- und Aufklärungspflichten. Dem korrespondiert die Verpflichtung des antragstellenden Bürgers, im Verwaltungsverfahren mitzuwirken. So kann nach § 60 SGB I von dem Antragsteller verlangt werden, bestimmte Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen (§ 60 Abs 1 Nr 3 SGB I; vgl zur Vorlagepflicht von Kontounterlagen das Urteil des Senats vom 19. September 2008 - B 14 AS 45/07 R - BSGE 101, 260 = SozR 4-1200 § 60 Nr 2). Dementsprechend hätte die Beklagte hier gemäß § 60 Abs 2 SGB I vom Kläger verlangen können, bestimmte Vordrucke - wie etwa das Antragsformular - zu benutzen und dieses ausgefüllt vorzulegen. § 66 SGB I sieht bei fehlender oder nicht rechtzeitiger Mitwirkung die Sanktion der Leistungsversagung vor, wenn die dort genannten formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Gerade das austarierte Regelungsinstrumentarium der Mitwirkungsvorschriften in den §§ 60 ff SGB I macht deutlich, dass die leistungsauslösende Wirkung des Antrags von einem Sozialleistungsträger in der Regel nicht durch die Berufung auf Verwirkung beseitigt werden kann. Insbesondere § 66 Abs 3 SGB I zeigt, dass ein Leistungsberechtigter nach Einleitung eines Verwaltungsverfahrens nach §§ 8 ff SGB X darauf vertrauen kann, dass er auf Mitwirkungsversäumnisse schriftlich hingewiesen wird und zudem die Gelegenheit erhält, das Versäumte nachzuholen. Die Beklagte wäre daher hier nach der Antragstellung durch den Kläger vorrangig gehalten gewesen, im Wege der §§ 60 ff SGB I die Mitwirkung des Klägers - mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten - einzufordern.
b) Ungeachtet dessen ist aber auch unter Zugrundelegung der aus § 242 BGB abzuleitenden und ergänzend in das Sozialrecht übertragbaren Grundsätze der Verwirkung (vgl grundlegend BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6; BSGE 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4) nicht davon auszugehen, dass der Leistungsanspruch des Klägers hier verwirkt ist. Nach § 242 BGB iVm den Grundsätzen des Sozialrechtsverhältnisses entfällt eine Leistungspflicht im Sozialrecht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben und dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6). Das LSG hat derartige besondere Umstände im Verhalten des Klägers, die gerade bei dem Grundsicherungsträger eine besondere Vertrauensgrundlage geschaffen haben könnten, nicht festgestellt. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass die Beklagte offensichtlich keine Vorkehrungen dafür getroffen hat, wie mit ausgegebenen und mit Datumsstempel versehenen Antragsformularen umzugehen war. Die Beklagte hat - wovon auch das LSG offensichtlich ausgeht - noch nicht einmal die Anschrift und Personalien derjenigen Personen erfasst, an die sie die mit einem Datum versehenen Antragsformulare ausgegeben hat. Insofern kann auch bei der Beklagten kein besonderes Vertrauen dahingehend begründet worden sein, dass der Kläger nicht wiederkommen bzw seinen Antrag nicht aufrechterhalten werde. Ebenso ist nicht erkennbar, inwiefern der Beklagten als Träger öffentlicher Verwaltung ein unzumutbarer Nachteil dadurch entstehen könnte, dass dem Kläger nunmehr nachträglich noch Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen sind. Die Beklagte verkennt insofern, dass das SGB II - anders als früher das Sozialhilferecht - nicht mehr von einem "Aktualitätsgrundsatz" geprägt ist, nach dem dem Antragsteller möglicherweise entgegengehalten werden konnte, er habe in der Vergangenheit ja überlebt bzw gelebt, ohne dass Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums tatsächlich gewährt worden seien.
Gerade weil die Beklagte das Verwaltungsverfahren gemäß §§ 8 ff SGB X nicht durchgeführt hat, war es der Beklagten im übrigen auch nicht möglich, mit dem Kläger eine Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II zu schließen bzw diesen mit Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit gemäß § 16 SGB II zu konfrontieren. Dass dieses Verwaltungshandeln, zu dem sie verpflichtet gewesen wäre, unterblieben ist, kann mithin auch nicht zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden.
4. Der Anspruch des Klägers bestand auch für den Zeitraum ab Antragstellung bis zum 2. Januar 2006. Zwar schreibt § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II vor, dass die Leistungen jeweils für sechs Monate bewilligt und monatlich im Voraus erbracht werden sollen. Hieraus folgt jedoch nicht zwingend, dass jeweils nach Ablauf des Sechs-Monats-Zeitraums ein neuer Antrag zu stellen wäre bzw vorherige rechtliche Tatbestände (wie etwa eine Antragstellung) untergehen (vgl hierzu auch zum Verhältnis von Antrags- bzw Bewilligungszeitraum und sog Verteilzeitraum Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15). Ebenso haben die Senate des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass bei einer Leistungsablehnung der streitige Zeitraum sich über den gesamten möglichen Bewilligungszeitraum bis zum Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG erstreckt, ohne dass insofern eine Bindung an den Sechs-Monats-Zeitraum des § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II eintritt (stRspr seit BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, jeweils RdNr 19; zuletzt etwa Urteil des Senats vom 2. Juli 2009 - B 14 AS 54/08 R - RdNr 11). Es bestehen auch keine Bedenken, dass das SG, dessen Entscheidungstenor durch das Urteil des Senats wiederhergestellt wird, dem Kläger Leistungen bis einschließlich 2. Januar 2006 zugesprochen hat. Soweit aus den Akten ersichtlich, ist im Rahmen des Leistungsbezugs nach dem SGB III für den Zeitraum vom 4. August 2005 bis 17. August 2005 eine Sperrzeit eingetreten. Gemäß § 31 Abs 4 Nr 3 Buchst a SGB II ist der Grundsicherungsträger insofern an die Feststellung einer Sperrzeit durch die Agentur für Arbeit gebunden. Dementsprechend wird dem Kläger für den Zeitraum der zweiwöchigen Sperrzeit Alg II nur in einem abgesenkten Umfang gemäß § 31 Abs 1 SGB II bewilligt werden können. Nach § 31 Abs 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB II tritt jedenfalls im Fall des § 31 Abs 4 Nr 3 Buchst a SGB II Absenkung und Wegfall nach dem SGB II mit dem Beginn der Sperrzeit oder dem Erlöschen des Anspruchs nach dem SGB III ein. Eine mögliche Absenkung der Leistungshöhe lässt aber den Anspruch des Klägers auf Alg II für den geltend gemachten Zeitraum nicht dem Grunde nach entfallen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen