Leitsatz (amtlich)
Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt.
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, ob die Kürzung von Renten wegen Erwerbsminderung, deren Bezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
I.
1. Der Monatsbetrag einer an einen einzelnen Rentner geleisteten Rente wird nach einer Rentenformel berechnet, die in § 64 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) niedergelegt ist. Dafür werden persönliche Entgeltpunkte für jeden Rentenversicherten ermittelt, die sich im Wesentlichen aus seinen geleisteten Beiträgen und Zuschlägen für beitragsfreie Zeiten in Relation zum durchschnittlichen Arbeitsentgelt aller Versicherter eines Jahres ergeben (§§ 66 und 70 ff. SGB VI) und mit einem Zugangsfaktor vervielfältigt werden, der nach dem Alter des Rentenversicherten bei Rentenbeginn und nach der Art der von ihm bezogenen Rente bemessen wird (§ 77 SGB VI). Diese persönlichen Entgeltpunkte werden mit einem Rentenartfaktor, der ebenfalls die Art der Rente berücksichtigt (§ 67 SGB VI), und mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert, der den momentanen Monatsbetrag einer Altersrente eines Durchschnittsversicherten wiedergibt (§ 68 SGB VI). Die Verfassungsbeschwerden betreffen den Zugangsfaktor der Rentenformel. Die persönlichen Entgeltpunkte bei Erwerbsminderungsrenten werden ermittelt, indem die Summe aller in einem Versichertenleben erworbenen Entgeltpunkte mit dem Zugangsfaktor multipliziert werden (§ 66 Abs. 1 SGB VI).
a) Bis zum 31. Dezember 2000 betrug der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten 1,0. § 77 Abs. 2 SGB VI in der hier maßgeblichen, durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) geänderten und ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung führt hingegen zu einer Kürzung und lautet nunmehr:
1Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren,
…
3. bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0,
…
2Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. 3Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme.
Die Einschränkung in § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, wonach die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, stellt sicher, dass auch bei einem Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres höchstens ein Abschlag in Höhe von 10,8 % erhoben wird.
Der Gesetzgeber begründete die Kürzung des Zugangsfaktors bei der Erwerbsminderungsrente bei Rentenbeginn vor Vollendung des 63. Lebensjahres mit dem Erfordernis einer Anpassung an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten. Mit dem Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 – RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261) hatte der Gesetzgeber begonnen, die Altersgrenzen für den Bezug von vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzuheben. Für jeden Monat vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wurde ein Abschlag in Höhe von 0,3 % angeordnet. Die dadurch verursachte Kürzung kann je nach Geburtsjahr, Rentenart und Rentenbeginn bis zu 18 % betragen.
b) Um die Wirkung der Rentenkürzung für erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene zu mildern, hat der Gesetzgeber die Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr erhöht (vgl. BTDrucks 14/4230, S. 26). Zurechnungszeit ist die Zeit, die bei einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer Rente wegen Todes hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 59 Abs. 1 SGB VI). Es werden zusätzliche Entgeltpunkte bei der Rentenberechnung berücksichtigt, um eine ausreichende Rente auch im Falle vorzeitiger Invalidität zu gewährleisten. Bis zum 31. Dezember 2000 war die Zeit des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente von der Vollendung des 55. Lebensjahres bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres nur zu einem Drittel anerkannt worden. Seit dem 1. Januar 2001 wird diese Zeit voll anerkannt (Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000, BGBl I S. 1827). Bei unter 55-jährigen Erwerbsgeminderten führt die volle zeitliche Berücksichtigung der Zurechnungszeit nur noch zu einer Verminderung der Rentenhöhe um etwa 3 % im Vergleich zum früheren Recht (vgl. Ruland, NJW 2007, S. 2086 ≪2087≫).
c) Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) wurden zugleich Übergangsvorschriften geschaffen, die eine schrittweise Einführung der neuen Rechtslage vorsahen: Nach § 264c SGB VI in Verbindung mit Anlage 23 in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung wurde bei Rentenbeginn vor dem 1. Dezember 2003 das maßgebende Lebensalter, ab dem der Zugangsfaktor gekürzt wird, vom 1. Januar 2001 an in Monatsschritten gestuft abgesenkt. Parallel dazu wurde die Zurechnungszeit schrittweise erhöht (§ 253a SGB VI). Erst für Versicherte mit Rentenbeginn ab dem 1. Dezember 2003 ist die maximale Absenkung um 10,8 % vorgesehen.
2. a) Die Rentenversicherungsträger haben § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB VI anfangs in der Weise angewendet, dass der Zugangsfaktor auch dann abgesenkt wurde, wenn die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen wurde; die Absenkung wurde jedoch auf maximal 10,8 % begrenzt (vgl. Schmitz, LVA Rheinprovinz Mitteilungen 2003, S. 140 ≪140 f.≫; Wollschläger, DRV 2001, S. 276 ≪278 f.≫).
b) Die Sozialgerichte haben diese Rechtsanwendung zunächst nicht beanstandet. Demgegenüber befand der 4. Senat des Bundessozialgerichts mit Urteil vom 16. Mai 2006, dass Erwerbsminderungsrentner, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur unterlägen, wenn sie die Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen (BSGE 96, 209 ff.). Der 4. Senat des Bundessozialgerichts war der Auffassung, es fände im Gesetz „nicht einmal andeutungsweise eine Stütze”, unter 60-jährige Versicherte bei der Berechnung von Abschlägen so zu stellen, als hätten sie das 60. Lebensjahr vollendet (vgl. auch Meyer, NJW 2007, S. 3682 ff.). Das Gesetz lege vielmehr fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann einer Kürzung des Zugangsfaktors unterworfen seien, wenn der Versicherte tatsächlich das 60. Lebensjahr vollendet habe und damit erstmals ein Ausweichen vor Abschlägen bei Altersrenten möglich sei.
c) Die Rentenversicherungsträger lehnten es ab, dem Urteil über den Einzelfall hinaus zu folgen, und führten weitere Musterverfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. Mey, RVaktuell 2007, S. 44 ≪50≫; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, S. 71 ff.). Die Sozialgerichte und Landessozialgerichte schlossen sich der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts nur teilweise an (so etwa LSG Saarland, Urteil vom 9. Februar 2007 – L 7 R 40/06 –, juris, Rn. 26 ff.). Überwiegend hielten sie unter Hinweis auf Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck der maßgeblichen Normen ihre bisherige Rechtsprechung aufrecht (vgl. etwa Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 4. September 2007 – L 7 R 97/07 –, juris, Rn. 36 ff.; Hessisches LSG, Urteil vom 24. August 2007 – L 5 R 228/06 –, juris, Rn. 21 ff., m.w.N.; SG Aachen, Urteil vom 9. Februar 2007 – S 8 R 96/06 –, NZS 2007, S. 322 ff.).
d) In der Folgezeit wurden die Zuständigkeiten für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zwischen den Senaten des Bundessozialgerichts neu aufgeteilt. Die Zuständigkeit für das Rentenversicherungsrecht ging vom 4. Senat auf den 5a. Senat und den 13. Senat des Bundessozialgerichts über. Der 5a. Senat fragte mit Beschlüssen vom 29. Januar 2008 beim 13. Senat an, ob dieser in Nachfolge des 4. Senats an dessen Entscheidung vom 16. Mai 2006 festhalte (vgl. Anfragebeschlüsse vom 29. Januar 2008 – B 5a/5 R 32/07 R und B 5a R 88/07 R –, juris), weil er beabsichtige, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Der 13. Senat beschloss daraufhin, an der Rechtsprechung des 4. Senats nicht festzuhalten (vgl. Beschlüsse vom 26. Juni 2008 – B 13 R 9/08 S und B 13 R 11/08 S –, juris).
Mit mehreren Urteilen vom 14. August 2008 und vom 25. November 2008 wich der 5. Senat dann von der Rechtsprechung des 4. Senats ab. Nach dem Sinn des § 77 Abs. 2 SGB VI müssten Erwerbsminderungsrentner eine Absenkung des Zugangsfaktors auch dann hinnehmen, wenn sie bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, weil die Regelung letztlich nur die Höhe der Rentenabsenkung begrenzen solle (vgl. z.B. BSGE 101, 193 ff.). Die Regelung sei verfassungsgemäß.
II.
1. a) Dem im Dezember 1953 geborenen Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3588/08 wurde eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zum 1. März 2005 längstens bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bewilligt. Da er bei Rentenbeginn erst 51 Jahre alt war, wurde der Zugangsfaktor auf 0,892 gekürzt. Dadurch wurden der Rentenberechnung von den in seinem Versichertenleben erworbenen 39,1839 Entgeltpunkten, in deren Berechnung die Zurechnungszeiten bereits eingeflossen waren, nur 34,9520 persönliche Entgeltpunkte zugrunde gelegt. Durch die Absenkung des Zugangsfaktors um 10,8 % ergab sich ein monatlicher tatsächlich ausgezahlter Betrag von 456,65 Euro (brutto). Werden die seit dem 1. Januar 2001 zusätzlich gutgeschriebenen Entgeltpunkte für die Zurechnungszeit nach Vollendung des 55. Lebensjahres bis zum vollendeten 60. Lebensjahr mit den um 10,8 % gekürzten Entgeltpunkten des Beschwerdeführers verrechnet, beträgt die Kürzung der Rente nach den Feststellungen des Bundessozialgerichts im Ergebnis ca. 3,18 %. Dies entspricht einer monatlichen Kürzung um etwa 15 Euro.
b) Der Widerspruch des Beschwerdeführers mit dem Ziel, entsprechend dem Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 eine ungeminderte Rente mit dem Zugangsfaktor 1,0 zu erhalten, blieb erfolglos. Das Sozialgericht wies die anschließende Klage des Beschwerdeführers ab. Das Bundessozialgericht wies die vom Sozialgericht zugelassene Sprungrevision des Beschwerdeführers als unbegründet zurück.
c) Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG.
§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI sei keine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums. Fraglich sei bereits, ob die Regelung im Hinblick auf das vom Gesetzgeber formulierte Ziel, Ausweichreaktionen von den Altersrenten zu den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegen zu wirken, geeignet und erforderlich sei. Voraussetzung einer Rentenleistung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sei ein wegen Krankheit oder Behinderung eingeschränktes Leistungsvermögen. Ein Antrag auf Leistung einer Erwerbsminderungsrente werde nicht freiwillig gestellt und könne auch vor Erreichen der Altersgrenzen für den vorzeitigen Bezug einer Altersrente erfolgen. Eine Ausweichreaktion sei allenfalls von den Versicherten zu erwarten, die das 60. Lebensjahr bereits überschritten hätten. Die Bezieher einer Erwerbsminderungsrente seien durch die dauerhafte Kürzung zudem übermäßig belastet. Die Versicherten könnten nicht uneingeschränkt über den Zeitpunkt der Antragstellung für eine Erwerbsminderungsrente entscheiden und damit nicht selbständig auf die Höhe der Abschläge Einfluss nehmen.
Der Beschwerdeführer rügt ferner eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Er werde durch die Kürzung des Zugangsfaktors mit vorzeitigen Altersrentnern gleich behandelt. Die Gruppe der Erwerbsminderungsrentner könnte im Gegensatz zu den Gruppenmitgliedern der Altersrentner aber nicht selbst bestimmen, ob und wann die Rentenvoraussetzung der Erwerbsminderung einträte. Die Grundrechtsverletzung wiege umso schwerer, als der Beschwerdeführer als Behinderter vom besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützt werde.
2. a) Der im Juni 1944 geborenen Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 555/09 wurde eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2002 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bewilligt. Wegen des Rentenbeginns vor dem 1. Januar 2004 wurde die Übergangsregelung nach § 264c SGB VI in Verbindung mit Anlage 23 angewendet. Danach wurde zugunsten der Beschwerdeführerin ein fiktives Alter von 61 Jahren und 5 Monaten für die Berechnung des Zugangsfaktors zugrunde gelegt. Der Zugangsfaktor wurde für 19 Monate des Rentenbezugs vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,057 auf 0,943 gekürzt. In die Rentenberechnung flossen daher an Stelle von 31,9790 Entgeltpunkten nur 30,1562 persönliche Entgeltpunkte ein. Aufgrund der Absenkung der Rente um 5,7 % ergab sich ein monatlicher tatsächlich ausbezahlter Rentenbetrag in Höhe von 779,84 Euro (brutto). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Versicherten seit dem 1. Januar 2001 zusätzliche Entgeltpunkte für die Zurechnungszeit nach Vollendung des 55. Lebensjahres bis zum vollendeten 60. Lebensjahr erhalten, beträgt die Kürzung der Rente nach den Feststellungen des Bundessozialgerichts für sie im Ergebnis ca. 3,88 %. Dies entspricht einer monatlichen Kürzung um etwa 16 Euro.
b) Der Widerspruch der Beschwerdeführerin gegen die Kürzung des Zugangsfaktors blieb erfolglos. Das anschließend angerufene Sozialgericht verpflichtete den Rentenversicherungsträger zur Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Anwendung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bis zum Ablauf des Monats November 2005. Die Klage mit dem Ziel der Gewährung einer ungekürzten Rentenleistung über diesen Zeitpunkt hinaus wurde abgewiesen. Das Sozialgericht stützte sich in der Begründung seiner Entscheidung auf das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 (BSGE 96, 209 ff.). Da für die Beschwerdeführerin der Anwendungsbereich der Übergangsvorschriften des § 264c SGB VI in Verbindung mit Anlage 23 eröffnet war, stellte das Sozialgericht nicht auf die Vollendung des 60. Lebensjahres, sondern auf das bei einem Rentenbeginn im Juli 2002 maßgebende Lebensalter von 61 Jahren und 5 Monaten für den Zeitpunkt der Absenkung des Zugangsfaktors ab. Erst ab diesem Zeitpunkt nehme die Beschwerdeführerin eine Erwerbsminderungsrente vorzeitig in Anspruch.
Das Landessozialgericht schloss sich der Rechtsauffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts nicht an, wies auf die Berufung des Rentenversicherungsträgers die Klage unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts insgesamt ab und wies die Anschlussberufung der Beschwerdeführerin zurück. Das Bundessozialgericht wies die vom Landessozialgericht zugelassene Revision zurück.
c) Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen identisch mit der Begründung im Verfahren 1 BvR 3588/08.
III.
Die Bundesregierung teilt die Auffassung zur Auslegung und Verfassungsmäßigkeit des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI, die das Bundessozialgericht in den angegriffenen Entscheidungen vertreten hat. Auch die Deutsche Rentenversicherung Bund und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände halten die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD), der Sozialverband VdK Deutschland e. V. und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft halten die Verfassungsbeschwerden hingegen für begründet.
Entscheidungsgründe
B.
Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. Die Beschwerdeführer werden durch die angegriffenen Behörden- und Gerichtsentscheidungen sowie durch § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) nicht in ihren Grundrechten verletzt.
I.
Das Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sind nicht verletzt.
1. Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist betroffen. Neben dem bereits erworbenen Rentenanspruch (vgl. BVerfGE 76, 256 ≪293≫ m.w.N.) ist auch die Anwartschaft auf eine Rente aus eigener Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 53, 257 ≪289 f.≫; 58, 81 ≪109≫; 70, 101 ≪110≫; 100, 1 ≪32≫; 117, 272 ≪292≫; 122, 151 ≪180≫; stRspr). Eine Rentenanwartschaft beruht auf verschiedenen Elementen, die erst in ihrem funktionalen Zusammenwirken zu dem Gesamtergebnis einer ökonomischen Sicherung ihres Inhabers führen (vgl. BVerfGE 122, 151 ≪181≫). Die einzelnen Elemente der Anwartschaft – so auch der Zugangsfaktor – sind nicht losgelöst voneinander selbständig geschützt, vielmehr ist die Rentenanwartschaft insgesamt Objekt des grundrechtlichen Schutzes (vgl. BVerfGE 58, 81 ≪109≫; 117, 272 ≪293≫; 122, 151 ≪181≫).
2. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) und greift hierbei zugleich in bestehende Rentenanwartschaften ein.
a) Nach § 63 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Umfang einer Rente vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Dem liegt der das Versicherungsprinzip kennzeichnende Grundsatz der Äquivalenz von Beitrag und Leistung in der rentenversicherungsrechtlichen Ausprägung der sogenannten „Teilhabeäquivalenz” zugrunde (vgl. BVerfGE 122, 151 ≪181≫). Diese Bemessung der Rente wird durch die Anwendung eines geminderten Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI modifiziert: Die Kürzung des Zugangsfaktors führt zu einer Reduzierung der Entgeltpunkte und verändert damit die Rentenanwartschaft. Damit liegt eine Inhalts- und Schrankenbestimmung der Rentenanwartschaft vor. Da die Rentenanwartschaften der Beschwerdeführer bis zur Gesetzesänderung auf einem Zugangsfaktor von 1,0 beruhten, stellt die Inhalts- und Schrankenbestimmung für das nach altem Recht begründete Eigentum der Beschwerdeführer zugleich einen Grundrechtseingriff dar (vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 419 f., 429 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl. 2010, Rn. 977, 998).
b) Die Auslegung der einschlägigen Normen durch das Bundessozialgericht in den angegriffenen Entscheidungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es handelt sich um die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts, die nur eingeschränkt der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur, ob die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Auslegungsfehler enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte beruhen, und ob sie willkürlich sind (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; 85, 248 ≪257 f.≫; 96, 288 ≪311≫; 108, 351 ≪365≫).
Hierfür ist vorliegend auch unter Berücksichtigung der gegenteiligen Auslegung des einfachen Rechts durch den 4. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 16. Mai 2006 (BSGE 96, 209 ff.) nichts ersichtlich. Jedenfalls ist die Auslegung in den angegriffenen Entscheidungen umfassend begründet und plausibel, damit einfachrechtlich vertretbar und mithin unter dem Gesichtspunkt der Willkürkontrolle verfassungsrechtlich unbedenklich.
3. Die Regelung ist verfassungsgemäß.
a) Die Reichweite der Eigentumsgarantie ergibt sich für rentenrechtliche Anwartschaften erst nach der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist (vgl. BVerfGE 58, 81 ≪109 f.≫; 100, 1 ≪37≫; 116, 96 ≪124 f.≫; 122, 151 ≪181 f.≫). Hierbei hat der Gesetzgeber, zumal wenn er nicht nur das Eigentum für die Zukunft ausgestaltet, sondern – wie hier – in bestehende Eigentumspositionen eingreift, die grundsätzliche Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis zu achten und darf sie nicht unverhältnismäßig einschränken (vgl. BVerfGE 100, 1 ≪37≫; 122, 151 ≪182≫). Wenn in bestehende Anwartschaften eingegriffen wird, ist allerdings zu berücksichtigen, dass in ihnen von vornherein die Möglichkeit von Änderungen angelegt ist (vgl. BVerfGE 122, 151 ≪182≫). Eine Unabänderlichkeit der bei ihrer Begründung bestehenden Bedingungen widerspräche dem Rentenversicherungsverhältnis, das im Unterschied zu einem privaten Versicherungsverhältnis von Anfang an nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Gedanken des sozialen Ausgleichs beruht (vgl. BVerfGE 116, 96 ≪125≫; 122, 151 ≪182≫).
Den Umfang einer Rentenanwartschaft reduzierende Inhaltsbestimmungen müssen einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sein (vgl. BVerfGE 53, 257 ≪293≫; 100, 1 ≪38≫; 117, 272 ≪294≫; 122, 151 ≪182≫; stRspr). Sie müssen zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und erforderlich sein (vgl. BVerfGE 122, 151 ≪182≫). Insbesondere dürfen sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten und für ihn deswegen unzumutbar sein (vgl. BVerfGE 72, 9 ≪23≫; 75, 78 ≪98≫; 122, 151 ≪182≫).
b) Diese Voraussetzungen sind bei der Berechnung des Zugangsfaktors nach Maßgabe des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI erfüllt.
aa) Die Neuregelung des Zugangsfaktors bei Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr dient dem Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Hierbei handelt es sich um legitime Ziele (vgl. BVerfGE 75, 78 ≪98≫; 116, 96 ≪125 f.≫; 117, 272 ≪297≫; 122, 151 ≪183≫).
(1) Nach Einführung der Abschläge bei vorzeitigem Bezug einer Altersrente durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 – RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261) ging der Gesetzgeber davon aus, dass Versicherte anstelle einer gekürzten Altersrente bevorzugt eine Erwerbsminderungsrente beantragen würden. Der Gesetzgeber sah die Gefahr des Ausweichens von Versicherten auf diese Rentenart insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit eines Rentenbezugs wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus arbeitsmarktbedingten Gründen und verwies auf das Rentenzugangsjahr 1998, in dem rund 33 % aller Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus arbeitsmarktbedingten Gründen bewilligt worden waren (vgl. BTDrucks 14/4230, S. 23 f.). Die Vermutung, dass arbeitslose Versicherte auf Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit als einer Art vorgezogene Altersrente ausweichen könnten, ist nicht neu (vgl. bereits BVerfGE 75, 78 ≪101≫). Dafür spricht, dass in dem von der Gesetzesbegründung genannten Jahr 1998 ein erheblicher Anteil der Versicherten, die Zugang zur Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhielten, unmittelbar zuvor Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz bezogen hatte: In den neuen Ländern waren das 32,84 % der Männer und 36,90 % der Frauen, im übrigen Bundesgebiet 20,60 % der Männer und 19,42 % der Frauen (vgl. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger ≪Hrsg.≫, VDR Statistik Rentenzugang 1998, Band 129, S. 99 ≪Tabellen 110.10 Z≫ und S. 165 ≪Tabelle 110.20 Z≫).
Mit der Einführung von Abschlägen in einem Umfang von höchstens 10,8 % sollte im Rahmen eines Gesamtkonzepts die Höhe der Erwerbsminderungsrenten gekürzt und den vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten angepasst werden (vgl. BTDrucks 14/4230, S. 23 f.). Der Gesetzgeber folgte damit einer vom Bundesrat schon früher formulierten Anregung, das Unterlaufen der Bestimmungen zur Anhebung der Altersgrenzen für den Bezug von Altersrenten und zur Einführung von Abschlägen bei einem vorzeitigen Altersrentenbezug zu verhindern (vgl. BTDrucks 11/4452, S. 9). Die gekürzte Leistung von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 63. Lebensjahres war damit Teil der in einer ganzen Reihe von Gesetzesänderungen realisierten Rentenreform, die – beginnend mit dem Rentenreformgesetz 1992 – die angespannte finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung verbessern sollte. Der Gesetzgeber wollte mit diesen gesetzlichen Maßnahmen eine Reduzierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung erreichen (vgl. BTDrucks 14/4230, S. 36). Die Einführung von Abschlägen auf Erwerbsminderungsrenten war ursprünglich bereits im Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999 – RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2998) vorgesehen. Der Gesetzgeber hatte damals das Ziel formuliert, den Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung zu senken und das bestehende Alterssicherungssystem bei steigender Lebenserwartung und sinkender Geburtenrate zukunftsfähig zu machen (vgl. BTDrucks 13/8011, S. 1).
(2) Allerdings liefe der grundrechtliche Eigentumsschutz von Rentenanwartschaften leer, wenn jede Maßnahme zur Verbesserung der Finanzierungssituation der gesetzlichen Rentenversicherung ohne weiteres durch dieses Ziel gerechtfertigt werden könnte. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erlaubt es nicht, durch ihn geschützte Rentenanwartschaften allein auf der Grundlage eines allgemeinen Wunsches einer Sanierung der Staatsfinanzen zu kürzen. Daher sind der Absenkung von Renten ungeachtet des legitimen Ziels, die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, etwa wenn dieses Ziel zum Beispiel auch durch sprunghafte und willkürliche Veränderungen der Rentenhöhe erreicht werden sollte (vgl. zum Steuerrecht BVerfGE 105, 17 ≪45≫).
Gesetzliche Änderungen, die die Höhe der Rentenanwartschaft zwecks Verbesserung der Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung berühren, sind dann grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Veränderung ihrerseits an einen Umstand anknüpft, der für die Finanzsituation kausal ist. So verhält es sich hier, weil mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten auf die Inanspruchnahme der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf eine Verlängerung der Rentenbezugszeit reagiert wird. Den Vorteil der verlängerten Rentenbezugszeit durch eine Absenkung des monatlichen Zahlbetrags zumindest teilweise zu kompensieren, ist eine auch unter versicherungsmathematischen Gesichtspunkten nachvollziehbare und damit sachlich gerechtfertigte Maßnahme (vgl. BVerfGE 122, 151 ≪186, 189≫).
bb) Die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres genügt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
(1) Die Minderung des Zugangsfaktors war geeignet, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel zu erreichen. Die von der Deutschen Rentenversicherung veröffentlichten Zahlen zeigen, dass die Rentenzugänge in die Erwerbsminderungsrente jedenfalls bis zum Jahr 2006 kontinuierlich abgenommen haben. Nach Ende der für die Berechnung der Abschläge geltenden Übergangsphase (§ 264c SGB VI i.V.m. Anlage 23) wurden im Jahr 2004 nur noch 169.460 neue Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Deutschland ausgezahlt. Dagegen hatten die Rentenzugänge in diese Rentenart im Jahr 2000 noch rund 214.000 betragen (vgl. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger ≪Hrsg.≫, VDR Statistik Rentenzugang 2000, Band 137, S. 3 ≪Tabelle 1.00 Z≫). Auch wenn schon früher ein Abwärtstrend bei diesen Rentenzugängen erkennbar gewesen war und die genannten Zahlen das Ergebnis aller durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vorgenommenen Änderungen waren, ist die Inanspruchnahme einer Rente jedenfalls weniger attraktiv, wenn früher beginnende Rentenleistungen nur mit Abschlägen erfolgen.
(2) Die beide Beschwerdeführer treffende Kürzung des Zugangsfaktors durfte der Gesetzgeber auch als erforderlich ansehen. Ein milderes, die Beschwerdeführer weniger belastendes Mittel, mit dem der Gesetzgeber seine Ziele ebenso gut hätte erreichen können, ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber kann insbesondere nicht darauf verwiesen werden, die mit § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI verfolgte Einsparung in anderen Bereichen innerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu erzielen (vgl. BVerfGE 75, 78 ≪101 f.≫; 76, 220 ≪241≫; 103, 172 ≪189≫; 116, 96 ≪127≫; 117, 272 ≪298 f.≫).
(3) Die Kürzung des Zugangsfaktors belastet die Beschwerdeführer nicht übermäßig und ist daher auch verhältnismäßig im engeren Sinne (vgl. BVerfGE 67, 157 ≪178≫; 90, 145 ≪173≫).
Die vom Gesetzgeber formulierte Absicht, der Gefahr von Ausweichreaktionen zu begegnen (BTDrucks 14/4230, S. 23 f., 26), kann sich zwar nur auf solche Versicherte beziehen, die das für einen Anspruch auf Leistung einer vorzeitigen Altersrente maßgebliche Lebensalter bereits erreicht haben. Bei Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit am 1. Januar 2001 hatten beide Beschwerdeführer noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet und damit eine Anspruchsvoraussetzung für den Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht erfüllt. Der bei Rentenbeginn 51 Jahre alte Beschwerdeführer zu I) und die bei Rentenbeginn 58 Jahre alte Beschwerdeführerin zu II) hatten zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit, anstelle einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Die Kürzung des Zugangsfaktors ist dennoch für die Beschwerdeführer zumutbar. Sie diente der Verminderung der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung und war Teil der seit dem Rentenreformgesetz 1992 durch eine Vielzahl von Gesetzesänderungen vorgenommenen umfassenden Rentenreform, die der Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung dienen sollte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Versicherter, der wie die Beschwerdeführer eine Erwerbsminderungsrente bis zum vollendeten 60. Lebensjahr beantragt, nicht nur einen nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI auf den Höchstwert von 10,8 % begrenzten Abschlag erhält, sondern seit dem 1. Januar 2001 von zusätzlichen Entgeltpunkten für eine erhöhte Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI profitiert. Um die Wirkung der neuen Rentenabschläge zu mildern, hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) die Zeit zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr, die zuvor nur zu einem Drittel angerechnet worden war, nämlich in vollem Umfang als Zurechnungszeit bewertet (vgl. BTDrucks 14/4230, S. 24). Dahinter stand die Überlegung, dass bei Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Erwerbsminderungsrente beantragen, eine Ausweichreaktion von vornherein ausscheidet und diese Versicherten nicht übermäßig mit Kürzungen belastet werden sollten. Unter Einbeziehung der günstigeren Zurechnungszeit hatten nach den Feststellungen des Bundessozialgerichts der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3588/08 im Vergleich zu der vor dem 1. Januar 2001 gültigen Rechtslage eine niedrigere Rentenleistung in Höhe von 3,18 % und die Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 555/09 eine Kürzung von 3,88 % hinzunehmen. Die Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden damit mit erheblich geringeren Abschlägen belastet als Versicherte, die vorzeitig eine Altersrente in Anspruch nehmen und die – abhängig vom Geburtsjahr, Rentenart und Rentenbeginn – Kürzungen bis zu 18 % hinnehmen müssen.
Wären die Versicherten, deren Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, nicht oder jedenfalls insoweit nicht von der Absenkung des Zugangsfaktors erfasst worden, hätte die gleichzeitige Aufwertung der Zurechnungszeiten sogar dazu geführt, dass die Rentenansprüche des betroffenen Personenkreises gestiegen und die Inanspruchnahme von Erwerbsminderungsrente attraktiver geworden wären. Damit wäre das gesetzgeberische Einsparziel in sein Gegenteil verkehrt worden.
Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur an Versicherte geleistet wird, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) oder mindestens drei Stunden täglich (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) erwerbstätig zu sein. Unabhängig davon, dass auch diese Versicherten den Zeitpunkt ihres Rentenbeginns durch Stellung des Rentenantrags selbst bestimmen können (§ 99 Abs. 1 SGB VI), stellt die vom Gesetzgeber eingeführte Kürzung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Schicksalhaftigkeit des Eintritts einer Erwerbsminderung im Einzelfall nicht in Frage. Abschläge, die sich an der Tatsache des Eintritts in den Ruhestand vor Vollendung des Regelalters orientieren, müssen von Verfassungs wegen nicht danach unterschieden werden, ob die Zurruhesetzung aus der Perspektive des Betroffenen freiwillig oder unfreiwillig erfolgt (vgl. zur Beamtenversorgung BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2010 – 2 BvR 616/09 –, juris, Rn. 12). Dem Umstand, dass dies auch auf gesundheitlichen Einschränkungen beruht, hat der Gesetzgeber dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Kürzung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten bei weitem nicht die Höhe der Kürzung bei vorzeitigen Altersrenten erreicht.
4. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ist nicht verletzt.
Der Gesetzgeber hatte zur Einführung des gekürzten Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wurden, mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I S. 1827) ausreichende Übergangsregelungen geschaffen.
Zwar waren Abschläge bereits mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2001 hinzunehmen. Nach § 264c SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden und hier einschlägigen Fassung galten jedoch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Rentenbeginn vor dem 1. Januar 2004 bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Anlage 23 SGB VI angegebenen Lebensalter in Abhängigkeit vom Monat des Rentenbeginns. Danach war bei einem Rentenbeginn im Januar 2001 nur ein Abschlag in Höhe von 0,3 % hinzunehmen, der für jeden späteren Monat des Rentenbeginns um jeweils 0,3 Prozentpunkte erhöht wurde. Je früher ein Versicherter von der Kürzung des Zugangsfaktors betroffen war, desto geringer war der in Kauf zu nehmende Abschlag. Versicherte mit einem späteren Rentenbeginn erhielten zwar höhere Abschläge, hatten dafür aber umso länger Zeit, ihre Lebensführung darauf einzustellen (vgl. zu diesem Maßstab BVerfGE 116, 96 ≪133 f.≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Juli 2010 – 1 BvR 1201/10 –, NZS 2010, S. 557 ≪558≫).
5. Da sich die Inhalts- und Schrankenbestimmung nach alledem als sachgerecht erweist, liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor. Dem Umstand, dass der Zugang zur Erwerbsminderungsrente – anders als die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente – eine schicksalhafte Entwicklung des Gesundheitszustandes voraussetzt, ist dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten bei weitem nicht die bei Altersrenten mögliche Höhe erreichen und zudem noch durch die Zurechnungszeiten nach § 59 SGB VI teilweise kompensiert werden.
II.
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist nicht verletzt. Zwar erschöpft sich das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht in der Anordnung, Behinderte und Nichtbehinderte rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (vgl. BVerfGE 96, 288 ≪303≫; 99, 341 ≪357≫; BVerfGK 7, 269 ≪273≫; vgl. auch Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ≪BGBl 2008 II, S. 1419, für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit 26. März 2009, BGBl 2009 II, S. 812≫). Daher scheidet eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht bereits deshalb aus, weil die Beschwerdeführer lediglich rügen, gegenüber nichtbehinderten Altersrentnern hinsichtlich der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtlich gleich behandelt zu werden.
Allerdings knüpft der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne an. Der Behindertenbegriff des § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VI, der allein auf die Fähigkeiten des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt abstellt, ist nicht identisch mit dem allgemein auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellenden Behindertenbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, an dessen Vorgängernorm (§ 3 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz) sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 orientiert hat (vgl. BVerfGE 96, 288 ≪301≫). Zudem knüpft § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht ausschließlich an eine Behinderung an, sondern lässt auch eine vorübergehende Krankheit ausreichen. Dies entspricht der gesetzlichen Regel, nach der eine Erwerbsminderungsrente grundsätzlich nur auf Zeit gewährt wird, weil davon auszugehen ist, dass die Erwerbsminderung wieder entfallen kann (§ 102 Abs. 2 SGB VI). Aber auch soweit die Vorschrift Behinderte im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG trifft, ist sie wegen der oben dargestellten Berücksichtigung der gesundheitsbedingten Unfähigkeit, zu arbeiten, im Vergleich zu sonstigen Erwerbslosigkeiten noch gerechtfertigt.
Unterschriften
Kirchhof, Hohmann-Dennhardt, Bryde, Gaier, Eichberger, Schluckebier, Masing, Paulus
Fundstellen
Haufe-Index 2628048 |
BB 2011, 563 |
DB 2011, 484 |
HFR 2011, 591 |