Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 02.04.1990) |
SG Lübeck (Urteil vom 20.06.1989) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. April 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Juni 1989 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind im gesamten Rechtsstreit nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei der 1982 geborenen Klägerin sind auf einen Antrag vom März 1986 ein „hirnorganisches Anfallsleiden” als Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G”, „B” und „H” anerkannt; die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG” (= außergewöhnliche Gehbehinderung) wurden verneint (Bescheid vom 14. April 1986, Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1986). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG” festzustellen (Urteil vom 20. Juni 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 2. April 1990). Die Klägerin könne sich infolge ihres Hirnleidens mit myoklonisch-astatischen Anfällen dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen. Sie gehöre zwar nicht zu den Behindertengruppen, für die der Bundesminister für Verkehr in den aufgrund des § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften (VV) zur Straßenverkehrsordnung (StVO) festgelegt habe, daß für sie die Voraussetzungen gegeben sind. Aber die Klägerin sei diesen Gruppen gleichzustellen. Nach sachkundiger Beurteilung könne sie während eines Anfalls und einige Stunden danach nicht gehen. Ihre Beine versagten dann mindestens in derselben Weise wie bei den in der VV genannten Querschnittgelähmten und ähnlich gehbehinderten Personen oder könnten nur wie bei diesen unter besonderen Erschwernissen ihre Funktionen erfüllen. Zusätzlich könne infolge Medikamentenüberdosierung eine Gangunsicherheit eintreten. Obwohl zeitweilig die Gehunfähigkeit nicht bestehe, müsse die Klägerin deshalb gleichgestellt werden, weil der Zustand, in dem sie an der Fortbewegung gehindert sei und der sich bis zu zwanzigmal am Tag wiederholen könne, nicht sicher vorhergesagt werden könne. Ständig drohe die konkrete Gefahr, daß ein schwerer Anfall spontan und ohne vorhergehende Anzeichen auftrete. Diesem Dauerzustand müsse durch den angestrebten Nachteilsausgleich entsprochen werden, damit die Klägerin mit Hilfe eines Kraftfahrzeuges, das ein Erwachsener steuere, ihr jeweiliges Ziel möglichst nahe anfahren könne.
Der Beklagte rügt mit der – vom LSG zugelassenen – Revision eine Verletzung der VV, die auf gesetzlicher Grundlage beruhe. Die Klägerin könne dem darin genannten Personenkreis nicht deshalb gleichgestellt werden, weil die Anfälle, die das Gehen verhinderten, oft zu befürchten seien. Die anderen Behinderten könnten tatsächlich den erforderlichen Weg nicht zurücklegen. Das LSG habe auch den Aussagen des Sachverständigen Prof. Dr. P. … zu Unrecht entnommen, daß die Anfälle „häufig” aufträten. Dies könne bei zeitlichen Abständen von Wochen oder Monaten zwischen den Anfällen nicht gesagt werden. Mit der Feststellung der Merkzeichen „B” und „G” werde ihrer Behinderung ausreichend Rechnung getragen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet.
Entgegen den Entscheidungen der Vorinstanzen ist die Klage abzuweisen.
Die Klägerin kann nicht von der Versorgungsverwaltung die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG” verlangen.
Nach dem Schwerbehindertenrecht hat das Versorgungsamt die Voraussetzungen für das Merkzeichen, das in den Schwerbehindertenausweis eingetragen wird, allein für den im Straßenverkehrsrecht zu gewährenden Nachteilsausgleich nach den in diesem Rechtsgebiet geltenden Vorschriften festzustellen (§ 3 Abs 4 und 1 Satz 1, Abs 5 SchwbG vom 8. Oktober 1979 – BGBl I 1649 – / 24. Juli 1986 – BGBl I 1110 –; § 4 Abs 4 und 5 SchwbG idF vom 26. August 1986 – BGBl I 1421, 1550 –; BSG SozR 3870 § 3 Nr 28; Urteil des Senats vom 9. März 1988 – 9/9a RVs 15/87 –). Dafür muß der Schwerbehinderte außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften sein (§ 1 Abs 1, § 3 Abs 1 Nr 1 Ausweisverordnung SchwbG idF vom 3. April 1984 – BGBl I 509 –). Daran fehlt es im Fall der Klägerin. Nach § 6 Abs 1 Nr 14 StVG (vom 19. Dezember 1952 – BGBl I 837 – / 3. August 1978 – BGBl I 1177 –) hat der Bundesminister für Verkehr Vorschriften über die Beschränkung des Haltens und Parkens zugunsten der Anwohner sowie über die Schaffung von Parkmöglichkeiten für Schwerbehinderte mit ausgewöhnlicher Gehbehinderung, insbesondere in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung oder ihrer Arbeitsstätte, zu erlassen. Für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung können besonders gekennzeichnete Parkmöglichkeiten eingerichtet werden (§ 45 Abs 1b, Satz 1 Nr 2 StVO). Ausnahmegenehmigungen für das Parken (§ 46 Abs 1 Satz 1 Nr 11 StVO) werden Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung erteilt. Das sind Personen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können; hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppelunter- und -oberschenkelamputierte, Hüftexartikulierte, einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd ein Kunstbein nicht tragen können oder nur eine Beckenkorbprothese oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die dem vorstehend bezeichneten Personenkreis nach medizinischer Erkenntnis gleichzustellen sind (VV II, 1 zu Nr 11 vom 24. November 1970 – Bundesanzeiger 1971 Nr 14 – / 21. Juli 1980 – Bundesanzeiger 1980 Nr 37 S 2 –). Schwerbehinderten ohne Fahrerlaubnis wird die Ausnahmegenehmigung für den jeweils sie befördernden Kraftfahrzeugführer ausgestellt (VV II, 2).
Die Klägerin ist dem Personenkreis mit den genau umschriebenen Behinderungen nicht gleichzustellen.
Die Parkvergünstigung, die vom Grundsatz der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer abweicht (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 30. Aufl 1989, § 6 StVG Rz 22c), ist eng zu verstehen. Sie kann über die bezeichneten Regelungen in den VV hinaus allein Personen gewährt werden, denen der unausweichliche Fußweg zwischen einem ordnungsmäßig haltenden oder parkenden Fahrzeug und dem angestrebten Ziel in ähnlicher Weise außerordentlich schwer fiele wie den ausdrücklich genannten Personen. Für sie soll ebenfalls diese Strecke möglichst verkürzt werden. Jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten würde sich nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirken; denn innerstädtische Parkflächen können nicht beliebig vermehrt werden, und im Interesse aller Verkehrsteilnehmer muß möglichst an deren Gleichberechtigung festgehalten werden (BSG aaO).
Zutreffend werden in den Gutachterrichtlinien wohl Behinderte, denen infolge hochgradiger Einschränkung der Herzleistung oder der Lungenfunktion das Gehen ungewöhnlich schwer fällt, den ausdrücklich in der VV genannten Behindertengruppen gleichgestellt (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1983, S 129). Eine gleichstarke Beeinträchtigung der Gehfähigkeit besteht bei der Klägerin nicht dauernd. Zwischen den Anfällen, die gelegentlich auftreten, kann sie trotz geringer Gehbehinderung Fußwege ohne außergewöhnliche Anstrengung bewältigen. Das steht nach den Feststellungen des LSG verbindlich fest (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Während der Anfälle und einige Zeit danach kann sie zwar überhaupt nicht gehen oder nur derart erschwert wie die ausdrücklich genannten Beinbehinderten. Das genügt aber nicht für die Voraussetzung von „aG”. Es fehlt am erforderlichen Dauerzustand. Wenn auch bis zu zwanzig Anfälle an einem bestimmten Tag auftreten können, so besteht dieser Krankheitszustand doch nicht ständig. Das ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, mag auch das LSG nicht ausdrücklich aus der Bekundung des Sachverständigen übernommen haben, daß die Anfälle zeitweilig in Wochen- und Monatsabständen auftreten. Falls in Zukunft, was in der mündlichen Verhandlung – für diesen Rechtsstreit unbeachtlich – vorgetragen worden ist, die Klägerin wegen gleichbleibender Häufigkeit der Anfälle ständig auf einen Rollstuhl angewiesen sein sollte, käme eine Gleichstellung in Betracht. Wegen der bisherigen Möglichkeit von Anfällen ist die Klägerin nicht Querschnittsgelähmten gleichzustellen, die ebenfalls nicht laufen können, sondern mit einem Rollstuhl fahren müssen. Dieser Zustand besteht bei ihnen dauernd. Die Parkerleichterung soll die Rollstuhlfahrstrecke abkürzen.
Die tragende Begründung des Berufungsurteils, daß die Anfälle jederzeit plötzlich und ohne vorheriges Anzeichen auftreten können und daß in den anfallsfreien Zeiten ständig mit einer solchen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit zu rechnen ist, vermag die erforderliche Gleichstellung nicht zu rechtfertigen. Die dauernde Gefahr des Eintretens einer außergewöhnlichen Gehunfähigkeit ist nicht einem Fortbestehen derselben gleichzuachten, wenn der Zweck der Parkvergünstigung berücksichtigt wird. Gefährdungen dieser Art bestehen bei zahllosen Behinderten mit hirnorganischen Anfallsleiden sowie bei unzähligen Personen mit anderen Erkrankungen, die gelegentlich zu einem anfallsartigen Zusammenbruch führen. Diese Personen können die notwendigen Wegstrecken zwischen dem vorschriftsmäßig abgestellten Kraftfahrzeug und ihrem jeweiligen Ziel zurücklegen, wenn auch manche unter Umständen mit gewissen Mühen. Wenn die Parkvergünstigung auf sie ausgedehnt würde, widerspräche das dem dargelegten Zweck der Ausnahmegenehmigung.
Falls einmal unmittelbar vor oder nach Verlassen eines Kraftfahrzeuges ein Anfall bei der Klägerin auftreten sollte und sie gehunfähig machte, bestände ein Notfall, der nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu einem straffreien Abweichen von der für alle Verkehrsteilnehmer bestehenden Parkregelung berechtigt (Jagusch/Hentschel, aaO, Einleitung Rz 117, 152; § 35 Abs 5a StVO, § 16 Ordnungswidrigkeitengesetz).
Wegen der Gefahr jener Notfälle mag die Klägerin auf ständige Begleitung angewiesen sein. Dieser Bedarfslage hat der Beklagte durch die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „B” sachgemäß entsprochen (§ 3 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Ausweisverordnung). Die Notwendigkeit fremder Hilfe ist durch das Merkzeichen „H” anerkannt (§ 3 Abs 1 Nr 2 Ausweisverordnung). Der erforderliche Zustand der Hilflosigkeit bei den Verrichtungen des täglichen Lebens (BSG SozR 3870 § 3 Nr 14) wird auch dann anerkannt, wenn dauernd eine Hilfskraft bereitstehen muß (BSGE 20, 205, 206 f = SozR Nr 14 zu § 35 BVG). Dies läßt sich aber nicht auf die Voraussetzung für „aG” übertragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen