Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und die Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und die Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit von Praktikanten
Leitsatz (redaktionell)
Eine während der Semesterferien ausgeübte - durch Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebene - berufspraktische Tätigkeit ist versicherungsfrei nach RVO § 172 Abs 1 Nr 5 und AVG § 4 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1228 Abs 1 Nr 3).
Normenkette
RVO § 165 Abs. 2 Fassung: 1956-06-12; SGB IV § 7 Abs. 2 Fassung 1976-12-23; AVG § 4 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 165 Abs. 1 Nr. 6 Fassung 1975-06-24, Nr. 2 Fassung: 1970-12-21, § 1228 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23, § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung 1975-06-24
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 28. April 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und die Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit (BA) von zwei bei der Klägerin in den Semesterferien als Praktikantinnen beschäftigt gewesenen Studentinnen und daraus folgend die Beitragspflicht der Klägerin als Arbeitgeberin.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) absolvierten während ihres Studiums an der Universität Hohenheim in den Ferien zwischen zwei Semestern ein befristetes Praktikum, und zwar die Beigeladene zu 1) in der Zeit vom 5. Juli 1976 bis 30. Oktober 1976 und die Beigeladene zu 2) in der Zeit vom 16. August 1976 bis 31. Oktober 1976. Beide erhielten ein monatliches Entgelt von 650,-- DM. Mit Bescheiden vom 24. September 1976 und 15. November 1976 forderte die Beklagte von der Klägerin Beiträge für die Beigeladenen zu 1) und 2) zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Widersprüche der Klägerin blieben erfolglos (Widerspruchsbescheide vom 21. März 1977). Auf die Klagen hat das Sozialgericht (SG) Heilbronn die Bescheide der Beklagten in der Gestalt der Widerspruchsbescheide aufgehoben (Urteil vom 28. April 1978). Nach Auffassung des SG unterlagen die Beigeladenen zu 1) und 2) wegen ihrer Beschäftigung als Praktikantinnen nicht der Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 2 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sowie der Beitragspflicht nach § 168 Abs 1 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Sie seien vielmehr nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG und § 169 Satz 1 Nr 1 AFG versicherungsfrei gewesen und hätten nur der Krankenversicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 5 bzw 6 RVO unterlegen.
Mit der – vom SG mit Kammerbeschluß zugelassenen – Sprungrevision wendet sich die Beklagte gegen diese Rechtsauffassung. Zur Begründung bringt sie ua vor, die Beigeladenen zu 1) und 2) hätten eine Beschäftigung iS des § 165 Abs 2 RVO ausgeübt. Sie hätten sich im Betrieb der Klägerin betätigt, um im Wege der praktischen Arbeit Erfahrungen zu sammeln. Dabei seien sie im Rahmen ihres Ausbildungsstandes in den Arbeitsprozeß des Betriebes einbezogen worden, was auch die Höhe des Entgelts zeige. Auch wenn die Direktionsgewalt der Klägerin durch Richtlinien zum Praktikum behördlicherseits oder seitens der Universität eingeschränkt gewesen sein sollte, sei die persönliche Abhängigkeit der Praktikantinnen dadurch nicht entfallen. Die Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 1 oder 2 RVO, § 2 Abs 1 Nr 1 AVG, § 1227 Abs 1 Nr 1 RVO und § 168 AFG sei daher gegeben gewesen. Die daneben grundsätzlich bestehende Krankenversicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nrn 5 und 6 RVO sei nach § 165 Abs 6 Satz 2 RVO verdrängt worden. Versicherungsfreiheit habe weder nach den §§ 168 Abs 1 Nr 2, 1228 Abs 1 Nr 5 RVO aF, § 4 Abs 1 Nr 6 AVG aF noch nach den §§ 172 Abs 1 Nr 5, 1228 Abs 1 Nr 3 RVO, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG vorgelegen. Aufgrund einer Nebenbeschäftigung komme Versicherungsfreiheit nicht in Betracht, weil das Praktikum eng mit dem angestrebten Beruf verbunden sei, damit eine deutlich erkennbare Beziehung zum Erwerbsleben habe und deshalb als berufsmäßig angesehen werden müsse. Im übrigen habe § 168 Abs 4 Nr 3 RVO aF entgegen gestanden. Nach den §§ 172 Abs 1 Nr 5, 1228 Abs 1 Nr 3 RVO, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG könne Versicherungsfreiheit deshalb nicht angenommen werden, weil die Beigeladenen zu 1) und 2) als Praktikantinnen nicht den Werkstudenten vergleichbar seien, die neben ihrem Studium eine entgeltliche Beschäftigung ausübten, um sich dadurch die Mittel für Studium und Lebensunterhalt zu verschaffen. Der Ausbildungsabschnitt habe vielmehr in praktischer Tätigkeit in der freien Wirtschaft bestanden. Für diesen Zeitraum seien die Beigeladenen zu 1) und 2) nach den für die Sozialversicherung geltenden tatsächlichen Verhältnissen als Arbeitnehmer zu betrachten, auch wenn sie während des Praktikums als Studentinnen eingeschrieben gewesen seien. Zur Frage einer etwaigen, eine abhängige Beschäftigung ausschließenden Einheit von Studium und Praktikum enthalte das Urteil des SG keine Feststellungen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Tatsacheninstanz zurückzuverweisen.
Die Beigeladene zu 3) teilt die Auffassung der Beklagten, ohne einen Antrag zu stellen.
Die Beigeladene zu 4) beantragt ebenfalls,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie teilt die Rechtsauffassung der Beklagten und trägt außerdem vor, die im Betrieb der Klägerin abgelegten Zwischenpraktika seien weder als Teil der versicherungsfreien Hochschulausbildung noch als Nebenbeschäftigung iS von § 4 Abs 1 Nr 4 AVG und § 172 Abs 1 Nr 5 RVO zu qualifizieren. Seit dem Inkrafttreten des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 4) am 1. Juli 1977 sei durch die Fiktion des § 7 Abs 2 und durch die neu eingeführten Vorschriften des § 4 Abs 1 Nr 5 Buchst a AVG und § 168 Buchst a RVO sichergestellt, daß als Beschäftigung iS des SGB auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsausbildung gelte. Studenten, die innerhalb ihres Studiums und als dessen Bestandteil ein Praktikum absolvierten, seien Praktikanten iS des Berufsbildungsgesetzes (BBiG).
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das SG hat zu Recht entschieden, daß die Beigeladenen zu 1) und 2) während ihrer Beschäftigung bei der Klägerin der Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO und § 2 Abs 1 Nr 1 AVG und der Beitragspflicht nach § 168 Abs 1 Satz 1 AFG nicht unterlagen.
Die Beschäftigung erfolgte im Rahmen eines – durch die Prüfungsordnung der Universität Hohenheim zur Ergänzung des Studiums und als Voraussetzung für die Zulassung zur Diplomhauptprüfung vorgeschriebenen – Berufspraktikums. Ob ein solches Berufspraktikum die Voraussetzungen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 165 Abs 1 Nr 1 oder Nr 2 iVm Abs 2 RVO und §§ 1227 Abs 1 Nr 1 RVO, § 2 Abs 1 Nr 1 AVG, § 168 Abs 1 Satz 1 AFG) erfüllen kann, braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Die Krankenversicherung kennt eine versicherungspflichtige Beschäftigung ua bei “Lehrlingen” (§ 165 Abs 2 RVO), die Rentenversicherung auch bei “sonst zu ihrer Berufsausbildung” beschäftigten Personen (§ 1227 Abs 1 Nr 1 RVO, § 2 Abs 1 Nr 1 AVG), die Arbeitslosenversicherung allgemein bei den “zu ihrer Berufsausbildung” Beschäftigten (§ 168 Abs 1 Satz 1 AFG); zu ihnen könnten auch Praktikanten gehören. In der Krankenversicherung besteht dagegen für Praktikanten, deren Praktikum in einer Studien- oder Prüfungsordnung vorgeschrieben ist, eine besondere Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 6 RVO. Da diese jedoch durch eine Versicherungspflicht als Arbeitnehmer (§ 165 Abs 1 Nr 1 oder Nr 2 RVO) wieder verdrängt wird (§ 165 Abs 6 Satz 2 RVO), könnte auch für die durch § 165 Abs 1 Nr 6 erfaßten Praktikanten Krankenversicherungspflicht als Arbeitnehmer bestehen. Welche Bedeutung insoweit die – am 1. Juli 1977 in Kraft getretene – Vorschrift in § 7 Abs 2 SGB 4 hat, wonach als Beschäftigung auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung gilt, kann fraglich sein (vgl dazu Krause/v. Maydell/Merten/Meydam, Gemeinschaftskommentar zum SGB 4, § 7 RdNrn 46 ff). Zweifelhaft ist insbesondere, wie hier der Begriff der “betrieblichen Berufsbildung näher abzugrenzen ist, ob damit etwa jede nicht im engeren Sinne betriebliche Ausbildung, namentlich eine als Berufspraktikum in einer Studien- oder Prüfungsordnung vorgeschriebene Tätigkeit, selbst wenn sie in einem Betrieb stattfindet, schon mangels einer “Beschäftigung” aus dem Begriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausscheidet. Eine so weitgehende Folgerung bedürfte vor allem dann einer besonderen Begründung, wenn während des Praktikums ein volles tarifliches Entgelt gezahlt wird. Alle diese Fragen können im vorliegenden Fall indessen offenbleiben, weil die Beigeladenen zu 1) und 2),auch wenn sie, wie die beteiligten Versicherungsträger meinen, während ihres Praktikums als Arbeitnehmer beschäftigt waren und deshalb an sich versicherungspflichtig gewesen wären, jedenfalls nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO und § 4 Abs 1 Nr 4 AVG kranken- und rentenversicherungsfrei sowie nach § 169 Nr 1 AFG iVm § 172 Abs 1 Nr 5 RVO beitragsfrei waren.
Die entgeltlichen Beschäftigungen der Beigeladenen zu 1) und 2) wurden in den Semesterferien und damit während des Studiums ausgeübt. Sie überschritten nicht die Zeitdauer von 26 Wochen im Jahr. Ob die Beigeladenen zu 1) und 2) mit den entgeltlichen Beschäftigungen neben ihrem Studium auch den Zweck verfolgten, sich durch ihre Arbeit die zur Durchführung ihres Studiums und zum Bestreiten des Lebensunterhalts erforderlichen Mittel zu verdienen, und sie deshalb zu dem Personenkreis der sogenannten “Werkstudenten” gehörten (vgl BSGE 18, 254, 255 f), kann dahingestellt bleiben. Zur Gruppe derjenigen, die während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gegen Entgelt tätig und deshalb versicherungsfrei sind, zählen zwar im wesentlichen die so definierten Werkstudenten (BSGE 33, 229, 230). Auf sie ist jedoch die Versicherungsfreiheit nach den genannten Vorschriften nicht beschränkt. Die Abgrenzung der versicherungsfreien Studentenbeschäftigung von der versicherungspflichtigen Beschäftigung hat vielmehr danach zu erfolgen, ob Zeit und Arbeitskraft des Betreffenden überwiegend vom Studium oder überwiegend von der Erwerbstätigkeit in Anspruch genommen wird (BSGE 27, 192; BSG SozR Nr 13 zu § 172 RVO), ob also der Betreffende seinem Erscheinungsbild nach Student oder Erwerbstätiger ist. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung kann deshalb allenfalls dann angenommen werden, wenn die wöchentliche Arbeitszeit zwanzig Stunden übersteigt (BSG Urteil vom 30. November 1978 – 12 RK 45/77 – USK 78183). Wird die wöchentliche Arbeitszeit von zwanzig Stunden lediglich in den Semesterferien überschritten, dann steht dies der Versicherungs- und Beitragsfreiheit nach den genannten Vorschriften nicht entgegen (so auch BSGE 44, 164, 166 und Besprechungsergebnis der Spitzenverbände der Krankenkassen, des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und der BA vom 7./8. Mai 1979 – WzS 1979, 339 –). Wer trotz seiner entgeltlichen Beschäftigung während des Studiums Zeit und Arbeitskraft überwiegend für das Studium aufwendet, übt die entgeltliche Beschäftigung auch nicht “berufsmäßig” aus. Selbst wenn dieses Kriterium auch im Rahmen der genannten Vorschriften beachtlich wäre (vgl die ausdrückliche Erwähnung in §§ 168 Abs 1 Nr 2, 1228 Abs 1 Nr 5 RVO aF, § 4 Abs 1 Nr 4 AVG aF und § 8 Abs 1 Nr 2 SGB 4), lag es bei den Beigeladenen zu 1) und 2) nicht vor. Daß ihre Beschäftigung, weil zeitlich und betrieblich mit dem Praktikum zusammenfallend, ausbildungskonform und auf den angestrebten Beruf bezogen war, machte sie nicht zu einer berufsmäßigen im Sinne der erwähnten Bestimmungen.Berufsmäßig blieben die Beigeladenen zu 1) und 2) auch während der Beschäftigung in den Semesterferien Studenten.
Demnach hat das SG zutreffend eine Verpflichtung der Klägerin verneint, als Arbeitgeberin für die Beigeladenen zu 1 ) und 2) Beiträge zur Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung zu entrichten.
Die etwa bestehende Krankenversicherungspflicht der Beigeladenen zu 1) und 2) nach § 165 Abs 1 Nrn 5 oder 6 RVO war nicht Entscheidungsgegenstand des Rechtsstreits, so daß es schon aus diesem Grunde einer Beiladung der Bundesrepublik Deutschland – wie die Beklagte meint – nach § 75 Abs 2 SGG nicht bedurfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 60442 |
BB 1980, 1379 (LT1) |
RegNr, 8358 |
Das Beitragsrecht Meuer, 425 A 3 a 29 (LT1) |
USK, 8015 (LT1) |
AP § 611 BGB Praktikant (LT1), Nr 1 |
Breith 1981, 284-286 (LT1) |
DBlR 2639a, AFG/§ 169 (LT1) |
ErsK 1980, 360-361 (LT1) |
SozR 2200 § 172, Nr 12 (LT1) |
SozSich 1980, 219 (SP1) |
Breith. 1981, 284 |