Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB 10. keine Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. keine Berichtigung von lang zurückliegenden Elterngeldbescheiden
Leitsatz (amtlich)
Die 4-Jahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X, die auch im Elterngeldrecht Anwendung findet, ist eine Ausschlussfrist, bei der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kommt.
Orientierungssatz
Die Ausschlussfrist, die bereits dem Erlass eines Rücknahme- und Ersetzungsakts durch die Verwaltung entgegensteht, gilt in entsprechender Anwendung, wenn aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt werden kann.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 05.05.2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt im Wege des Überprüfungsverfahrens die Gewährung weiteren Elterngelds anlässlich der Geburt der Zwillinge Jo. und Ju. 2008.
Die 1975 geborene Klägerin ist verheiratet und lebt zusammen mit ihrem Mann und den …2008 geborenen Zwillingen Jo. und Ju. sowie dem am …2012 geborenen R..
Auf ihren Antrag bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 23.01.2009 der Klägerin Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat der Zwillinge (2008 bis 2009) unter Berücksichtigung des Mehrlingszuschlags von monatlich 300 €.
Am 04.03.2014 beantragte die Klägerin die Neuberechnung und Nachzahlung von Elterngeld für die Zwillinge unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27.06.2013.
Mit Bescheid vom 10.03.2014 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Nach der neuen Rechtsprechung des BSG bestehe für jedes Kind einer Zwillingsgeburt ein eigenständiger Elterngeldanspruch. Elterngeld könne für Zeiträume, die länger als vier Jahre zurückliegen, jedoch nicht gewährt werden. Der Zeitraum von vier Jahren werde ab dem 1. Januar des Jahres, in dem der Antrag eingegangen sei, berechnet.
Mit ihrem Widerspruch vom 17.03.2014 machte die Klägerin geltend, sie habe erstmals im Februar 2014 von der neuen Rechtsprechung des BSG Kenntnis genommen. Sie berufe sich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Der Leistungsträger sei verpflichtet, auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken. Es wäre für die Beklagte ein Leichtes gewesen, die Klägerin auf die aktuelle Rechtsprechung hinzuweisen, zumal sie zum Zeitpunkt der Verkündung der neuen Rechtsprechung im Elterngeldbezug für den Sohn R. gestanden habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) sei ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei, soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Nach § 44 Abs 4 SGB X könne jedoch Elterngeld nur vier Jahre rückwirkend gewährt werden. Bei Antragstellung am 04.03.2014 könne ausgehend vom 01.01.2014 längstens bis zum 01.01.2010 Elterngeld rückwirkend gewährt werden, somit bestehe kein Anspruch. Ansatzpunkte für einen Verstoß gegen Art 3 oder Art 6 Grundgesetz (GG) seien nicht ersichtlich.
Hiergegen richtet sich die am 10.07.2014 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobene Klage. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, die Klägerin auf die geänderte Rechtsprechung rechtzeitig hinzuweisen. Ihr sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Hilfsweise berufe sie sich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, für Ansprüche aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gelte die Frist des § 44 Abs 4 SGB X entsprechend. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch darauf gehabt, anlässlich der Gewährung von Elterngeld für ein drittes Kind ungefragt Auskünfte über eine Veränderung der Rechtsprechung aus dem Jahr 2013 zu erhalten.
Mit Gerichtsbescheid vom 05.05.2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Folge man dem Urteil des BSG vom 27.06.2013 (B 10 EG 8/12 R, BSGE 114, 26 = SozR 4-7837 § 1 Nr 4), sei der bestandskräftige Bescheid vom 23.01.2009 rechtswidrig. Die Beklagte sei davon ausgegangen, dass bei einer Mehrlingsgeburt nur einmal Elterngeld, erhöht um den Mehrlingszuschlag, zu gewähren sei. Wenn man dem BSG folge, habe die Klägerin für das zweite Zwillingskind neben dem bereits bewilligten Elterngeld zumindest Anspruch auf Elterngeld in Höhe des Grundfreibetrages von 300 €, erhöht um den Mehrlingszuschlag, gehabt. Trotz der Rechtswidrigkeit des Bescheids habe die Klägerin keinen Anspruch auf nachträgliche Gewährung von weiterem Elterngeld, denn der Zeitraum, der für die Gewährung in Betracht gekommen sei (1. bis 14. Lebensmonat der Kinder), habe vor dem 01.01.2010 gelegen. Ausgehend von dem Antrag vom 04.03.2014 hätten Leistungen für das Jahr 2009 nicht mehr erbracht werden können. Bei § 44 Abs...