Leitsatz (amtlich)
Wer seit über 10 Jahren Leistungen auf Grund eines Versorgungsleidens erhält und über 55 Jahre alt ist, behält nach § 62 Abs 3 S 1 BVG die Leistungen nicht nur trotz wesentlicher Besserung des Versorgungsleidens, sondern auch dann, wenn festgestellt wird, daß das Leiden unzweifelhaft von Anfang an rechtswidrig als Versorgungsleiden anerkannt worden ist; die Leistung darf auch nicht nach § 48 Abs 3 SGB X von Erhöhungen ausgespart werden.
Orientierungssatz
Zu den Gesichtspunkten, die bei der Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 1 Abs 3 S 3 BVG zu beachten sind, gehört auch die Regelung des § 45 Abs 3 SGB 10, wonach grundsätzlich nach zwei Jahren und für praktisch alle Fälle vorwerfbaren Verhaltens nach zehn Jahren die Rücknahme ausgeschlossen ist.
Normenkette
BVG § 1 Abs 3 S 3, § 62 Abs 3 S 1; SGB 10 § 48 Abs 3, § 45 Abs 4, § 45 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 30.08.1988; Aktenzeichen L 4 V 102/87) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 14.08.1987; Aktenzeichen S 8 V 74/87) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Anerkennung eines Leidens als rentenberechtigendes Versorgungsleiden nach mehr als 10 Jahren zurückgenommen oder zumindest für rechtswidrig erklärt werden kann, weil nach neuen medizinischen Erkenntnissen das Leiden nicht die Folge einer Schädigung ist.
Das beklagte Land anerkannte durch Bescheid vom 14. Juli 1949, der nach Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) durch Bescheid vom 12. Mai 1952 bestätigt wurde, daß der Kläger an "nervösen Ausfallerscheinungen nach Schädelbasisbruch mit Hirnquetschung wahrscheinlich infolge eines Unfalls im Wehrdienst" leide. Der Kläger bezieht seitdem nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH Versorgungsleistungen, die durch eine Reihe weiterer Bescheide regelmäßig angepaßt wurden. Im Jahre 1985 kam die Versorgungsverwaltung nach Auswertung eines Computer-Tomogramms zu dem Ergebnis, daß durch den Unfall eine Hirnquetschung nicht eingetreten sei. Nach Anhörung des Klägers nahm sie unter Berufung auf § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) sämtliche Bescheide wegen arglistiger Täuschung rückwirkend zurück und verlangte die Erstattung der gezahlten Versorgungsbezüge in Höhe von ca 61.000,-- DM (Bescheid vom 3. Juli 1986; Widerspruchsbescheid vom 23. März 1987). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufgehoben (Urteil vom 14. August 1987). Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte durch Bescheid vom 21. April 1988 die angefochtenen Bescheide ersetzt und die Rücknahme auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) gestützt. Als Schädigungsfolge hat er lediglich "Facialisparese rechts" ohne eine MdE in rentenberechtigendem Grade anerkannt. Von der Rückforderung der Versorgungsbezüge hat er abgesehen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und den neuen Bescheid aufgehoben (Urteil vom 30. August 1988). Die Anerkennung sei nicht zweifelsfrei unrichtig iS des § 41 KOVVfG. Denn die neueren diagnostischen Erkenntnisse hätten nach dieser Vorschrift unberücksichtigt zu bleiben.
Der Beklagte wendet sich mit der vom LSG zugelassenen Revision gegen diese Auffassung und beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit die angefochtenen Bescheide die Rechtswidrigkeit des Anerkennungsbescheides feststellen.
Sie ist der Auffassung, die Anerkennung könne wohl nicht mehr zurückgenommen werden; der bisher gezahlte Leistungsbetrag dürfe aber nicht mehr Grundlage für weitere Leistungserhöhungen sein. Das gebiete § 48 Abs 3 SGB X. Als Voraussetzung für die Aussparung von späteren Leistungserhöhungen sei die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anerkennung aufrechtzuerhalten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des beklagten Landes ist nicht begründet.
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß die 1949 durch Verwaltungsakt ausgesprochene Anerkennung bestimmter Gesundheitsstörungen des Klägers als Schädigungsfolgen nicht zurückgenommen werden darf, auch wenn sie rechtswidrig sein sollte. Das LSG hat den angefochtenen Rücknahmebescheid von 1988 zu Recht in vollem Umfang aufgehoben. Es brauchte nicht geprüft zu werden, ob er außer der Rücknahme jedenfalls als selbständige Regelung die Feststellung enthält, die Bescheide von 1949 und 1952 seien rechtswidrig. Denn auch eine solche Feststellung durfte nicht getroffen werden. Weder für die Rücknahme noch für die Feststellung der Rechtswidrigkeit ist eine Rechtsgrundlage gegeben.
Die Rücknahme kann schon wegen Fristablaufs nicht auf § 45 SGB X gestützt werden. Die Überschreitung der Zweijahresfrist, die nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X im Regelfall zu beachten ist, wäre nur zu rechtfertigen gewesen, wenn dem Kläger erheblich schuldhaftes Verhalten hätte vorgeworfen werden können. Aber selbst wenn festzustellen gewesen wäre, der Kläger habe 1949 vorsätzlich falsche Angaben gemacht, oder er habe die Rechtswidrigkeit der Anerkennung gekannt (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X), wäre die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB X einzuhalten gewesen. Nur wenn darüber hinaus dem Kläger hätte vorgeworfen werden können, er habe durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung die Anerkennung erwirkt, hätte es der Wortlaut des § 45 ermöglicht, die Zehnjahresfrist zu überschreiten. Davon kann aber nach den Feststellungen des LSG nicht ausgegangen werden. Die Beklagte beruft sich selbst nicht mehr darauf und hat den auf Arglist gestützten Bescheid vom 3. Juli 1986 durch den hier angefochtenen Bescheid vom 21. April 1988 ersetzt. - Die Rücknahme wäre nur dann noch möglich, wenn der Beginn der 10-Jahresfrist durch die Bescheide, die die Versorgungsleistungen in den letzten Jahren erhöhten (Folgebescheide), jeweils verschoben worden wäre, weil über die Anerkennung jeweils erneut entschieden worden wäre. Dann hätte noch mit den letzten Bescheiden ohne Fristprobleme auch die Anerkennung zurückgenommen werden können. So können die Folgebescheide aber nicht verstanden werden. Die Anerkennung war für die Folgebescheide eine Grundlage, über die nicht gestritten und deshalb auch nicht entschieden wurde (zur "Theorie der konstitutiven Fehlerwiederholung" vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 37). Die Folgebescheide sind auch nicht allein deshalb rechtswidrig, weil der Grundlagenbescheid rechtswidrig war (BSGE 63, 266, 267 f).
Eine ausdrücklich geregelte Frist für die Rücknahme wäre nicht zu beachten, wenn die Rücknahme auf § 41 KOVVfG oder § 1 Abs 3 Satz 3 BVG gestützt werden könnte. Beide Vorschriften regeln - insoweit übereinstimmend (BSG SozR 3100 § 1 Nr 41) - die Fälle zweifelsfreier Rechtswidrigkeit. Auch wenn man die zweifelsfreie Rechtswidrigkeit der Anerkennung im vorliegenden Fall unterstellt, hat die Klage Erfolg, denn es fehlt eine weitere Voraussetzung für die Anwendung dieser Rücknahmevorschriften.
Wenn man mit dem 4b Senat des Bundessozialgerichts -BSG- (vgl BSGE 62, 192 = SozR 3100 § 1 Nr 39) die Rücknahme in sogenannten Altfällen - wie hier - noch auf § 41 KOVVfG (idF vom 6. Mai 1976 - BGBl I 1169 -) stützen wollte, scheitert die Rücknahme an dem für die Prüfung der zweifelsfreien Rechtswidrigkeit maßgebenden Zeitpunkt. Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts war nach dieser Vorschrift nur dann möglich, wenn der Verwaltungsakt bei Ausschöpfung der zur Zeit seines Erlasses bestehenden Erkenntnismöglichkeiten zweifelsfrei nicht hätte ergehen dürfen (BSGE 29, 37, 39 mwN). Kein Rücknahmegrund war die erst durch spätere Diagnosemethoden ermöglichte Erkenntnis, daß der Verwaltungsakt zweifelsfrei rechtswidrig war. So liegt der Fall aber hier.
Wenn man - wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (BSGE 65, 60 = SozR 3100 § 1 Nr 43) - für die Rücknahme § 1 Abs 3 Satz 3 BVG für einschlägig hält, der zusammen mit dem SGB X eingeführt worden ist (BGBl I 1980, 1469, ber. 2218), ist es unerheblich, aufgrund welcher Erkenntnismöglichkeiten die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsakts festgestellt wird. Daß in dieser Rücknahmevorschrift keine Frist aufgeführt ist, heißt aber nicht, daß die Rücknahme zeitlich unbeschränkt, also auch nach Jahrzehnten möglich sei. Da die Verwaltung, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 1 Abs 3 Satz 3 BVG erfüllt sind, nicht zurücknehmen muß, sondern nur zurücknehmen "kann", hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen die Gesichtspunkte abzuwägen, die für die Durchsetzung der inhaltlichen Richtigkeit des Verwaltungshandelns einerseits und für die Bestandskraft eines Verwaltungsakts andererseits sprechen. Im Gesetz fehlen im Zusammenhang mit § 1 Abs 3 Satz 1 BVG Abwägungsgesichtspunkte. Es drängt sich daher auf, diejenigen Gesichtspunkte jedenfalls im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen, die in § 45 SGB X schon als gesetzliche Voraussetzungen der Rücknahme aufgeführt sind. Denn daß das Gesetz hier im Unterschied zu der allgemeinen Rücknahmeregelung des § 45 SGB X, den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts und den entsprechenden Vorschriften im Verwaltungsverfahrensgesetz keine Abwägung, sondern immer nur die Rücknahme verlangen wollte, ist ausgeschlossen. Das würde dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Grundgesetz -GG-) ergebenden Gebot widersprechen, dem Vertrauen in bindende staatliche Entscheidungen und damit zugleich der Rechtssicherheit in angemessenem Umfang Geltung zu verschaffen (vgl BSGE 65, 60, 61 mN aus der Rechtsprechung des BVerfG). Zu den danach zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört auch die Regelung des § 45 Abs 3 SGB X, wonach grundsätzlich nach zwei Jahren und für praktisch alle Fälle vorwerfbaren Verhaltens nach zehn Jahren die Rücknahme ausgeschlossen ist. In aller Regel wird - wie das BSG aaO entschieden hat - zehn Jahre nach Anerkennung von Schädigungsfolgen die Ermessensentscheidung nur noch gegen die Rücknahme ausfallen können. Dies ist im Versorgungsrecht auch deshalb offensichtlich, weil sogar bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse jedenfalls ältere Versorgungsempfänger nach zehn Jahren gegen ein Absinken der ihnen gewährten Leistung geschützt sind (§ 62 Abs 3 BVG). Es ist nicht zu erkennen, daß im vorliegenden Fall Gesichtspunkte vorliegen könnten, die eine Abweichung von der Regel rechtfertigen könnten. Im Gegenteil spricht noch zusätzlich gegen die Rücknahme der Anerkennung, daß die Schädigung vor über 50 Jahren, die Anerkennung vor über 40 Jahren erfolgt ist.
Entgegen der Meinung der beigeladenen Bundesrepublik hat die Versorgungsverwaltung auch nicht die Befugnis, durch Verwaltungsakt festzustellen, die 1949 ausgesprochene Anerkennung sei rechtswidrig und der Kläger sei von zukünftigen Leistungserhöhungen auszuschließen. Die für eine solche Regelung in Betracht kommende Vorschrift - § 48 Abs 3 SGB X - legt fest, daß Verwaltungsakte, die trotz Rechtswidrigkeit nicht zurückgenommen werden können, nicht Grundlage von Leistungserhöhungen sein dürfen, wenn die Rechtswidrigkeit festgestellt ist. Das gilt vor allem dann, wenn eine Rücknahmefrist abgelaufen ist. Es ist jedoch zweifelhaft, ob § 48 Abs 3 SGB X von der Verwaltung verlangt, daß sie Vorgänge, die durch Verwaltungsakte abgeschlossen sind, die ihrerseits wegen des Ablaufs von Fristen nicht mehr zurückgenommen werden können, zeitlich unbeschränkt, also noch mehr als zehn Jahre, zur Überprüfung der Frage bereit hält, ob die Leistungen aufgrund dieser Verwaltungsakte wenigstens "eingefroren" werden können. Besonders fraglich ist, ob das Gesetz dem Sozialleistungsempfänger zumutet, sogar auf Lebenszeit mit der Feststellung rechnen zu müssen, daß bestandskräftige Bescheide rechtswidrig sind und nicht mehr Grundlage für Leistungserhöhungen sein dürfen.
Jedenfalls für das Versorgungsrecht hat der Gesetzgeber verdeutlicht, daß er diese Bedenken teilt und daß § 48 Abs 3 SGB X nicht zeitlich unbeschränkt angewendet werden kann. Aus § 62 Abs 3 Satz 1 BVG idF des 3. Neuordnungsgesetzes vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750), den das SGB X unberührt ließ, folgt, daß Leistungsempfänger, die über 55 Jahre alt sind und bei denen seit über zehn Jahren unverändert eine Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt ist, nicht mehr mit einem Eingriff in das Versorgungsverhältnis rechnen müssen. § 62 Abs 3 Satz 1 BVG schließt einen Eingriff zwar ausdrücklich nur in den Fällen aus, in denen wegen einer Besserung des Gesundheitszustandes die anerkannte MdE an sich herabzusetzen wäre. Es liegt also nur eine Regelung für die Fälle vor, in denen ein begünstigender Verwaltungsakt nachträglich rechtswidrig wird und für die § 48 Abs 1, nicht aber Abs 3 SGB X gilt. Der Rechtsgedanke des § 62 Abs 3 Satz 1 BVG zeigt aber, daß die hier genannten Versorgungsempfänger nicht nur gegen den Eingriff wegen einer rechtswidrig gewordenen, sondern auch gegen einen Eingriff wegen einer anfänglich rechtswidrigen Anerkennung geschützt sein sollen. Das Gesetz nimmt ausdrücklich in Kauf, daß ein nachträglich rechtswidriger Zustand, der erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres eintritt oder bemerkt wird und nach § 48 Abs 1 SGB X beseitigt werden könnte, bei einem Beschädigten aus Vertrauensschutzgründen aufrechterhalten bleibt und auch nicht durch § 48 Abs 3 SGB X einschränkbar ist. Auch wer von den anerkannten Gesundheitsstörungen völlig genesen ist, behält die Leistungen und muß nicht das "Einfrieren" nach § 48 Abs 3 SGB X befürchten. Daß der Gesetzgeber demjenigen, bei dem schon vor mehr als zehn Jahren der Gesundheitszustand oder dessen Zusammenhang mit einer Schädigung fehlerhaft beurteilt worden war, weniger Vertrauensschutz habe gewähren wollen, ist nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen