Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Depressionserkrankungen
Leitsatz (amtlich)
1. Der Senat hält an seiner Rspr, dass bei Depressionserkrankungen erst dann von einer Erwerbsminderung iS des § 43 SGB VI ausgegangen werden kann, wenn die depressive Symptomatik einen qualifizierten Verlauf mit unvollständigen Remissionen zeigt, erfolglos ambulante, stationäre und rehabilitative, leitliniengerecht durchgeführte Behandlungsversuche, einschließlich medikamentöser Phasenprophylaxe durchgeführt worden sind und darüber hinaus eine ungünstige Krankheitsbewältigung, eine mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbiditäten sowie lange Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegen (vgl Senatsurteil vom 27.4.2016 - L 5 R 459/15 - in juris), nicht mehr fest.
2. Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung ist vielmehr für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung tatsächlich vorliegt, nicht heranzuzuziehen, sie ist nur für die Befristung und Dauer einer Rente von Bedeutung.
3. Aus § 43 SGB VI lässt sich keine dahingehende Einschränkung entnehmen, dass die Nichtausschöpfung zumutbarer Behandlungsmaßnahmen zu einem materiell-rechtlichen Ausschluss des Rentenanspruchs führt. Insoweit bestimmt § 103 SGB VI ausdrücklich nur für den Fall, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt worden ist, dass der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (dann) ausgeschlossen ist.
4. Eine unterbliebene Behandlung führt - ohne Rücksicht auf die Ursachen der Unterlassung - auch nicht dazu, dass vorhandene Gesundheitsstörungen nicht als Krankheit im Rechtssinne anzusehen wären. Dem Rentenversicherungsträger steht es vielmehr offen, in Fallgestaltungen, in denen er eine fehlende adäquate Behandlung sieht, nach § 66 Abs 2 SGB I vorzugehen und nach erfolglos gebliebener Aufforderung zur Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 06.03.2018 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.01. - 31.08.2018 zu gewähren.
Die im Jahr 1955 geborene Klägerin, die keine Berufsausbildung durchlaufen hat, war zuletzt als Reinigungskraft auf geringfügiger Basis tätig. Sie bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Nachdem zuvor gestellte Anträge auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für die Klägerin erfolglos blieben, beantragte die Klägerin am 28.06.2016 bei der Beklagten erneut die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie gab an, wegen psychosomatischer Erkrankungen nicht erwerbstätig sein zu können. Die Beklagte holte einen Befundbericht bei dem die Klägerin behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. H. vom 28.07.2016 ein und zog das im Rahmen eines früheren Antrages erstellte ärztliche Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. vom 30.10.2015 sowie den Entlassungsbericht der im Zeitraum vom 13.04. - 04.05.2016 in der Psychosomatischen Klinik Schloß W. durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme bei. Dr. M. hatte bei der Klägerin eine chronifizierte Panikstörung bei ängstlicher Persönlichkeitsakzentuierung, Adipositas per magna, arterielle Hypertonie sowie ein rezidivierendes HWS-Syndrom und Kniebeschwerden diagnostiziert. Er sah die Erwerbsfähigkeit der Klägerin als gefährdet an und empfahl eine Rehabilitationsmaßnahme. Aus der Rehabilitationsmaßnahme ist die Klägerin unter den Diagnosen eines Erschöpfungszustandes, einer generalisierten Angststörung, einer psychischen und einer Verhaltensstörung durch den schädlichen Gebrauch von Tabak, eines HWS-Syndroms und einer essentiellen Hypertonie (ohne hypertensive Krise) als fähig entlassen worden, leichte Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können.
Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung der medizinischen Unterlagen durch Dr. R. vom 03.08.2016 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 11.08.2016 ab. Die bei der Klägerin bestehenden Krankheiten führten, so die Beklagte begründend, nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da die Klägerin in der Lage sei, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich arbeiten zu können.
Den hiergegen u.a. unter der Begründung, die Beklagte habe eine fortgeschrittene Arthrose nicht berücksichtigt und der sie behandelnde Neurologe Dr. N. gehe in seinem Attest vom 01.09.2016 davon aus, dass sie keine drei Stunden mehr arbeiten könne, erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach einer erneuten sozialmedizinischen Überprüfung durch Dr. R. vom 21...